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Arthur Schnitzler: Einer der kommerziell erfolgreichsten Autoren seiner Zeit (Foto: © Ferdinand Schmutzer, In: Zeitschrift „Moderne Welt“, 1922)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Michael Scheffel

„Ein Meister des Erzählens”

ESV-Redaktion Philologie
16.10.2015
Arthur Schnitzlers vielseitige Erzählungen und Romane zeigen die literarische Entwicklung dieses wohl bekanntesten Schriftstellers des Wiener Fin de Siècle auf. Prof. Dr. Michael Scheffel erläutert im Interview mit der ESV-Redaktion die Besonderheiten von Schnitzlers Werk - und dessen Bedeutung für die Gegenwart.

Sie beschäftigen sich in Ihrer neuen Einführung zu Arthur Schnitzlers Romanen und Erzählungen mit einem Schriftsteller, der in seinem literarischen Schaffen stark mit der Epoche der „Wiener Moderne“ verknüpft ist. Inwieweit hat sich der historische Kontext auf Schnitzlers Werke ausgewirkt?


Michael Scheffel: Die Zeit der Wiener Moderne ist deshalb so interessant, weil sich mit ihr ein Brennpunkt der Moderne verbindet, eine von zahlreichen Innovationsschüben bestimmte Übergangszeit in der, wie man heute wohl sagen würde, Multi-Kulti-Gesellschaft eines Vielvölkerstaates. Und Schnitzler selbst, das wird zuweilen vergessen, hat ja nicht nur im Fin de siècle gelebt, sondern er hat die zweite Hälfte seines Lebens im 20. Jahrhundert verbracht. Er ist also das typische Kind einer Schwellenzeit, die er literarisch äußerst produktiv und mit hoher Aufmerksamkeit für all ihre Probleme, Widersprüche und Spannungen begleitet hat.

Sieht man davon ab, dass sein Œuvre eine Vielzahl diskursiver Stränge aus der Sozial-, Anthropologie-, Gender-, Denk- und Wissensgeschichte in konzentrierter Form reflektiert, so lässt es sich – in dieser Hinsicht ähnlich wie Honoré de Balzacs ‚Comédie humaine‘ – auch als ein großes Zeittableau lesen, das letztlich die gesamte Zeit der ‚Klassischen Moderne‘ also von ca. 1890–1930, umfasst und das Werk für Werk unterschiedliche soziale Typen und Charaktere in den Mittelpunkt rückt.

Schnitzler zählt nach wie vor zu den ‚Klassikern‘ des literaturwissenschaftlichen Studiums und Unterrichts. Was ist das Besondere bzw. Charakteristische insbesondere an Schnitzlers Erzählwerk?

Michael Scheffel: Unterscheidet man in der Erzählprosa des 20. Jahrhunderts mit Viktor Žmegač zwei große Tendenzen, nämlich eine „metanarrativ-ironische“ und eine „psycho-logisch-mimetische“, so erscheint Schnitzler als ein Autor, der im Sinne der zweiten Tendenz teils überlieferte Erzählformen weiterentwickelt, teils neue Formen begründet und vorangetrieben hat.

Die Form des autonomen inneren Monologs hat er so z. B. in die deutschsprachige Literatur eingeführt, den Prozess einer „Figuralisierung“ oder auch „Verinnerung“ des Erzählens in der klassischen Moderne vorangetrieben und zahlreiche Varianten eines komplexen Spiels mit der Grenze von Figuren- und Erzählerstimme realisiert. Schnitzler ist ein Meister des Erzählens und nicht nur die jeweils unterschiedliche Art seines Erzählens, sondern auch der Aufbau des erzählten Geschehens in seinen Geschichten ist höchst ausgeklügelt und arbeitet auf raffinierte Weise mit Wiederholungen und Variationen von Handlungsfolgen, von Themen, Situationen und Figuren(gruppen).

Ein solch innovativer Charakter gilt im Übrigen auch für seine beiden seinerzeit viel beachteten, heute aber vielfach unterschätzten Romane, die ein ebenso facetten- wie figurenreiches Porträt der Jahrhundertwendegesellschaft geben und zugleich auf unterschiedliche Weise die Situation des modernen Subjekts im Zeitalter der, wie Georg Lukács es nannte, „transzendentalen Obdachlosigkeit“ gestalten.

Zur gleichen Zeit wie Schnitzler, der ja selbst Arzt war, praktizierte auch Sigmund Freud und veröffentlichte auch seine berühmte „Traumdeutung“. Man hat in Bezug auf Schnitzler oft von „psychologischer Literatur“ gesprochen. Bitte erläutern Sie diesen Zusammenhang.

Michael Scheffel: Schnitzler hat sich auch selbst als Vertreter einer Form von „psychologischer Literatur“ bezeichnet, die im Blick auf die komplexe Psyche des Menschen „eine Art fluktuierendes Zwischenland zwischen Bewußtem, Halbbewußtem und Unbewußtem“ sprachlich zu erkunden sucht. Dabei ist sein Werk nicht unmittelbar von Freud beeinflusst, wie man immer noch zuweilen lesen kann, sondern als eine Art höchst anregende, vielseitige und vollkommen undogmatische ‚Parallelaktion‘ zu der von Freud begründeten Psychoanalyse zu verstehen.

Mit den Schriften seines Wiener Zeitgenossen war Schnitzler im Übrigen gut vertraut, das fest gefügte Lehrgebäude der Psychoanalyse hat er jedoch sehr skeptisch beurteilt. Freuds hohe Bewertung der frühkindlichen Sexualität, die Verallgemeinerung des Ödipuskomplexes und den Entwurf einer Traumsymbolik mit allgemeingültigem Anspruch hat er so z. B. scharf kritisiert.

Auch Schnitzler ist vom geheimnisvollen Reich des Traums fasziniert. Die rätselhaften Bilder, die Verdichtungen und Verschiebungen sowohl in seinen eigenen, im Tagebuch sorgfältig protokollierten als auch seinen literarisch gestalteten Träumen lassen sich aus seiner Sicht aber eben nur von Fall zu Fall und nicht systematisch deuten.

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Unter anderem hat Stanley Kubrick Schnitzlers Erzählung „Traumnovelle“ in „Eyes wide shut“ verfilmt. Wie ist Schnitzlers Werk rezipiert worden?

Michael Scheffel: In wenigen Sätzen lässt sich das kaum beantworten. Einerseits gilt, dass Schnitzler schon zu Lebzeiten als eine Art jüdischer Decadent diffamiert und dass seine Rezeption nicht zuletzt durch ein allgemeines Verbot der Aufführung und des Nachdrucks seiner Werke während der Nazizeit mit nachhaltiger Wirkung behindert wurde.

Andererseits zählte Schnitzler noch bis zu seinem Tod Ende 1931 zu den auch kommerziell erfolgreichsten Autoren seiner Zeit – und seit den 1960er Jahren spricht man von einer ‚Schnitzler-Renaissance‘, die mir jedenfalls im Blick auf den Erzähler Schnitzler bis heute anzuhalten scheint. Kubricks in der ganzen Welt viel beachteter Film, der ja übrigens auch Nicole Kidmans internationalen Durchbruch befördert hat, ist dafür nur einer von vielen möglichen Belegen.

Was haben uns die Erzählungen und Romane Arthur Schnitzlers heute noch zu sagen, warum sollten wir sie lesen?

Michael Scheffel: Zunächst einmal scheinen mir Schnitzlers erzählende Texte nach wie vor sehr unterhaltsam und wiederholt auch schlicht spannend zu sein. Weiterhin erfährt man viel über eine Zeit, die bei allen offensichtlichen Unterschieden doch tatsächlich gar nicht so weit weg von uns ist und in der mit den vielen technischen Innovationen und vor allem auch den sozialen Entwicklungen einer Gesellschaft auf dem Weg vom 19. in das 20. Jahrhundert wesentliche Grundlagen unserer heutigen Lebenswelt geschaffen wurden.

Schließlich sind die Texte ‚lebendig‘, weil die großen Themen und Fragen, die Schnitzler in ihnen verhandelt, nach wie vor von unmittelbarem Interesse sind: Die Frage nach der Freiheit oder Determiniertheit des menschlichen Handelns, die Bedeutung des Verhältnisses von Form und Formlosigkeit, von Liebe und Sexualität, von Eifersucht, Treue und Untreue im Verhältnis von Mann und Frau, die soziokulturellen Codierungen von Geschlechterrollen, die Frage nach der Macht von psychischen Prozessen wie dem der Verdrängung, die Grundlagen von sozialer Identität sowie die Mechanismen sozialer Integration und Ausgrenzung – all das hat zumal in unserer in so vielen existentiellen Fragen letztlich doch zutiefst verunsicherten Gegenwart wohl kaum etwas von seiner Aktualität verloren. (ESV/ln)


Zur Person
Michael Scheffel, Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft und Gründungsmitglied des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) an der Bergischen Universität Wuppertal; seit 2012 zusammen mit Wolfgang Lukas Leiter der Wuppertaler Arbeitsstelle des im Akademienprogramm geförderten binationalen Forschungsprojekts „Arthur Schnitzler: Digitale historisch-kritische Edition (Werke 1905 bis 1931)“. Forschungsschwerpunkte von Prof. Dr. Michael Scheffel sind die Theorie und Geschichte des Erzählens, Fiktionalitätstheorie und die Literatur des Realismus und der Jahrhundertwende.


Das Buch

Der Band „Arthur Schnitzler: Erzählungen und Romane“ von Prof. Dr. Michael Scheffel erscheint im Oktober 2015 im Erich Schmidt Verlag in der Reihe „Klassiker-Lektüren“. 

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik