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Sorgte für Kontroversen: Karl Kraus (Foto: Photographie Atelier Joel Heinzelmann. Berlin, 1921)
Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik, Bd. II

Karl Kraus – Schriftsteller der Kontroversen

ESV-Redaktion Philologie
10.08.2017
In seinem zweiten Karl-Kraus-Band hat Dietmar Goltschnigg erneut eine Fülle von Texten verschiedenster Autoren versammelt, die umfassend die Rezeption des österreichischen Schriftstellers dokumentieren. Unsere exklusive Leseprobe gibt bereits vorab einen Einblick.
Ulrich Holbein: Eine Hinrichtung. Ein unterwürfiger Blick auf den langen Arm des Karl Kraus (2004).

Anders als Andere, besser als die Besten, jenseits von 0-8-15-Genialität, klüger und fieser als Dichter, Denker, Richter und Henker – seltsam, dass er überhaupt als Mensch auftrat, noch dazu regional gebunden, und nicht gleich als was anderes, aber als was? Zornengel? Rachegott? Wie konnte ein solcher bloß so gewöhnungsbedürftige Profannamen tragen, Karl und Kraus? Hätte er adäquater geheißen, ein Gnosticus oder Archont aus Byzanz, dann wär der glanzvolle Kleobulos von Klazomenai spätestens von Karl Kraus abgefackelt worden.

Sieh auf ihn herab und du reichst ihm nicht mal ans Knie

Nein, das nachmetaphysische Zeitalter, worin Kraus antrat, ließ nur noch von P. Klee mitgekritzelte Ramponage-Engel zu. Wenn Andere und Spätere allen andern sich überlegen fühlten, ahnten Andere sofort, dass Anmaßung mitspielte. Finde Wege und Mittel, von oben auf übergroße Geister zu blicken! Bei Kraus aber geht das so einfach nicht, nämlich überhaupt nicht. Sieh auf ihn herab und du reichst ihm nicht mal ans Knie. Der Urinstrahl von x Wadenbeißern perlte ab, samt Gebiss, an der Unnahbarkeit solcher Waden.

Wer postum über ihn herzog, vermochte nicht mal den Lampenschirm der Lichtsäule, woran Canetti, Ranicki, Raddatz abprallten, halbwegs anzupeilen. Krausimitatoren, -kenner, -bewunderer, -trabanten, -adjutanten, -nachfolger, -unterbieter (von Gremliza bis Wollschläger) produzierten via gezielter Wahnverwandtschaft zentnerweise krausartige Formulationen und Denkfiguren, gratuliere, kamen also doch wohl nah heran an Kraus ... nein, auch sie nicht. Ganz und gar nicht. Wer als Erzengel residierte, saß doch nur im Zweitwagen. Wer Köpfe auf Nägel traf, hämmerte bloß in der Gegend herum. Den Schein zu erwecken, ein anderer zu sein als alle, das macht ihm keiner nach, oft er selber sich nicht.

Defekte hinderten ihn nicht, Karl Kraus zu sein

Aber Walter Benjamin reichte ihm an die Schulter. Zwei trauernde Engel oder Dämonen hätten sich berühren können. Doch Kraus fiel hierzu nichts ein. Kraus lauschte stattdessen hingegeben in Richtung Papierkorb, ob dort nicht lieber ein Hugo Heller oder Hans Müller rascheln wolle. Und so was wuselte da immer. Im Übermaß! Nur bei Insektenandrang wurde Kraus zu Kraus, sonst nie. Und höhere Gattungen wie Strindberg, Nestroy, Shakespeare nutzte er nur als Knüppel zur Knechtung von Geschmeiß. Kraus konnte weder Noten noch Englisch. Las er tatsächlich Jean Paul? Defekte hinderten ihn nicht, Karl Kraus zu sein. Je weiter er sich herab beugte zu den Zuckungen verderbten Geschlechts, desto weniger gefährdete er sein Expansionsformat. Kot begann zu phosphoreszieren. Witzfiguren wanderten ein ins knallrote Pantheon, ein jeglicher in seine Nische, chloroformumnebelt, aufgespießt.

Doch eine Instanz gab’s, die sägte ihm am Sockel. Sein blindester Fleck beleuchtete den Übermenschen um. Kraus war stolz auf seine Vortragskunst. Seine Achillesferse hob den ersten wirklichen Stein gegen ihn. Leg die Stimme von Karl Kraus auf – und versuche nicht zu leiden. Da brüllt ein Propagandaminister und entlarvt luzide, zeitlose, jenseitige Kraustexte als zeitgeistverhaftet, herauspolterbar, grobstofflich, autoritär. Der daran litt, mit dem Rest der Menschen somatisch verwandt zu sein, outete sich hier unaufgefordert als Mensch, treppab von Klippe zu Klippe geworfen – ein Naziopfer als Täter. Manches lag an der Aufnahmetechnik von 1930; am Deklamieren an sich; am gerollten rrr. Nach einer Lesung war Klee-Engel Karl Kraus hingeschlachtet worden von Kraus-Missbraucher Karl Kraus ... Le sacre du printemps ... ein sich selbst opfernder Frühlingsgott à la Adonai, Adonis, Orpheus, Melchesidek, Isidor von Pelusium.

Zu den Bänden
Das Buch Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Band 2: 1954–2016 erscheint im August im Erich Schmidt Verlag. Die Besonderheit des Werkes ist sein Aufbau: Es kombiniert einen einleitenden monographischen Darstellungsteil mit 132 ausgewählten Texten von 125 Schrifstellern sowie einem detaillierten Stellenkommentar, der über die historischen Kontexte der Texte informiert und Wort- und Sacherläuterungen beigibt. Hinzu kommt ein Anhang mit Zeittafel, Bibliographie und Werk-, Sach- und Personenregister. Bestellen können Sie das Buch bequem hier

Der erste Band, Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Band 1: 1892–1945, ist bereits im Oktober 2015 im Erich Schmidt Verlag erschienen. Sie können ihn hier bestellen.


Zum Autor
Professor Dr. Dietmar Goltschnigg ist Verfasser zahlreicher Arbeiten (Bücher und Aufsätze) zur Klassischen Moderne Österreichs; sein Augenmerk richtet sich vorzugsweise auf wirkungsgeschichtliche, intertextuelle Zusammenhänge am Beispiel Georg Büchners, Heinrich Heines und Karl Kraus. Außerdem pflegt er den interdisziplinären Dialog über zentrale existentielle Phänomene („Zeit“, „Angst“ u. a.).

(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik