Arbeit 4.0 – Beschäftigungsfähigkeit langfristig und nachhaltig sichern
Die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt in den nächsten Jahren dramatisch verändern. Es wird zu Arbeitsplatzverlusten kommen und gleichzeitig zu neuen Formen der Arbeit. Digitale Plattformen werden aus abhängig Beschäftigten Selbständige machen. Die Arbeitswelt der Zukunft wird flexibler werden. Von den Beschäftigten wird eine zeitliche und räumliche Flexibilität verlangt werden und gleichzeitig wird es oft nicht ausreichen nur ein Beschäftigungsverhältnis zu haben, sondern abhängig Beschäftigter zu sein und gleichzeitig auch selbständig aktiv zu sein. Die klassische Tätigkeit in Unternehmen wird erheblich zurückgehen. Der Branchenbezug wird sich erheblich verändern. Branchen werden absterben und andere werden neu hinzukommen. So wird, zum Beispiel im Bereich der Logistik, das Thema autonomes Fahren viele bisherige Regelungen über den Haufen werfen.
Der klassische Arbeits- und Gesundheitsschutz basiert auf der Zuordnung zu Betrieben und der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers in der Umsetzung der notwendigen Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen. Zukünftig werden Erwerbstätige viel mehr selbst für die notwendige Sicherung der Gesundheitsschutzmaßnahmen verantwortlich sein. In diesem Zusammenhang braucht es die entsprechende Kompetenz auf diesem Sektor, um dem Thema Selbstausbeutung vorzubeugen. Ein wichtiges Zukunftsziel ist es, den gesetzlich verankerten Schutz vor Entgrenzung und Überforderung auch in der Ich-AG sicherzustellen.
Gesellschaftspolitisch ist es ein wichtiges Ziel, die Beschäftigungsfähigkeit aller Erwerbstätigen langfristig und nachhaltig zu sichern. Durch regelmäßige und verpflichtende Arbeitsmedizinische Vorsorge während der Erwerbstätigkeit, wird die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit unterstützt. Diese arbeitsmedizinische Vorsorge ist zu verknüpfen und zu ergänzen mit einer regelmäßigen Beratung zur Qualifikation, die durch die zuständige Arbeitsagentur zu leisten ist.
Um dieses zentrale gesellschaftliche Ziel zu erreichen, braucht es in den neuen Strukturen von Arbeit 4.0 andere Sicherungssysteme.
Daraus leitet der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte folgende gesellschaftspolitischen Ziele und Forderungen ab:
Gesellschaftspolitische Forderungen
1. Versicherungspflicht für alle Tätigkeiten unabhängig von der BeschäftigungsformBei neuen Formen der Arbeit – Ich-AG – greift nicht mehr die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Die bisherigen Erfolge des Arbeitsschutzes basieren wesentlich auf der Umsetzung von Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen durch den Arbeitgeber. Die selbständigen Formen der Arbeit unterliegen nicht der Versicherungspflicht in der Unfallversicherung und auch anderen sozialen Sicherungssystemen. Wesentlich für die Umsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes waren die Regelungen der Unfallversicherungsträger, die gemeinsam mit den staatlichen Aufsichtsbehörden, sich um die Umsetzung der generellen Ziele kümmern. Dieser wichtige Teil der sozialen Grundsicherung fällt bei neuen Arbeitsformen weg. Daher müssen alle Erwerbstätigen, unabhängig von der Form der Tätigkeit, in die Versicherungspflicht einbezogen werden.
2. Menschengerechte Arbeitsgestaltung / Verhältnisprävention
Der Grundsatz der menschengerechten und damit gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeitsplätze muss für alle Arbeitsplätze und Tätigkeiten gültig sein. In der Entwicklung der Digitalisierung kommt neben den Maschinen, der Softwareergonomie eine zentrale Bedeutung zu. Zu dieser positiven Entwicklung bei Maschinen und Anlagen haben Normierungen und CE-Kennzeichnungen eine entscheidende Rolle gespielt. Bei der Entwicklung von Software ist die Beteiligung von Arbeitswissenschaftlern und Arbeitsmedizinern erforderlich. Dies stellt aus den bisherigen Erfahrungen des VDBW einen zentralen Mangel dar. Der Erfolg der Volkswirtschaft wird entscheidend davon abhängen, dass die Softwareergonomie so ausgestaltet wird, dass sie alle Erwerbstätige mitnimmt. In Analogie zu der Entwicklung bei Maschinen und Anlagen ist auch für die Softwareergonomie und die anwenderorientierte Gestaltung eine entsprechende Normierung mit Kennzeichnung erforderlich.
3. Bildung / Gesundheitskompetenz / Eigenverantwortung
Unser Bildungssystem muss gewährleis ten, dass die Grundlagen für die Gesundheitskompetenz des Einzelnen gelegt werden können. Die Eigenverantwortung muss verdeutlicht werden. Eine gut vermittelte Gesundheitskompetenz ermöglicht auch die Wahrnehmung von mehr Eigenverantwortung für die Gesundheit des Einzelnen. Durch ausführliche arbeitsmedizinische Beratung muss de n einzelnen Erwerbstätigen der Zusammenhang zwischen Arbeit, Arbeitsform und Gesundheit vermittelt werden.
4. Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit (Flexirentengesetz)
Für alle Erwerbstätigen sind regelmäßige, arbeitsmedizinische Beratungen zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit durchzuführen.
Da heutzutage viele Erwerbstätige später in den Beruf einsteigen, greift in zahlreichen Fällen der Eingangscheck durch das Jugendarbeitsschutzgesetz nicht mehr. Es ist daher notwendig, dass in jedem Fall bei dem Einstieg, aber auch beim Wiedereinstieg nach einer z.B. aus familiären Gründen bedingten Unterbrechung der Beschäftigung in die Erwerbstätigkeit, auch einer akademischen Tätigkeit, eine Beratung durch den Arbeitsmediziner stattfindet. Hiernach sind ab dem 35ten Lebensjahr in zehnjährigen Abständen regelmäßige, arbeitsmedizinische Beratungsgespräche durchzuführen. Falls Einschränkungen bestehen, sind diese zu dokumentieren, gleichzeitig Unterstützungsmöglichkeiten zu beschreiben und anzubieten.
Um eine hohe Beteiligungsquote bei diesen arbeitsmedizinischen Beratungen zu erreichen, sind Anreizsysteme in der Rentenversicherung erforderlich. Der wesentliche Goodwill kommt der Rentenversicherung zu Gute, da dadurch die Beschäftigungsfähigkeit langfristig gesichert wird und frühzeitig ein Arbeitsplatzwechsel oder Berufswechsel in die Wege geleitet werden kann.
In diesen arbeitsmedizinischen Beratungen sind die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitssituationen zu berücksichtigen und müssen in die Beratungsvorschläge mit eingehen.
Damit können wir einen Beitrag zu schwierigen sozialen Umfeldbedingungen wie Kindererziehung, Pflege älterer Angehöriger etc. leisten.
5. Gesetzgeberische Notwendigkeiten
Die bisherigen Regelungen des Arbeitsschutzes beruhen auf der klassischen Konstellation Arbeitgeber und Mitarbeiter und der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Das gesamte Arbeitsschutzrecht ist dahingehend zu ergänzen. Zum Beispiel das Arbeitsschutzgesetz spricht nur von Beschäftigten.
Zitat: Arbeitsschutzgesetz § 1
(1) Dieses Gesetz dient dazu, Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern. Es gilt in allen Tätigkeitsbereichen [...].
(2) Dieses Gesetz gilt nicht für den Arbeitsschutz von Hausangestellten in privaten Haushalten.
Arbeitssicherheitsgesetz § 1, Grundsatz
Der Arbeitgeber hat nach Maßgabe dieses Gesetzes Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu bestellen.
Aus diesen beiden Beispielen wird deutlich, dass die Arbeitsschutzgesetzgebung immer auf der Verpflichtung des Arbeitsgebers besteht, den es in den neuen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr in dieser Form gibt. Daher ist eine zentrale Forderung des VDBW, eine Überarbeitung des gesamten Arbeitsschutzrechtes in diesem Sinne. Dies gilt in Analogie für die Regelungen der Unfallversicherungsträger.
6. Verpflichtung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge für alle Erwerbstätigen
In dieser neuen Arbeitsschutzgesetzgebung ist zu verankern, dass es das Recht und die Verpflichtung zur arbeitsmedizinischen Beratung und Betreuung für alle Erwerbstätigen gibt. Daher bedarf die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge der Veränderung in dem Sinne der neuen Erwerbstätigkeiten. Die arbeitsmedizinische Vorsorge ist zu verknüpfen mit möglichen Qualifikationserfordernissen. Diese können sich aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge ergeben, genauso aber aus der stetigen Veränderung von Arbeitsformen und Arbeitsinhalten als auch strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft. Daher ist eine enge Verknüpfung zwischen der arbeitsmedizinischen Vorsorge und der Agentur für Arbeit erforderlich.
7. Die Plattformen für neue Arbeitsformen
Neue Arbeitsformen werden zunehmend geprägt von Plattformen, die Makler sind zwischen Arbeitssuchenden und Arbeit gebenden. Sie spielen eine zentrale Rolle in dieser Entwicklung und sind bisher wenig reguliert. Sie können aber ein wichtiges Regulativ darstellen, wenn es um die Einhaltung von Grundnormen geht.
Daher fordern wir, dass Plattformen, die neue Arbeit und Arbeitsformvermitteln, dies nur tun dürfen, nach entsprechender Überprüfung der notwendigen arbeitsmedizinischen Beratung der Arbeitssuchenden.
8. Neue Formen der Finanzierung der Sozialversicherung
Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird es notwendig machen, die Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme auf andere Grundlagen zu stellen. Das bisherige System über Lohnsummen Beiträge festzulegen, wird durch eine Mechanisierung ad absurdum geführt. Viele neue Formen der Arbeit gehen nicht in Lohnsummenberechnungen ein, sind zwingend aber zur Mitfinanzierung erforderlich. Alle Erwerbstätigen sind in diese Finanzierung einzubeziehen.
9. Neue Formen der Sozialpartnerschaft
Aus der arbeitsmedizinischen Erfahrung heraus ist festzuhalten, dass gelebte Sozialpartnerschaft in den Betrieben wesentlich mitgeholfen hat, den Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Betrieben zu verbessern. In neuen Formen der Arbeit bedarf es innovativer Ideen, um diesen Grundgedanken der Sozialpartnerschaft auch auf alternative Arbeitsformen zu übertragen. Der VDBW unterstützt nachdrücklich, die im Weißbuch Arbeit 4.0 enthaltene Forderung für eine stabile und zukunftsfähige Lösung für den Sozialstaat. Diese muss sich in die soziale Marktwirtschaft einpassen und gleichzeitig für alle Bürgerinnen und Bürger eine ausreichende, kollektive Absicherung ermöglichen.
Der Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Bundesrepublik hat in den letzten Jahren große Erfolge erzielt. Arbeitsmedizinische Vorsorge hat wesentlich mitgeholfen, dass Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen zurückgehen. Zukünftig muss sich die Arbeitsmedizin noch stärker auf die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit ausrichten wie es bereits in der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge beschrieben ist als auch zuletzt im Flexirentengesetz. Dazu hat die Arbeitsmedizin vielfältige Angebote, die nachfolgend kurz skizziert werden.
Angebote der Arbeitsmedizin
1. BeratungskompetenzDie Arbeitsmedizin hat langjährige Erfahrungen in der Beratung von Erwerbstätigen, zum Thema Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit. Dies schließt sowohl medizinische Maßnahmen ein als auch berufsqualifizierende oder berufsändernde Initiativen. Durch das gesetzlich verankerte System des betrieblichen Eingliederungsmanagements, geht dies auf einer soliden gesetzlichen Basis. Dies ist noch zu erweitern, dass alle Erwerbstätigen, nicht nur bei denen schon chronische Erkrankungen bestehen, regelmäßig, arbeitsmedizinisch zur Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit beraten werden. Die Kompetenz der Arbeitsmedizin ergibt sich aus den Regeln der Weiterbildungsordnung, die gespeist werden durch langjährige, klinische Tätigkeit in anderen Fächern und den ureigensten Weiterbildungen in der Arbeitsmedizin nach einem mindestens 6-jährigen Medizinstudium. Danach erfolgt eine umfassende Weiterbildung mit der Vermittlung arbeitsmedizinischer Kompetenz.
2. Gestaltung von Arbeitsplätzen / Verhältnisprävention
Die Mitwirkung bei der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen, Arbeitszeiten trägt wesentlich zur Verhältnisprävention bei und die Arbeitsmedizin verfügt hier über eine hohe Kompetenz. Grundsätzlicher Mangel in unserer bisherigen Erfahrung ist, dass die Arbeitsmedizin zu wenig bzw. zu spät, einbezogen wird. Wir brauchen weniger Reparatur, sondern mehr frühzeitige, ergonomische Gestaltung, frühzeitige Programme zur betrieblichen Gesundheitsförderung und zum betrieblichen Gesundheitsmanagement unter Einbeziehung der Arbeitsmedizin. Das Medizinstudium garantiert eine umfassende Kenntnis zur gesundheitlichen Verhaltensprävention für den Einzelnen und das Thema Verhältnisprävention wird intensiv in der arbeitsmedizinischen Weiterbildung vermittelt.
3. Präventionsgesetz
Der § 132 f des Präventionsgesetzes ermöglicht es, den Betriebs- und Werksärzten, Gesundheitsuntersuchungen mit Präventionsempfehlungen durchzuführen. Durch die flächendeckende Umsetzung dieses Grundsatzes können Erwerbstätige erreicht werden, die keinen Kontakt zum medizinischen System haben und damit kann frühzeitig auf sogenannte Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, Herz-Kreislauferkrankungen, etc. Einfluss genommen werden. Im Sinne der nachhaltigen Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit, muss dies in das Gesundheitssystem zwingend integriert werden. Bisher erfolgt die Umsetzung des Präventionsgesetzes auf freiwilliger Basis nur in Großbetrieben, die ihren Mitarbeitern Check-up Untersuchungen anbieten. Dies zeigt, dass die Regelungen des § 132 f des Präventionsgesetzes nicht ausreichen, weil sie den Krankenkassen keine Verpflichtung auferlegen. Wir fordern daher, dass gesetzgeberisch festgelegt wird, dass die Krankenkassen Vereinbarungen über solche Angebote an ihre Versicherten mit Betriebs- und Werksärzten schließen müssen, da dadurch auch die große Zahl von Klein- und Mittelbetrieben erreicht werden kann. Wir sind sicher, dass die Arbeitsmedizin damit einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheit aller Beschäftigten leisten kann.
Mit diesem Thesenpapier will der Verband Deutscher Betriebs und Werksärzte einen Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion über die Weiterentwicklung der Arbeit leisten. Die Chancen der Digitalisierung erkennen, aber auch die Risiken nicht verkennen. Diesem Ziel fühlen wir uns verpflichtet.
Wolfgang Panter und Heinz Bicker
Stand: 03.04.2017
Quelle: www.vdbw.de
Programmbereich: Arbeitsschutz