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Bil Spira 1997 während der Arbeiten zum Dokumentarfilm „Varian Fry à Marseille“ von Pierre Sauvage (Foto: Pierre Sauvage)
Künstler und „Fälscher“

Bil Spira: Zeichenkunst im Dienst des Widerstands

ESV-Redaktion Philologie
04.01.2016
1940 geht Bil Spira nach Marseille, wo er im Auftrag von Varian Fry, dem Verantwortlichen des amerikanischen Hilfskomitees, an der Herstellung gefälschter Papiere arbeitet. So kann er helfen, bis er selber angezeigt und verhaftet wird. Lesen Sie hier einen Auszug aus seinen Aufzeichnungen.

Er ließ mich bereits nach zwei Tagen wieder kommen. Ob ich für ihn zeichnen wolle. Ich war natürlich gerne bereit. Aber es handle sich um etwas besonderes: ein Landsmann von mir, ein gewisser Stefan Reiner, sei zu ihm gekommen und habe ihm von einem Mann erzählt, der dem Komitee sehr behilflich sein könne. Dieser Mann habe Pässe in Hülle und Fülle zur Verfügung, aber er brauche jemanden, der geschickt genug sei, Stempel und Unterschriften zu imitieren. „Ich habe so etwas noch nie gemacht!“ „Das ist kein Hindernis“, beruhigte mich Fry. „Monsieur Reiner wird Sie zu dem Mann bringen. Als gutem Zeichner wird Ihnen diese Tätigkeit nicht schwer fallen.“ Er gab mir Spezialtinten, mit denen ich die benötigten Stempel in ihren Originalfarben anfertigen sollte. Mit so einem Paß besaß dessen neuer Inhaber eine neue, beglaubigte Vergangenheit.

Identitätskarten als Lebensretter


Auch Identitätskarten lernte ich fabrizieren. Normalerweise kaufte man so eine Karte, vorgedruckt, aber unbeschrieben, in der Tabaktrafik. Damit ging man aufs Polizeikommissariat und ließ sie dort ausfüllen und stempeln. Um den Schützlingen des Komitees zu einer neuen plausiblen Identität zu verhelfen, versah ich ihre Karten mit ihren Photos und einem elsässischen Stempel. Sie bekamen einen im Elsaß üblichen Namen und den dazugehörigen Geburts- und Wohnort sowie eine Wohnadresse. Doch wenn ich dann die eigenhändige Unterschrift des Kommissärs draufsetzte, war das Kunstwerk noch nicht vollendet. Denn je nach Ausstellungsdatum sollte der Ausweis mehr oder weniger alt und abgegriffen aussehen. Ein paar Kaffeeflecken, etwas Staub, Wassertropfen, einige Klopfer mit der Schuhsohle halfen da wirkungsvoll nach. Und schließlich trampelte ich noch mit nackten Füßen darauf herum. Mit dieser Karte konnte sich ihr Inhaber auf die Straße wagen und ausweisen, wenn er von der Polizei angehalten wurde. Er mußte allerdings seinen neuen Namen auswendig wissen und auch Details seiner Heimatstadt kennen, selbst wenn er diese nie im Leben gesehen hatte.


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Franz Werfel und Das Lied von Bernadette


Ich fuhr zweimal in der Woche zu Frédéric Drach hinaus, übergab ihm meine Fälscherarbeiten (die ich im Hotel anfertigte), und er gab mir die Vorlagen für weitere Stempel und Unterschriften. Wie und wann er die fertigen Ausweise an das „ERC“ (Emergency Rescue Committee) weitergab, wußte ich nicht und wollte es auch nicht wissen. Es war mir auch recht, daß ich fast nie wußte, für wen die gefälschten Papiere bestimmt waren, denn je weniger ich wußte, um so weniger konnte man von mir erfahren, falls ich erwischt würde.

Einmal jedoch wollte der Zufall, daß ich zufällig und unfreiwillig Mitwisser wurde. Ich erkannte den Mann auf dem Paßphoto sofort. Jeder Wiener hätte ihn erkannt. Es handelte sich um den Schriftsteller Franz Werfel. Also war er auf Frys Liste! Am selben Nachmittag, als ich mit Mina die Canebière hinunterging, sah ich Werfel mit seiner Frau Alma (Mahler) auf einer Caféterrasse sitzen. Wir nahmen nicht weit von ihnen Platz, um sie beobachten zu können. Ich fand es interessant, ja aufregend, ganz in der Nähe des Mannes zu sitzen, zu dessen baldiger Rettung ich mit falschen Stempeln und unrichtigen Daten das meine beigetragen hatte. Ich hätte nie gedacht, mit Werfel verbunden zu sein. Und er mit mir? Noch viel weniger. Später erfuhr ich, daß Werfel bei einer Pilgerreise nach Lourdes folgendes Gelübde abgelegt hatte: Sollte die heilige Bernadette ihn vor den Nationalsozialisten retten, würde er ein Buch über sie schreiben. Durch Fry, die von mir gefälschten Papiere und mit viel Glück gelang es ihm und Alma, nach Amerika zu fliehen. Er erfüllte sein Gelübde und schrieb Das Lied von Bernadette.

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(ESV\vh)

Zum Band
Neben Auszügen aus den Lebenserinnerungen von Bil Spira können Sie in „Bil Spira. Vom Roten Wien zu den französischen Internierungslagern“ zahlreiche Zeichnungen des Künstlers entdecken, die zwischen 1939 und 1942 in französischen Internierungslagern entstanden. Claude Bessone stellt die Bilder in den geschichtlichen Zusammenhang und hat so ein außergewöhnliches Zeitzeugnis geschaffen. Der Band erscheint am 28. Januar 2016 im Erich Schmidt Verlag. Sie können ihn bequem über unsere Homepage bestellen.

Zur Autorin
Claude Bessone, ‘Maître de conférences’ mit Habilitation in ‘Civilisation germanique’, ist Spezialistin für visuelle Repräsentationen der deutschen Geschichte und für die Ikonographie der Konzentrationslager. Sie unterrichtet an der Université Paris Est-Créteil Val de Marne und hat u.a. Untersuchungen über das deutsche Kino, die Zeichnungen des Exils und der Internierung und die Denkmäler der Deportation veröffentlicht.



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