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Gibt Tipps für die Arbeit mit Großgruppen: Alicia Padrós (Foto: Privat)
Nachgefragt bei: Alicia Padrós

Padrós: „Die Qualität des Unterrichts und die Lehrmethoden sind entscheidend“

ESV-Redaktion Philologie
04.04.2017
In Europa kann man sich Klassen mit 100 Schülern kaum vorstellen, doch dieses Szenario ist in vielen Teilen der Welt Alltag. Wie unterrichtet man eine große Gruppe? Im Interview mit der ESV-Redaktion gab Alicia Padrós vom Goethe-Institut Auskunft über Herausforderungen und Chancen des Großgruppenunterrichts.
Frau Padrós, im Unterricht alle Schüler gleichermaßen zu interessieren, ist nicht einfach. In großen Gruppen wird es noch schwieriger. Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen Lehrkräfte großer Gruppen?

Alicia Padrós: Charakteristisch für den Großgruppenunterricht sind die Problembereiche Heterogenität, Anonymität, eine Tendenz zu passivem Lernverhalten und die Wahrscheinlichkeit von Störungen. Man kann sich das leicht vorstellen: 100 Schüler in einem Klassenzimmer bringen 100 unterschiedliche Lernvoraussetzungen und Interessen mit – diese unter einen Hut zu bringen ist echte pädagogische Kunst. Nicht nur für den individuellen Lernerfolg ist es wichtig, alle Lernenden persönlich zu integrieren und zu aktivieren, sondern auch um zu vermeiden, dass gelangweilte, unkonzentrierte Schüler den Unterricht stören.

Lehrkräfte von großen Gruppen sind außerdem verstärkt herausgefordert bei der Lernzielkontrolle, bei der Verfügbarkeit von Ressourcen sowie bei der Unterrichtsorganisation bzw. der Administration. Auch hier kann man sich leicht ausmalen, wie viel mehr Zeit eine Lehrkraft benötigt, um z. B. schriftliche Aufgaben oder Tests einer Großgruppe zu korrigieren. Aber auch das alltägliche Klassenmanagement wie etwa die Einteilung der Lernenden in Arbeitsgruppen, das Erteilen von Arbeitsanweisungen und Ähnlichem ist deutlich aufwendiger.

Trotzdem verstehe ich Großgruppendidaktik nicht als ein „Spezialgebiet“, vielmehr können Lehrkräfte aus dem didaktisch-methodischen Repertoire für handlungsorientierten, schüleraktivierenden Unterricht gezielt bestimmte Dinge herausgreifen und adaptieren, die für den Unterricht in großen Gruppen hilfreich sind. So muss die Lehrkraft wegen der Gruppengröße besonders viel an die Lernenden delegieren, wenn sie ihnen Gelegenheit zum Ausprobieren, Üben und Sprechen der Fremdsprache geben will.

Fremdsprache Deutsch
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Es empfiehlt sich also, Verfahren zur Förderung der Lernerautonomie anzuwenden. Von daher sind viele der Techniken und Arbeitsweisen, die im Themenheft „Großgruppendidaktik“ der Zeitschrift Fremdsprache Deutsch vorgestellt werden, auf andere Unterrichtssituationen übertragbar und können dazu beitragen, den Anteil der Schüleraktivität im Unterricht generell zu erhöhen und den Deutschunterricht – nicht nur in großen Klassen – attraktiver zu gestalten. Das Heft kann folglich Anregungen für viele Leserinnen und Leser bieten.

Hier in Deutschland kann man sich Gruppen mit 100 Schülern kaum vorstellen. Wie läuft dort der Unterricht ab?

Alicia Padrós: Lehrkräfte mit einem traditionellen Selbstverständnis versuchen zumeist im Frontalunterricht ihren Stoff zu vermitteln. Das ist aber oft für beide Seiten ermüdend, denn es ist schwer, auf diese Weise alle Lernenden akustisch und emotional zu erreichen. Im Themenheft Großgruppendidaktik zeigen wir Alternativen für einen interaktionsorientierten Unterricht auf. So hat Annegret Schmidjell in einem „Methodenkoffer“ zusammengestellt, welche Arbeitsformen - möglichst viel Partner- und Gruppenarbeit, damit alle mitmachen können! - und Lernaktivitäten - von Artikelgymnastik über Tropengewitter bis Wir-Blumen - sich für große Klassen eignen und wie man Lernergebnisse effizient evaluieren kann.

Je mehr Lernende in einer Klasse sitzen, desto bedeutsamer ist auch eine gute Planung. Wenn die Lehrkraft nicht in sinnvollen Schritten plant, was die Lernenden am Ende der Stunde können sollen, werden sie das Lernziel mangels Erkennbarkeit verfehlen. In einer Großgruppe gilt das sicherlich noch stärker als in kleineren Klassen, weil die Chancen, auch im nicht stringent vorbereiteten Unterricht zufällig etwas zu lernen, sinken. Deshalb wird in einem eigenen Beitrag von Renate Goh der (Planungs-)Weg zum (Unterrichts-)Ziel beschrieben.

Ab wann spricht man eigentlich von einer „Großgruppe“?

Was als große Gruppe wahrgenommen wird, hängt von verschiedenen Faktoren, Traditionen und Gewohnheiten ab, und so umfasst die Definition des Begriffs Großgruppe von 30 bis 90 und mehr Lernende. Neben der Lernerzahl spielen auch Lernziele, didaktisch-methodische Methoden, Ressourcen sowie Charakteristika von Lernern und Lehrern eine wichtige Rolle bei der Frage, ob eine Gruppe als (zu) groß erlebt wird. Beispielsweise kann eine Klasse von 30 Lernenden als Großgruppe wahrgenommen werden, wenn der Unterrichtsraum viel zu klein und nicht genügend Unterrichtsmaterial vorhanden ist.

Welche Prinzipien sollten Lehrkräfte beim Unterricht von großen Gruppen auf jeden Fall im Kopf haben?

Alicia Padrós: Fremdsprachenlernen in Großgruppen führt nicht unbedingt zu einem schlechteren Lernerfolg. Allerdings hängen gute Resultate in besonderem Maße von der Qualität des Unterrichts bzw. den Lehrmethoden ab. Faktoren wie Lerneraktivierung, Differenzierung und Personalisierung sowie kommunikative Interaktion mit viel Gruppen- bzw. Partnerarbeit sind für einen erfolgreichen Spracherwerb in großen Klassen entscheidend.

Besonders hervorheben möchte ich nochmals das didaktisch-methodische Prinzip der Interaktionsorientierung. Danach sollten Lernende im Unterricht durch Übungen und Aufgaben dazu angeregt werden, in einem sozialen Kontext miteinander zu kommunizieren und zu handeln. Unterricht, der auf Interaktion ausgerichtet ist, schafft möglichst viele Situationen im Unterricht, in denen die Fremdsprache von Lernenden wirklich zur Kommunikation oder zur Aushandlung von Bedeutung benutzt wird. Diese Realitätsnähe motiviert und unterstützt beim Erreichen der Lernziele und trägt im Idealfall zu einer fokussierten Lern- und Arbeitsatmosphäre im Klassenzimmer bei.

Da es beim Unterricht in Großgruppen für die Lehrenden schwer ist, alle Lernenden kontinuierlich und evaluierend zu begleiten, empfiehlt es sich, besonderes Augenmerk auf das Erlernen und Üben von Selbstevaluation zu legen. Diese bildet einen wichtigen Baustein für die Lernerautonomie, die sich in großen Gruppen ebenfalls sehr lernförderlich auswirkt.

Mit Angelika Loo konnten wir übrigens eine ausgewiesene Expertin in Sachen Großgruppendidaktik für Fremdsprache Deutsch gewinnen. In ihrem Beitrag „Unterricht mit großen Lerngruppen“ beschreibt sie grundlegend, welche Aspekte besondere Aufmerksamkeit brauchen und wie man damit umgehen kann.

Sind die Lehrkräfte von großen Gruppen für diese besonderen Herausforderungen geschult?

Alicia Padrós: In der Regel werden die Lehrkräfte bei ihrer Ausbildung nicht gezielt auf das Unterrichten von Großgruppen vorbereitet. Aus verschiedenen Gründen finden wir außerdem große Klassen besonders oft in Ländern, wo die Deutschlehrkräfte nur wenig bzw. nicht akademisch ausgebildet sind. Allerdings beschäftigt man sich seit einigen Jahren in Forschung und Praxis gezielt mit dem Lernen in großen Gruppen, und so gibt es mittlerweile einige Publikationen dazu, wie Hans-Jürgen Krumm in der Rubrik „Weiterführende Literatur“ illustriert.

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Besonders wertvoll finde ich in diesem Heft auch die Berichte von Lehrerinnen und Lehrern, die ihren beeindruckenden praktischen Erfahrungsschatz mit uns teilen und anschaulich schildern, wie sie motivierenden DaF-Unterricht für große und größte Klassen gestalten. In diesem Sinn enthält das Heft „Großgruppendidaktik“ zahlreiche Anregungen zum Ausprobieren und Nachmachen für den eigenen Unterricht, z. B. von Marie-Noelle Che Neba und Nadège Tchuinang aus Kamerun.

Darüber hinaus bietet beispielsweise das Goethe-Institut Fortbildungen zu diesem Thema an. So berichtet auch Katja Becker-Sliwa in Fremdsprache Deutsch von ihrer Arbeit mit chinesischen DaF-Lehrkräften, die allmählich ihren Frontalunterricht zugunsten von teilnehmeraktivierenden Verfahren veränderten. Dadurch reduzierte sich das passive Lernverhalten in ihren Klassen und die Zufriedenheit der Lehrkräfte und Lernenden wuchs beträchtlich.

Inwieweit können digitale Geräte die Lehrkräfte beim Unterricht in großen Klassen unterstützen?

Alicia Padrós: Gerade für jugendliche Schülerinnen und Schüler kann der Einsatz digitaler Medien und Geräte besonders motivierend sein, diese können Lehrkräfte also durchaus unterstützen. Aber es stellt sich natürlich die Frage, welche Medien vor Ort überhaupt verfügbar sind und wie man sie in Großgruppen sinnvoll einsetzen kann. Es liegt deshalb nahe, über die didaktischen Möglichkeiten nachzudenken, die die allgegenwärtigen Handys eröffnen. Genau das haben Manveen Anand und Anita Mitra getan; ihre Erfahrungen mit Mobiltelefonen im DaF-Unterricht in indischen Klassenzimmern haben sie in einem Artikel zusammengetragen und geben darin einen Überblick über unkomplizierte Tools und unaufwendige Einsatzmöglichkeiten für digitale Geräte in Großgruppen.

In einer großen Gruppe lernen viele verschiedene Schüler miteinander. Birgt diese Vielfalt auch Chancen?

Alicia Padrós: Ja, auf jeden Fall! Vereinfacht gesagt, bedeuten viele Lernende ein großes Potenzial an vielfältigen Vorlieben, Talenten und Kompetenzen. Also eigentlich das, was man heute diversity nennt. Wenn nun die Lehrkraft gutes diversity management betreibt, ermöglicht sie ihren Schülern z. B. im Rahmen von Projektarbeit diese Vielfalt einzusetzen und entsprechend bunte und anregende Projektergebnisse hervorzubringen. Denn die Mitarbeit bei einem Projekt verschafft gerade in der Großgruppe jedem Lernenden einen eigenständigen Platz, er tritt auf diese Weise aus der Masse und der damit verbundenen Anonymität heraus.

Die Teamarbeit entwickelt zugleich die soziale Kompetenz der Lernenden, stärkt ihre Problemlösungskompetenz und Kreativität und fördert ihr Selbstvertrauen beim und für den Gebrauch der Zielsprache. Auch wer sich zunächst nicht für Deutsch interessiert oder sich in der großen Gruppe versteckt, bekommt durch differenzierte Arbeitsverfahren im Rahmen der Handlungs- und Produktorientierung ein Angebot, seine spezifischen Stärken und Ideen einzubringen. So lernen Schülerinnen und Schüler auch ihre unterschiedlichen Facetten kennen. Mit zahlreichen Praxistipps und einem Erfahrungsbericht aus Indonesien ermutigt deshalb Marion Hetzel in ihrem Beitrag die Leserschaft, auch bei einer großen Anzahl von Lernenden projektorientierte Lernformen einzusetzen.

Zum Heft
Das Themenheft Großgruppendidaktik Fremdsprache Deutsch erscheint Ende April im Erich Schmidt Verlag. Sie können es bequem hier bestellen.

Zur Person
Alicia Padrós hat vielfältige Erfahrung im DaF-Unterricht, in der Lehreraus- und -fortbildung sowie als Verlagsredakteurin. Seit 2008 ist sie Mitarbeiterin des Goethe-Instituts.

(ESV/lp)

Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache