
Wie können Menschen mit Autismus ihre spezifischen Stärken am Arbeitsplatz einbringen?
Beschäftigungslage von Menschen aus dem Autismus-Spektrum in Deutschland Schätzungen zufolge gehen lediglich zwischen 5 bis 12 Prozent aller erwerbsfähigen Menschen zwischen dem 15. und 64. Lebensjahr aus dem Autismus-Spektrum einer dauerhaften sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach. Überwiegend scheint es sich dabei um Menschen mit Asperger-Syndrom oder hochfunktionalem Autismus sowie atypischem Autismus zu handeln. Weiteren Berechnungen zufolge sind darüber hinaus mindestens 45 Prozent der Erwerbsfähigen mit Autismus in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt. Berücksichtigt man den unterschiedlich geschätzten Anteil der Menschen mit hochfunktionalem Autismus, wären demnach zwischen 43 bis 50 Prozent des Personenkreises ohne Arbeit und Beschäftigung. |
Viele berufstätige Menschen mit Autismus fühlen sich, obwohl sie gut qualifiziert sind, nicht gut in ihrem Job integriert: zum Beispiel, weil sie in ihrer Symptomatik nicht verstanden werden oder weil es an ausreichender Unterstützung am Arbeitsplatz fehlt. Dies ergab eine aktuelle REHADAT-Umfrage zur Arbeitssituation von Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Erfolgsfaktoren für die berufliche Teilhabe sind vor allem die Aufklärung von Führungskräften und Team über Autismus und ein verständnisvolles Arbeitsumfeld.
Während die Betreffenden fachlich manchmal nicht genügend gefordert werden, kommt es auf der anderen Seite zu Überforderungen, die sich aus sozialen Situationen ergeben. Belastungen dieser Art erzeugen auf Dauer großen Stress, können zu Depressionen, Isolation, Ängsten und als Folge zum Arbeitsplatzverlust führen.
Um die Stärken von Menschen mit ASS zu fördern und potenziellen Konflikten im Team entgegenzuwirken, ist es deshalb wichtig, direkt zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses geeignete Rahmenbedingungen im Betrieb zu schaffen. Viele Unternehmen sind jedoch noch nicht hinreichend über ASS informiert. Teilweise fehlt das Wissen komplett, ist unspezifisch oder einzelne Symptome werden verallgemeinert oder überschätzt.
Schablonen passen nicht
Obwohl Menschen aus dem Autismus-Spektrum auffällig häufig eher kognitiv als intuitiv wahrnehmen, sind sie nicht alle intellektuelle Überflieger oder ausschließlich für IT-Berufe prädestiniert.Die Vorstellung, dass jeder Mensch aus dem Autismus-Spektrum über eine herausragende Sonderbegabung verfügt, ist ebenfalls nicht haltbar. aut Aussagen von Menschen aus dem Autismus-Spektrum ist der Anteil derjenigen unter ihnen mit einer sogenannten „Inselbegabung“ weitaus niedriger, als allgemein geschätzt wird.
Trotzdem gibt es vermehrt auftretende Fähigkeiten und Besonderheiten, die für das Arbeitsleben relevant sind und für die entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden sollten. Dabei sind es weniger die fachlichen Anforderungen als vielmehr der soziale Umgang im Berufsalltag, der Menschen aus dem Autismus-Spektrum Schwierigkeiten bereitet und zu Missverständnissen im Team und bei den Vorgesetzten führen kann. Diese Probleme sind im Regelfall zu überwinden, wenn alle Beteiligten eindeutig und ehrlich kommunizieren.
Wahrnehmung
Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind meist sehr auf Details fokussiert. Üblicherweise betrachten Menschen Objekte und Gegenstände als Ganzes in ihrem jeweiligen Kontext und registrieren danach die Einzelheiten. Informationen werden „top-down“ – vom Übergeordneten ausgehend nach unten – verarbeitet. Menschen aus dem Autismus-Spektrum haben häufig eine umgekehrte, „Bottom-up“-Perspektive: Sie erfassen zuerst isolierte Details und versuchen, daraus auf den übergeordneten Sinn einer Sache oder Situation zu schließen. Die fragmentierte Art der Wahrnehmung, als sei die „Welt ein Wimmelbild“, kann allerdings zu einer Reizüberforderung führen und die Unterscheidung von relevanten und irrelevanten Informationen beeinträchtigen. Im Zusammenhang mit der speziellen Art der Wahrnehmung steht die Fähigkeit, Muster in Strukturen und Daten rasch und genau zu erkennen. Das ermöglicht zum Beispiel, Fehler in großen Datenmengen schnell und zuverlässig zu finden oder zu analysieren. Verbunden damit sind ein hohes Bewusstsein für Qualität, eine hohe Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer bei sich wiederholenden Tätigkeiten.Umweltreize
Menschen aus dem Autismus-Spektrum können Sinneseindrücke (Geräusche, Gerüche, Bilder etc.) weniger gut filtern und verarbeiten. Als Folge kommt es zu einer Überflutung mit sensorischen Reizen (wie Stimmengewirr, grelles Licht, starke Gerüche, Staub, Verkehrslärm, wechselnde visuelle Eindrücke), was zu Erschöpfungszuständen und Überforderung führen kann. Gleichzeitig ist es möglich, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum extrem nempfindlich gegenüber Reizen sind. So kann es sein, dass zum Beispiel leise Geräusche norm stören, aber körperliche Schmerzen kaum etwas ausmachen.Spezialinteressen
Spezialinteressen sind nicht zu verwechseln mit einer sogenannten „Inselbegabung“. Während nur ein kleiner Teil von Menschen aus dem Autismus-Spektrum eine Sonderbegabung besitzt, sind Spezialinteressen weitaus verbreiteter. Man versteht darunter das extrem intensive Interesse an einem bestimmten Thema beziehungsweise mehreren Themen und die beharrliche Beschäftigung damit. Dabei sind die Interessengebiete breit gefächert. In der REHADAT-Umfrage „Mit Autismus im Job“ (2018) wurden beispielsweise Musik, Religion, Fotografie, Statistik, Philosophie, Medizin, Gärtnern, Psychologie, Astronomie, Orthografie, Römisches Reich, Fremdsprachen, Umweltschutz, Aktiencharts, historischer Bahnverkehr und Fantasy genannt.Die intensive Beschäftigung konzentriert sich oft auf Details und Teilaspekte der Themen und die Faszination kann über Wochen und Jahre andauern. Betroffene aus dem Autismus-Spektrum berichten, dass sie die ständig wiederholte ausgiebige Vertiefung in ihr jeweiliges spezielles Gebiet als entspannend und erholsam empfinden und dieses Alltagsritual ihnen Sicherheit und Kraft gibt. Sich mit vielen wechselnden Themen zugleich und lediglich oberflächlich zu befassen, wie es ein Großteil ihrer „neurotypischen“ Umwelt tut, finden Menschen aus dem Autismus-Spektrum nach eigenen Aussagen sehr langweilig, anstrengend und logisch wenig nachvollziehbar.
Je nach Beruf kann es hilfreich sein, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum für ein bestimmtes Gebiet ein „wandelndes Lexikon“ sind. Die allzu große Leidenschaft für eine Sache stellt allerdings auch ein Hindernis dar, wenn sie zur Vernachlässigung von Alltagspflichten und sozialen Kontakten führt oder das Expertenwissen anderen Personen aufgenötigt wird.
Kommunikation und Sozialverhalten
Menschen aus dem Autismus-Spektrum können im sozialen Miteinander häufig nicht intuitiv reagieren und handeln, was im Arbeitsalltag mitunter zu Irritationen führt. Nicht selten wirken sie sonderbar, unfreundlich oder arrogant, ohne sich dessen bewusst zu sein. Aufgrund einer veränderten Wahrnehmung und Verarbeitung von sozial-emotionalen Signalen bereitet ihnen nonverbale Kommunikation große Schwierigkeiten, da sie Gestik und Mimik nicht entschlüsseln und deshalb die Befindlichkeit ihres Gegenübers nicht interpretieren können.Wenn Menschen mit ASS auf dem Flur nicht grüßen, ist dies kein Beweis von Unhöflichkeit, sondern kann daran liegen, dass sie sich Gesichter nicht gut merken können, sich dafür aber eher das Aussehen unbelebter Dinge wie Schuhe einprägen. In der verbalen Kommunikation fällt es Menschen aus dem Autismus-Spektrum schwer, „zwischen den Zeilen zu lesen“ und Andeutungen zu verstehen. Ironie, Witze oder Redewendungen wie „Das muss bis gestern fertig sein“ erschließen sich ihnen nicht mangels Logik, werden wörtlich und je nachdem auch nicht ernst genommen. So kann der Sinn hinter einer gängigen Frage wie „Kommst du einen Kaffee trinken?“, die als betrieblicher Sozialkontakt, Flirt oder Geschäftsanbahnung auslegbar ist, nicht sofort gefühlsmäßig eingeordnet werden, sondern muss – Zitat eines autistischen Mitarbeiters bei auticon GmbH – mittels „kognitiver Emulation (Nachbildung) durch Erfahrungswerte“ gelernt werden.
Aufgrund der genannten Merkmale ist es für Menschen aus dem Autismus-Spektrum schwierig, sich in andere hineinzuversetzen. Ihre für sie logisch begründbare Ehrlichkeit und Direktheit kann die Umgebung vor den Kopf stoßen und in Small-Talk-Situationen unangenehm sein. Vielen fällt es zudem schwer, Blickkontakt zu halten, eine angemessene körperliche Distanz zu wahren oder zu erkennen, wann ein Monologisieren über ein Spezialgebiet die Gesprächspartner langweilt. Insbesondere dann, wenn die Diagnose bei der Belegschaft oder den Vorgesetzten nicht bekannt ist, können diese Verhaltensweisen im Team oder bei Arbeitsanweisungen befremden und zu Konflikten im Arbeitsalltag führen.
Arbeitsweise
Menschen aus dem Autismus-Spektrum arbeiten gerne vorhersehbar und regelbasiert, sind häufig akribisch und detailorientiert, können logisch denken und sich lange konzentrieren. Diese besonderen Fähigkeiten sind in manchen Fällen allerdings auch Ursache für berufsbezogene Probleme. So kann die außergewöhnliche Wahrnehmungsweise in Bezug auf Details dazu führen, dass sich Menschen aus dem Autismus-Spektrum in Einzelaspekten einer Arbeitsaufgabe verlieren oder ihnen das Festlegen von Prioritäten und das Planen von Handlungen schwerfällt.Von daher sind Rahmenbedingungen erforderlich, die planbare Abläufe, Strukturierung und Beständigkeit rund um die Arbeitsaufgaben und die Arbeitsorganisation erlauben.
„Meine Stärken sind, dass ich Sachen, die ich anfange, auch durchziehe. Ich bin hartnäckig und höre nicht mittendrin auf, etwas zu erledigen. Wenn ich aus dem Flow gerissen werde, habe ich allerdings das Problem, wieder in die Aufgabe rein zu kommen. Eine weitere Stärke, würde ich behaupten, ist, dass ich ehrlich bin. Das kann aber auch ein Problem sein“.
Auszug Interview mit Kaufmann für Bürokommunikation, 27 Jahre, Asperger-Syndrom
Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind stark motiviert, sich Wissen anzueignen, und verfügen häufig über unkonventionelle Problemlösungsstrategien. Weitere Stärken am Arbeitsplatz sind Zuverlässigkeit, Loyalität und Pflichtbewusstsein. Regeln verstehen sie als absolut, deshalb fällt es ihnen schwer, ein „Auge zuzudrücken“ („fünfe gerade sein lassen“). Ihre ausgeprägte Gewissenhaftigkeit und ihre Neigung zum Perfektionismus können im beruflichen Umfeld jedoch für Verwirrung sorgen, sofern die Diagnose nicht bekannt ist. Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind nicht zwangsläufig Einzelkämpfer. In einem Team mit festen Strukturen können sie sich durchaus wohlfühlen, ein Wir-Gefühl entwickeln und ihre Potenziale entfalten.
Die Ergebnisse der Befragung sind in die neueste REHADAT-Wissensreihe eingeflossen. Die Broschüre beschreibt betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten, um Arbeitsbedingungen an die Bedürfnisse von Beschäftigten mit Autismus anzupassen: z. B. durch Aufklärungsmaßnahmen innerhalb der Belegschaft, Schaffung eines reizarmen Arbeitsumfeldes, Strukturierung von Arbeitsaufgaben, sowie durch personelle Unterstützung. Interviews mit einem Arbeitgeber, Experten aus der Praxis und Aussagen von befragten berufstätigen Menschen mit Autismus greifen diese Aspekte auf.
Darüber hinaus erhalten Interessierte grundlegende Informationen über Rechte und Pflichten des Arbeitgebers, die möglichen Auswirkungen von Autismus auf Wahrnehmung, Arbeitsweise, Kommunikations- und Sozialverhalten, zum Grad der Behinderung, zu Arbeitsschutz, Fahrerlaubnis und vieles mehr.
Die Broschüre schließt mit Hinweisen, wo auf der REHADAT-Plattform weitere Informationen zu finden sind, z.B. Praxisbeispiele, Ansprechstellen und Literaturhinweise.
Die REHADAT-Wissensreihe wendet sich an Arbeitgeber, betroffene Beschäftigte sowie alle Fachleute, die an der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung oder Erkrankung beteiligt sind.
Hier finden Sie die neueste Ausgabe der REHADAT-Wissensreihe (sowie die Ergebnisse der Umfrage): https://www.rehadat.de/presse-service/publikationen/
Programmbereich: Arbeitsschutz