
Advent, Advent, ein Lichtlein brennt
Melvin B. Tolson (1898–1966) war ein modernistischer Lyriker, der vor allem für seine „Harlem Gallery“ (1965), einen Gedichtzyklus in 24 Cantos, bekannt wurde. Tolson hatte 1923 einen Bachelor an der historisch Schwarzen Lincoln University und 1940 einen Magister an der Columbia University erhalten. Ab 1947, dem Jahr, in dem er zum Poet Laureate des Landes Liberia ernannt wurde, lehrte er an der historisch Schwarzen Langston University. Sein „Libretto for the Republic of Liberia“ (1953) ist eine Gedichtsammlung, die in nach italienischen Noten der Tonleiter benannte Abschnitte aufgeteilt ist. Im Abschnitt „Do“ redet Tolson Liberia und das ganze Schwarze Afrika direkt an und schreibt:
To the Dark Continent:
You are
The lightning rod of Europe, Canaan’s key,
The rope across the abyss,
Mehr Licht for the Africa-To-Be!
In seiner Interpretation des Gedichtes lobte Timothy Dejong die „Verschmelzung modernistischer Form und afroamerikanischer poetischer Sprache“ und fand, dass mit „den letzten Worten eines großen Denkers der westlichen Literaturtradition […] Tolson die historischen Entwicklungen Afrikas und des Westens vereint.“
Frances Ellen Watkins Harper (1825–1911) war Schriftstellerin und engagierte Aktivistin im Kampf gegen die Sklaverei und für das Frauenwahlrecht. Sie ist am bekanntesten für zehn Gedichtbände, von denen einige viele Male nachgedruckt wurden. Ein Gedicht trägt den Titel „Let the Light Enter“ und Untertitel „The Dying Words of Goethe“. Das sechsstrophige Gedicht wurde 1860 in der Zeitung „Weekly Anglo-African“ veröffentlicht, dann häufig wieder in ihren Gedichtbänden und im „Christian Recorder“ abgedruckt. Stephan Hermlin übersetzte 1948 das Gedicht ins Deutsche.
Let the Light Enter
The Dying Words of Goethe
„Light! more light! the shadows deepen,
And my life is ebbing low,
Throw the windows widely open:
Light! more light! before I go.“
[…]
Gracious Saviour, when life’s day-dreams
Melt and vanish from the sight,
May our dim and longing vision
Then be blessed with light, more light.
„Mehr Licht!“
(Goethes letzte Worte)
„Licht! mehr Licht! Die Schatten sinken,
Wie ich’s Leben sinken seh.
Öffnet weit mir alle Fenster:
Licht! mehr Licht! bevor ich geh.
[…]
Heiland, wenn des Lebens Träume
Aufgelöst, verweht wie Gischt.
Segne unsern sehnsüchtigen
Letzten Blick mit Licht, mehr Licht.
Das Wort „Light“ kommt ein Dutzend Mal vor und bestimmt die Reimpaare der letzten vier Strophen: dreimal „sight/light“ und einmal „bright/light“. Das Gedicht könnte somit als ausgedehntes akustisches Ausloten der Übersetzung von Goethes „Mehr Licht“ gelten. Wie Kai Sina gezeigt hat, alterniert das Gedicht zwischen persönlicher Wahrnehmung und Fremdkommentar. Harper sieht, dass Goethe nicht um „größere Gaben von Genie“ bittet, sondern um einen „Strom irdischen Lichts“. Eingeleitet von der Metapher der zu Staub zerfallenden Lorbeeren endet „Let the Light Enter“ mit einer Geste in Richtung Vanitas mit der Anrufung des „Gracious Saviour, when life’s day-dreams / Melt and vanish from the sight“. In ihrer Interpretation lenkte Hannah Wakefield Aufmerksamkeit auf die kleinen Unterschiede in der ersten Fassung des Gedichts im „Weekly Anglo-African“: „Blessed Jesus, when our day dreams / Melt and vanish from the sight.“ Vielleicht, so Wakefield, suggeriert der ursprüngliche Anfang der letzten Strophe in einer Zeitung, die den Fugitive Slave Act von 1850 attackierte, westindische Emanzipation feierte und berühmte Schwarze Autoren publizierte, eine imaginäre Gemeinschaft afroamerikanischer Leser, während die „Gracious Saviour“-Version des „Christian Recorder“ dessen Publikum ansprach.
