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Nimmt die Nachkriegsliteratur in Frankreich in den Blick: Professorin Dr. Silke Segler-Meßner (Foto: Privat)
Nachgefragt bei: Prof. Silke Segler-Meßner

„Die Schwellenzeit der 1940er und 1950er Jahre bedingte neue Erzählmodelle“

ESV-Redaktion Philologie
27.04.2016
Die Nachkriegszeit gilt als spannende Zeit der französischen Literaturgeschichte – geprägt von narrativen Wandlungen und Verschiebungen. Professorin Silke Segler-Meßner gibt im ESV-Interview einen Ausblick auf das im Frühsommer erscheinende Buch „Depuis les marges”, das sie zusammen mit Daniel Bengsch herausgibt.
Frau Segler-Meßner, in welchem Rahmen entstanden die Texte zum Band „Depuis les marges“?

Silke Segler-Meßner: Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes entstanden im Rahmen der Sektionsarbeit auf dem Frankoromanistentag in Münster 2014. Daniel Bengsch und ich hatten aufgrund unserer Begeisterung für die französischsprachige Literatur in den 1940er und 1950er Jahren schon lange eine gemeinsame Tagung geplant, dabei standen Maurice Blanchot und seine Konzept des „neutre“ im Zentrum unseres Interesses. Der Frankoromanistentag bot hier eine willkommene Gelegenheit, das Vorhaben zu realisieren.

Was zeichnet die Nachkriegs-Literatur in Frankreich aus?

Silke Segler-Meßner: Der Zweite Weltkrieg und die Entdeckung des „univers concentrationnaire“ münden in eine gesellschaftliche und politische Neuorientierung und implizieren gleichzeitig eine Diskussion und einen Wandel der bisherigen Darstellungsformen, ob im Theater, in der Lyrik, im Kino, in der Literaturgeschichte, in der Literaturtheorie oder in narrativen Texten.

Auffallend ist dabei, dass die Suche nach alternativen Möglichkeiten der Vergegenwärtigung zeitgenössischer Wirklichkeit sich nicht nur auf die Frage politischen Engagements wie im Existentialismus oder auf die Entwicklung neuer Schreibweisen wie im Nouveau Roman beschränkt, sondern zum Signum der 1940er und 1950er Jahre wird. Die Übertragung traumatischer Zäsuren wie der Deportation, der Lagererfahrung oder der Kriegsgefangenschaft werden dabei ebenso literarisch zu vermitteln gesucht als auch unpersönliche Erzählformen entwickelt. Roland Barthes spricht in diesem Zusammenhang von dem so genannten Degré zéro de l’écriture von 1953 und dem Auftauchen einer „écriture blanche“. Experiment und Radikalisierung der „voix narrative“ kennzeichnen die französische Literatur der Nachkriegszeit in besonderem Maße.

Oft wird im Zusammenhang mit der französischen Nachkriegsliteratur von einer „Krise des Erzählens“ gesprochen: Wodurch wurde diese Krise überwunden?

Silke Segler-Meßner: Ob die Krise des Erzählens überwunden wurde, möchte ich bezweifeln. Ich würde eher davon sprechen, dass sich die Schwerpunkte der Auseinandersetzung verschoben haben. Geht es in der unmittelbaren Nachkriegszeit primär um ein Ausloten und Ausprobieren einer Erzählstimme, die sich ihrer Existenz und ihres Platzes in der Welt nicht mehr gewiss ist, so verschiebt sich mit der 68er Revolte der Fokus und gesellschaftliche Prozesse rücken wieder stärker in das Blickfeld.

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Der Bezug zur Vergangenheit wandelt sich und damit auch die Formen des Erzählens, die, denkt man an den so genannten Minimalismus, weitaus spielerischer und autoreflexiver werden, aber auch andere Themenbereiche wie z. B. die weibliche Selbstbefreiung entdecken.

Welche Titel aus dieser Zeit können Sie unseren Leserinnen und Lesern für den kommenden Sommer als Lektüre empfehlen?

Silke Segler-Meßner: Ich möchte allen Lesern und Leserinnen dringend die Lektüre von Jean Cayrols Oeuvre lazaréenne und hier insbesondere von Je vivrai l’amour des autres von 1947 und Georges Hyvernauds La peau et les os von 1949 nahe legen. Jean Cayrol war in der Résistance aktiv und ist nach Mauthausen deportiert worden. Er hat sich zeit seines Lebens geweigert, einen „récit de déportation“ zu schreiben und hat stattdessen die Rückkehr des Überlebenden in die französische Gesellschaft der Nachkriegszeit romanhaft modelliert.

Hyvernaud hat schon während seiner Kriegsgefangenschaft in Deutschland mit dem Schreiben begonnen und seine Eindrücke in La peau et les os verdichtet, einer Sammlung von Episoden, die sich mit dem Unverständnis der Nachkriegsgesellschaft und dem Leiden der Kriegsgefangenen auseinandersetzen. Wieder zu entdecken sind aber auch die Texte von Louis-René des Forêt, z. B. Les mendiants von 1943, Le bavard von 1946, Violette Leduc, L’affamée von 1948 und Ravages von 1955 sowie von Henri Thomas Le précepteur von 1942 und La Vie de Londres aus dem Jahr 1956.

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(ESV/vh)

 
Zur Herausgeberin
Silke Segler-Meßner ist Professorin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die romanische Erinnerungskultur nach der Shoah, die Darstellung traumatischer Gewalterfahrung, die Genderproblematik von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart und die postkolonialen Literaturen.fokasten Beschreibungstext

Zum Band
Der Band Depuis les marges – les années 1940–1960, une époque charnière wird im Juni 2016 in der „Studienreihe Romania“ im Erich Schmidt Verlag erscheinen. Sie können ihn gerne hier vorbestellen.


Programmbereich: Romanistik