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Nibelungenbrunnen in Tulln (Foto: UbjsP/Fotolia.com)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Jan-Dirk Müller

„Das größte deutschsprachige Epos“

ESV-Redaktion Philologie
07.12.2015
Das „Nibelungenlied”: fremd und nah zugleich. In der Reihe der Klassiker-Lektüren ist in 4. Auflage Das Nibelungenlied erschienen. Der Herausgeber Prof. Dr. Jan-Dirk Müller erläutert im Gespräch, warum die Geschichte bis heute reizt.
Das Nibelungenlied ist eines der bekanntesten Werke des Mittelalters, und die Nibelungenlied-Forschung ist nach wie vor unermüdlich. Was macht aus Ihrer Sicht auch für heutige Leser die Faszination dieses Werkes aus?

Jan-Dirk Müller: Es ist das größte deutschsprachige Epos, das eine jahrhundertealte Sagenerinnerung – Geschichten aus der Völkerwanderungszeit – mit der ‚modernen‘ höfischen Kultur um 1200 konfrontiert und aus dieser Konfrontation eine Fabel entwickelt, die, vorangetrieben sowohl durch zeitlose Antriebe wie Liebe, Hass, Ehrsucht, Neid und dergleichen wie durch die Regeln und Normen einer des mittelalterlichen Personenverbandes, scheinbar zwangsläufig in den Untergang treibt. Der Reiz ist das Zugleich von Nähe und Distanz, denn jene Antriebe, die zur Identifikation mit den Akteuren einladen, sind immer auch auf spezifische Weise historisch modelliert und insofern von unserem Denken und Fühlen entfernt. Das Epos lädt ein, in eine fremde Parallelwelt einzutauchen, in der wir Bekanntem begegnen können.

In Ihrem Vorwort zum Buch schreiben Sie, dass uns die Nähe des Mittelalters erfahrbar wird, je mehr wir uns auf seine Fremdheit einlassen. Können Sie ein Beispiel nennen: Wo ist uns das Mittelalter in seiner Fremdheit besonders nah?

Jan-Dirk Müller: Ich möchte das Thema der Gewalt nennen. Die brutale, bis zur letzten Zerstörung unerbittliche Gewalt ist aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und den Handlungsnormen einer feudalen Kriegergesellschaft ableitbar, Verhältnissen, die die Moderne längst verabschiedet hat. In ihr ist Gewalt inkriminiert, doch bestimmt sie sie nach wie vor. Indem wir die Mechanismen und Zwangsläufigkeiten der mittelalterlichen Gewalt als etwas Fremdes analysieren, reflektieren wir zugleich Grundvoraussetzungen unserer eigenen Welt.

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Gibt es in der komplexen Figurenkonstellation des Nibelungenlieds eine Figur, zu der Sie in einer Weise einen besonderen Bezug haben und die Sie hervorheben würden?

Jan-Dirk Müller: Vielleicht überraschend: Hagen. Für ein naives Verständnis scheint es zwei unvereinbare Seiten Hagens zu geben: den finsteren Verräter des ersten Teils und den treuen Gefolgsmann des zweiten. Das sind Scheinwidersprüche, die sich aus der andersartigen mittelalterlichen Anthropologie erklären lassen. Man spricht von ‚Inklusionsindividualität‘, d. h. der Einzelne ist primär in kollektive Zusammenhänge eingebunden und versteht seine Individualität von ihnen her, nicht z. B. vom ‚Wesenskern‘ eines ‚Charakters‘ aus. Und in dieser Hinsicht bleibt der Hagen des ersten und zweiten Teils des Epos mit sich identisch.

An welche Zielgruppe haben Sie gedacht, als Sie das Buch geschrieben haben?

Jan-Dirk Müller: Als ich das Buch schrieb, primär natürlich an Studierende der Germanistik. Aber es war für mich eine große Freude, dass es immer wieder Menschen aus ganz anderen Berufen gab, die sich für den Gegenstand interessierten und auf deren Fragen ich, zumal bei den späteren Auflagen, Rücksicht zu nehmen hatte. (ESV/ln)

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Literaturhinweis
Der Band „Das Nibelungenlied“ ist im Erich Schmidt Verlag erschienen. Sie können es bequem über die Website bestellen.

Der Herausgeber
Jan-Dirk Müller, geb. 1941, nach Professuren in Münster und Hamburg von 1991 bis 2009 Lehrstuhlinhaber an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und korrespondierendes Mitglied der Göttinger Akademie. Arbeiten zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit und zur Literaturtheorie. Wichtigste Bücher: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. (1982); Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (1990); Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes (1998); Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik (2007); Mediävistische Kulturwissenschaft (2010).


Programmbereich: Germanistik und Komparatistik