Auch Goethes Gedicht „Über allen Gipfeln“ aus „Wandrers Nachtlied“ lässt sich weihnachtlich interpretieren. So lässt die beschriebene Ruhe im Wald doch auf die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr hoffen, die wir zum Ausruhen, Energie tanken und für stille Momente nutzen können. Versuchen Sie es doch auch einmal mit ein bisschen Waldbaden zwischen den Jahren.
Rita Dove wurde 1952 geboren, und zwar am 28. August, Goethes Geburtstag. Aufgrund dieses Zufalls fühlte sie sich ganz besonders zu Goethe hingezogen, dessen Werk sie an der Miami University in Ohio kennenlernte, wo sie bei der afroamerikanischen Germanistin Marian Musgrave studierte. Doves eigene Lyrik wurde mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, und sie wurde 1993 Poet Laureate der Vereinigten Staaten. Sie schrieb auch Dramen, arbeitet derzeit an ihren Memoiren und ist mit dem deutschen Dichter und Dramatiker Fred Viebahn verheiratet. In „Poet’s Choice“ (2008) schrieb Dove: „Ich entdeckte, dass ich meinen Geburtstag mit Johann Wolfgang von Goethe teile.“ Er war, was sie werden wollte, „ein Dichter“. Sie stellte zunächst englische Übersetzungen der Gedichte „Parabase“ und „Trilogie der Leidenschaft“ vor. Dann fuhr sie fort und kommentierte „Wandrers Nachtlied“, ihr „Lieblingsgedicht von Goethe“:
Ich habe es aufgegeben, Freunden erklären zu wollen, wie perfekt das Original ist – die Art und Weise, wie die Reime leise an ihren rechtmäßigen Platz gleiten, die bescheidene Klarheit seiner Ausdrucksweise, so anschaulich und doch so einfach. Es ist ebenso unübersetzbar, wie sich Volksballaden und großartige Blues-Songs einer Umschreibung widersetzen, denn die Musik der Sprache ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was gesagt wird. Zunächst zitierte sie noch Henry Wadsworth Longfellows und Michael Hamburgers Übersetzungen von „Wandrers Nachtlied“, aber 2017 veröffentlichte sie ihre eigene Übersetzung, „Above the Mountaintops“ – und las das Gedicht auch für den „New Yorker“ vor:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Above the mountaintops
all is still,
among the treetops
you can feel
barely a breath
birds in the forest, stripped of song.
Just wait, before long
You, too, shall rest
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Die Herausgeber |
Kai Sina, Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik (mit dem Schwerpunkt Transatlantische Literaturgeschichte) an der Universität Münster, Herausgeber des Bandes „Goethes Spätwerk / On Late Goethe“ (mit David E. Wellbery) und der Studie „Kollektivpoetik“ mit Studien zu Goethe, Emerson, Whitman und Thomas Mann. Marcel Lepper, Professor an der Universität Leipzig und Direktor der Fondation Rilke, VS, Schweiz, Autor u.a. der Studie „Goethes Euphrat“ (2016) und Herausgeber der „Xenien“ Goethes und Schillers (2022, mit Frieder von Ammon). David E. Wellbery, LeRoy T. and Margaret Deffenbaugh Carlson University Professor in the Department of Germanic Studies an der University of Chicago, zahlreiche einschlägige Veröffentlichungen, darunter das Standardwerk „The Specular Moment. Goethe’s Early Lyric and the Beginnings of Romanticism“ (1996) und zuletzt „Goethes ‚Pandora‘. Dramatisierung einer Urgeschichte der Moderne“ (2017). |
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik