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Mangel an Betriebsmedizinern (Foto: Photographee.eu - Fotolia)
Demographischer Wandel

Engpässe in der betriebsärztlichen Versorgung

Anette Wahl-Wachendorf
07.04.2016
Globalisierung, Ökonomisierung, technische Entwicklungen und strukturelle Veränderungen hin zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft prägen die heutige Arbeitswelt durch hohe Komplexität und Dynamik. Das Thema demographischer Wandel macht sich in zahlreichen Berufsgruppen bemerkbar, so auch in der Berufsgruppe der Ärzte.
In einigen Regionen Deutschlands ist die ärztliche Versorgung der Bevölkerung insbesondere im hausärztlichen Bereich nicht mehr zufriedenstellend gewährleistet. Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung versuchen dem mit entsprechenden Förderprogrammen entgegenzuwirken. Mit dem am 11. Juni 2015 in Kraft getretenen Versorgungsstärkungsgesetz sollen weitere Schritte gegen den Ärztemangel unternommen werden.

Auch das Fachgebiet Arbeitsmedizin blieb von Nachwuchs sorgen nicht verschont. Diese kamen umso stärker zum Tragen, da Unternehmen verstärkt die Bedeutung von betriebsärztlichem Handeln für ihr Unternehmen erkennen und entsprechend einfordern. Neue Arbeitsformen sowie ein veränderter Stellenwert von Gesundheit in der Gesellschaft mit einem Schwerpunkt der Betrachtung psychischer Belastungen werfen weitere Fragestellungen im Unternehmen auf, denen sich sowohl das Unternehmen als auch Betriebsärzte stellen müssen. Der Berufsverband der Betriebs- und Werksärzte (VDBW e.V.) hat eine Palette von Schulungsangeboten entwickelt. Im Rahmen des Auschusses für Arbeitsmedizin (Afamed) wurde eine arbeitsmedizinische Empfehlung zum Thema „psychische Gesundheit“ entwickelt.

In einer Studie der Bundeanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (BauA 2013 Barth et al) [1] wurde der Versuch unternommen, den arbeitsmedizinischen Betreuungsbedarf in Deutschland konkret zu ermitteln. Der Bedarf an Ärzten mit arbeitsmedizinischer Fachkunde wird unter anderem durch die Anforderungen aus den geltenden Rechtsvorschriften zum Arbeitsschutz geprägt. Neben dem Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG) ist die DGUV Vorschrift 2 der Unfallversicherungsträger, das Arbeitsschutzgesetz sowie die in 2013 novellierte Arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung (ArbmedVV) prägend.

Trendwende bei Neuanerkennungen von Betriebsärzten

Im Vergleich zu der von den Autoren Barth et al. 2013 publizierten Stagnation von Neuanerkennungen von Betriebsärzten und Arbeitsmedizinern ist aktuell eine Trendwende zu beobachten. Die Akademien verzeichnen durchgängig hohe Zuwachszahlen quer durch die Bundesrepublik. Eine deutliche Feminisierung im Fachgebiet Arbeitsmedizin ist zu beobachten. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist aufgrund der Arbeitszeitmodelle in vielen Bereichen häufig gewährleistet. 

Die DGUV Vorschrift 2 soll in 2016 evaluiert werden. Von einer Anpassung der Vorschrift an praktische Gegebenheiten und Forderungen der Betriebe sowie einer grundlegenden Anpassung der Betreuungsmodelle, die insbesondere in der Klein- und Mittelbetriebsbetreuung nicht flächendeckend realisierbar sind, ist auszugehen. Die auch in der zitierten BAuA-Studie noch beschriebene Annahme, dass der Anteil der Beschäftigten, die 50 Jahre und älter sind, stark zunehmen wird, ist aufgrund der aktuellen Einwanderungsbewegungen in der Weise nicht mehr zutreffend. Es ist davon auszugehen, dass geänderte Anforderungen bei einer mittelfristig geänderten Beschäftigungsstruktur an die Arbeitsmedizin gestellt werden. Die alleinige Fokussierung auf ältere Beschäftigte mit einer entsprechend relevanten Inzidenz chronischer Erkrankungen im Betrieb bildet absehbar nicht mehr die Realität ab.

Das Präventionsgesetz

In diesem Zusammenhang ist das am 18. Juni 2015 verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz) von Bedeutung. Insbesondere die qualitätsgesicherte betriebliche Gesundheitsförderung soll durch das Präventionsgesetz gefördert werden. Rahmenbedingungen für die betriebliche Gesundheitsförderung sollen verbessert werden. Dabei soll gerade kleinen und mittleren Unternehmen die Organisation und Durchführung betrieblicher Prävention erleichtert werden.  

Das Präventionsgesetz stärkt die Einbindung der Akteure des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, d.h. der Betriebsärzte in das Leistungsgeschehen der Krankenkassen in der betrieblichen Gesundheitsförderung. Konkretisiert werden die erweiterten Kooperationsmöglichkeiten für Betriebsärztinnen und Betriebsärzte durch die gesetzlichen Regelungen in Bezug auf die Versorgung mit Schutzimpfungen (§ 132e) und auf weitere Felder der präventivmedizinischen Versorgung und betrieblichen Gesundheitsförderung (§ 132f). Mittelfristig sind Synergieeffekte für den Beschäftigten durch die engere Verzahnung der kurativen und präventiven Medizin sowie den erweiterten Zugang der Beschäftigten zu Gesundheitsfördermaßnahmen zu erwarten.  

Delegation ärztlicher Leistungen

Einig sind sich die Experten darin, dass im Zusammenhang mit der wertvollen Ressource Betriebsarzt das Thema Delegation weiter voran gebracht werden muss. Nach Empfehlungen der Bundesärztekammer über die Delegation ärztlicher Leistungen besteht Konsens, dass persönliche Leistungserbringung nicht bedeutet, dass der Arzt jede Leistung höchstpersönlich erbringen muss. „Die Entscheidung, ob und an wen der Arzt eine Leistung delegiert, ob er den betreffenden Mitarbeiter ggf. besonders an zuleiten und wie er ihn zu überwachen hat, muss der Arzt von der Qualifikation des jeweiligen Mitarbeiters abhängig machen.“ (Deutsches Ärzteblatt 2015) [2]. 

Der Verband deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW e.V.) hat sich eingehend mit dem Thema delegationsfähige Leistungen beschäftigt und dazu ein Thesenpapier entwickelt. Es geht vorrangig um die Delegation ärztlicher Leistungen an die arbeitsmedizinische Assistenz sowie die Delegation ärztlicher Leistungen an andere Professionen. Umfang und Organisation der Delegation sowie erforderliche fachliche Voraussetzungen für eine Delegation sind detailliert unter der Federführung des Arztes zu klären. Im Rahmen der arbeitsmedizinischen Betreuung kann unter betriebsärztlicher Führung, Leitung, Aufsicht und Gesamtverantwortung ein Team von auf die betriebsspezifischen Bedürfnisse ausgerichteter Fachspezialisten, wie Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen, Arbeitswissenschaftler, Ergotherapeuten, Pädagogen, Physiotherapeuten, Logopäden, Sportwissenschaftler auf dem Wege der Delegation tätig werden. 

Delegation ist dann möglich, wenn ausreichende Fachkenntnisse und Fortbildungen entsprechend den Curricula vorhanden sind. Die Verantwortung trägt der Arzt. Der VDBW hat bereits im Februar 2012 Position bezogen und in einer Sonderpublikation einen Katalog der delegationsfähigen Leistungen für die betriebsärztliche Betreuung – zum damaligen Zeitpunkt hauptsächlich auf die arbeitsmedizinischen Untersuchungen ausgerichtet – publiziert. Eine ärztliche Beauftragung einzelner Untersuchungskomponenten ist möglich, sofern die entsprechenden Voraussetzungen beim Assistenzpersonal vorliegen (Eckpunktepapier VDBW 2015) [3].  

Die Arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung (ArbmedVV)

Die bereits oben erwähnte in 2013 novellierte Arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung (ArbmedVV) stellt in ihrer aktuellen Fassung einen Paradigmenwechsel dar, der dem Thema Fokussierung der Ressource Betriebsarzt entgegen kommt. Die ArbmedVV hat bewusst die ärztliche individuelle Beratung und nicht die ärztliche Untersuchung in den Vordergrund gestellt. Untersuchungen finden nur noch mit ausdrücklichem Einverständnis des Beschäftigten statt. Sie erfolgen nach der ärztlichen Beratung, angepasst an die Tätigkeit sowie die individuelle Gesundheit des Beschäftigten. 

Telemedizin 

Wie in zahlreichen Fachgebieten sollten auch in der Arbeitsmedizin Möglichkeiten der Unterstützung durch telemedizinische Anwendungen geprüft werden. Forschungsvorhaben hierzu gibt es bereits. Gerade für die Versorgung „in der Fläche“ ergeben sich hier Chancen der Betreuung. Beispielsweise kann der Arzt aus einem Praxiszentrum per skype/Video in eine Beratung vor Ort zugeschaltet werden. Online Module, Hörtest-Apps und zahlreiche weitere Möglichkeiten ergänzen die betriebsärztliche Tätigkeit sinnvoll. Voraussetzung ist die Kenntnis des Unternehmens aus einer Vor ab-Begehung bzw. die persönliche ärztliche Untersuchung nach einem entsprechend zu fixierenden Algorithmus bzw. nach fest zulegenden Kriterien. Der weitere innerärztliche, berufspolitische und politische Diskurs ist hier noch über die Folgemonate hinaus zu leisten.  


Literatur
[1] Ch. Barth, W. Hamacher, C. Eickholt, BauA 2013.
[2] Deutsches Ärzteblatt, Jg.112, Heft 10, 6. März 2015.
[3] Eckpunktepapier delegationsfähiger Leistungen, VDBW 2015.

 
Die Autorin

Dr. Anette Wahl-Wachendorf ist Ärztin für Arbeitsmedizin und Leitende Ärztin ASD der BG BAU, Berlin. Seit 2009 ist sie Vizepräsidentin des VDBW, Krankenhausbetriebswirtin und Mitglied im Afamed des BMAS.


 

Programmbereich: Arbeitsschutz