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Der Gegenteil-Tag als Anlass zum Perspektivwechsel (Foto: Volodymyr Shevchuk – stock.adobe.com)
Kurioser Gedenktag am 25. Januar

Kennen Sie den Gegenteil-Tag?

ESV-Redaktion Philologie
23.01.2020
Völlig entgegengesetzt zum weit verbreiteten Glauben, der 25. Januar sei ein ganz normaler Tag, handelt es sich dabei um einen kuriosen Gedenktag: den Gegenteil-Tag. Oder ist er, ganz im Gegenteil, vielleicht doch sehr alltäglich?
Der Ursprung des auf Englisch National Opposite Day genannten Tages wird in den Vereinigten Staaten verortet, doch diese Angabe umfasst auch schon alle einigermaßen gesicherten Erkenntnisse über die Entstehung des Gedenktages. Es wird vermutet, dass die Aussage „I do not choose to run for president“ (dt. „Ich entscheide mich nicht dafür, als Präsident zu kandidieren“) von Calvin Coolidge, kurz darauf 30. Präsident der Vereinigten Staaten, Anlass zur verstärkten Beachtung gegenteiliger Aussagen im Allgemeinen gegeben haben könnte. Andere Quellen sehen das Aufgreifen dieser Episode der amerikanischen Geschichte durch die Cartoon-Serie „Sponge Bob Schwammkopf“ als starken Einflussfaktor auf die Prägung des Gedenktages. Unklar bleibt in jedem Fall, warum die Wahl ausgerechnet auf den 25. Januar fiel.

Verkehrung ins Gegenteil jenseits des 25. Januar

Diese Frage stellt sich umso mehr, betrachtet man aktuelle und insbesondere alltägliche kulturelle Praktiken, von welchen eigentlich erwartet werden könnte, dass sie auf den Gegenteil-Tag beschränkt blieben: „Fake News“, das Verunglimpfen von (meist in den Medien getroffenen) faktischen Aussagen als Verzerrung der Realität oder glatte Lüge, stellen dabei eines der eindrücklichsten Beispiele dar, bei denen die Gegensätze ‚wahr‘ und ‚falsch‘ ineinander verkehrt werden. Auch das Zementieren von Gegensätzen, die nicht notwendig als solche erachtet werden müssten, erstreckt sich weit über den 25. Januar hinaus – nach dem Willen mancher beispielsweise bald entlang der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko.

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Auflösung von Gegenteilen

Jedoch ist auch auf Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verweisen, die dazu beigetragen haben, dass zahlreiche Gegensatzpaare überdacht werden (müssen). Darunter lässt sich der durch die Aufklärung geprägte Binarismus von Mensch (bzw. Kultur) und Natur zählen, angesichts dessen der Mensch eingestehen muss, dass er sich wohl doch nicht gänzlich jenseits (s)einer – inneren wie äußeren – Natur verorten kann; weiterhin die Gegenüberstellung von Mensch und Maschine, die durch zunehmende Möglichkeiten von Medizin und Prothetik infrage gestellt wird; und nicht zuletzt die binäre Unterscheidung von Mann und Frau, die als Norm gesetzt wurde und nun durch die Anerkennung eines dritten Geschlechts eine allmähliche Revision erfährt.

Vorspeise und Nachtisch, arm und reich, Geschichte und – keine Geschichte?

Vor diesem Hintergrund bietet der Gegenteil-Tag einen guten Anlass, (vermeintliche) Gegenteile durch ihre Umkehrung infrage zu stellen. Das kann bedeuten, einfach mal den Nachtisch zuerst zu essen, die Nacht zum Tag zu machen und ein bisschen Verrücktheit in die Alltagsabläufe zu bringen. Die Umkehrung von Gegenteilen könnte auch darin bestehen, sich in komplett andere Lebensumstände hineinzudenken – arm statt reich, mächtig statt ohnmächtig – oder vielleicht findet sich auch der ein oder andere Begriff, bei dem sich die Frage stellt: Was soll überhaupt das Gegenteil davon sein?
Ist beispielsweise das Gegenteil einer Geschichte keine Geschichte oder wäre auch eine ‚umgekehrte‘ Geschichte als Gegenstück denkbar, welche die Chronologie der Ereignisse umkehrt? Zu diesem Thema erfahren Sie mehr im aktuellen ZfdPh-Sonderheft „Rückwärtsvorgänge“.

Auszug aus: ZfdPh-Sonderheft „Rückwärtsvorgänge“ 20.01.2020
Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ als Beispiel einer rückwärts gewandten Erzählung
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft: Diese Abfolge wird zumeist als gegeben hingenommen, für private Pläne ebenso wie bei der Suche nach Relationen von Ursache und Wirkung. Aber wären zeitliche Vorgänge nicht auch anders herum denkbar? mehr …

Rückwärtsvorgänge

herausgegeben von Prof. Dr. Mona Körte

Rückwärtserzählungen sind durch die Umkehrung der zeitlichen Abfolge eines Geschehens definiert und bilden einen Sonderfall nicht kausal-kohärenten Erzählens. In ihnen gerät die erzählte Welt als eine Konstellation raumzeitlicher Elemente aus den Fugen, wodurch Zeit nicht mehr wie so oft den eher unscheinbaren Hintergrund einer Handlung bildet.

Solche Inversionen kommen in Literatur, Kunst und Wissenschaft immer wieder zum Einsatz und verursachen kraft ihrer Drehung einigen Wirbel. In Geschichtsphilosophie und historischen Wissenschaften ist retrogrades Erzählen eine kritische Alternative zu zielfixierten Verlaufsgeschichten. In Literatur, Film und Musikvideo wird es dort produktiv, wo der Chronologie oder mehr noch der Korrelation bestimmter Ereignisse misstraut wird und Raum für anders zu denkende Zusammenhänge entstehen soll.

Die Beiträge des komparatistisch und interdisziplinär ausgerichteten Sonderhefts loten die poetologischen und epistemologischen Bedingungen des Rückwärtserzählens aus und untersuchen das Besondere der Inversion an Einzelfällen aus Literatur, Kunst und Wissenschaft.

 

(ESV/MD)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik