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Wann handelt es sich um einen Wegeunfall? (Foto: Ian Valerio/Fotolia)
Unfallversicherung und Recht

Aktuelle Rechtsprechung zum Wegeunfall

Sebastian Felz
19.04.2022
Auch im Jahr 2021 hatte die Rechtsprechung wieder in verschiedenen Konstellationen mit Rechtsproblemen im Zusammenhang mit Wegeunfällen zu tun, die in diesem Beitrag dargestellt werden.
Gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII ist auch das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort einer versicherten Tätigkeit in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen. Die Regelung stellt den Versicherungsschutz für Wegeunfälle dem Versicherungsschutz für Arbeitsunfälle (§ 8 Abs. 1 SGB VII) gleich. Laut der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) kam es im ersten Halbjahr 2021 zu einem Anstieg der Wegeunfälle um 18 Prozent auf 86.792 Unfälle. Die Zahl der tödlichen Wegeunfälle sank von 106 auf 97 Fälle und die Zahl der Unfallrenten reduzierte sich von 2.173 auf 2.050. Die Zahl der Schulwegeunfälle sank ebenfalls um 9.752 von 26.881 auf 17.129, also um 36,3 Prozent.

I. Kein Wegeunfall auf dem Weg zum Kindergarten in Bayern
Mit der Novellierung des § 8 Abs. 1 Nr. 2 a SGB VII ist mittlerweile auch das Zurücklegen des direkten Weges zwischen dem „Home-Office“ und dem Ort der Kinderbetreuung unfallversichert. Dies gilt auch für Bundesbeamte (§ 31 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 BeamtVG). Seit der „Föderalismusreform“ vonSeptember 2006 sind den Ländern die Zuständigkeit und Gesetzgebungskompetenz für das Beamtenversorgungsrecht der Landes- und Kommunalbeamten übertragen worden. Der „Kindergartenwegeunfall“ ist in Bayern bisher noch nicht geregelt. Es liegt aber ein Änderungsantrag zum Gesetzentwurf vom 15.9.2021 vor, wonach im Falle der Telearbeit auch das Zurücklegen von Wegen, um ein Kind fremder Obhut anzuvertrauen oder aus fremder Obhut abzuholen, unter Dienstunfallschutz stehen soll. Da in diesem Gesetzentwurf keine Rückwirkung vorgesehen ist, kommt die Regelung für den Kläger im Fall des VGH München zu spät. Der Akademische Rat an der Universität Würzburg steht im Dienst des Freistaates Bayern. Am Unfalltag hatte der Kläger entsprechend dieser Vereinbarung seinen Dienst im Rahmen der Telearbeit von zu Hause aus zu erbringen. Um 8:00 Uhr begab er sich mit seinen beiden Kindern zu Fuß von seiner Wohnung zum Kindergarten, um im Anschluss daran zu seinem Telearbeitsplatz zu Hause zurückzukehren und seinen Dienst zu beginnen. Auf dem Weg zum Kindergarten musste sich der Kläger auf die mit Schneematsch bedeckte Fahrbahn begeben, da dort kein Gehweg vorhanden ist. Aufgrund der Wetterlage sowie der Neigung der Fahrbahn kam der Kläger ins Rutschen, stürzte und versuchte sich mit seiner rechten Hand abzustützen, wodurch er sich eine Verletzung zuzog.

Der Kläger, so der Senat, habe keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte das Unfallereignis als Dienstunfall anerkenne. Der in Telearbeit tätige Beamte lege keinen mit dem Dienst zusammenhängenden Weg zwischen Familienwohnung und Dienststelle zurück (Art. 46 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BayBeamtVG). Der Antritt eines unter Dienstunfallschutz stehenden Weges mit Verlassen der „Familienwohnung“ (Art. 46 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BayBeamtVG) müsse aber vorliegen, damit ausnahmsweise auch ein vom Dienstunfallschutz umfasstes „Abweichen“ (Art. 46 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BayBeamtVG) bejaht werden könne. Es sei geklärt, dass ein mit dem Dienst zusammenhängender Weg erst außerhalb des häuslichen Bereichs an der Außentüre des Wohngebäudes des Beamten beginnen könne. Zur Abgrenzung des von der Unfallfürsorge erfassten öffentlichen von dem nicht erfassten privaten Bereich habe sich in der Rechtsprechung mit der Außentür des Wohngebäudes eine räumliche Grenzziehung herausgebildet, die an objektive Merkmale knüpfe und im Allgemeinen leicht feststellbar sei. Im Falle des Klägers werde diese Grenzziehung durch § 10 der Dienstvereinbarung über „Alternierende Wohnraum- und Telearbeit“ modifiziert. Danach bestehe Dienstunfallschutz auch innerhalb des Raums, in dem sich der häusliche Arbeitsplatz befindet. Der Kläger habe mit dem Weg zur Kindertagesstätte eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit innerhalb seines persönlichen Lebens- und Risikobereiches verrichtet. Denn die Wahrnehmung der dienstlichen Tätigkeit setze in seinem Fall nicht zwingend die Inobhutgabe der Kinder voraus. Der Charakter der Eigenwirtschaftlichkeit der Verbringung des Kindes in Fremdbetreuung sei in dieser  Konstellation stärker als beim Arbeiten in der Dienststelle. Auch der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete nicht, unterschiedliche Gruppen (hier: Beamte, die im Homeoffice, und Beamte, die in der Dienst - stelle Dienst leisten) gleich zu behandeln. Ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 GG sei nicht gegeben, weil eben kein Weg zum Ort der versicherten beruflichen Tätigkeit beim Arbeitgeber und damit ein sachlicher Differenzierungsgrund vorliege.

II. Kein Betriebswegeunfall bei einem Zusammenstoß von Ehrenämtlern nach einer Vereinssitzung
Die Parteien des Rechtsstreits vor dem OLG Celle stritten um Ansprüche aus einem zwischen ihnen geschlossenen Teilungsabkommen. Die Klägerin ist eine Berufsgenossenschaft, die Beklagte ein Haftpflichtversicherer. Ein Teilungsabkommen sieht vor, dass die Beklagte sich hälftig an den Aufwendungen der Klägerin beteilige, es sei denn, es handle sich um Ansprüche aus Schadensfällen, in denen der Schädiger nach §§ 104 f. SGB VII haftungsprivilegiert sei. Im konkreten Streitfall nahmen die Versicherte der Klägerin und die Versicherte der Beklagten an einer  Vorstandssitzung des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) teil (§ 2 I Nr. 9 SGB VII). Die Sitzung fand in einer Scheune auf dem Hof einer Gaststätte statt. Nach dem Ende der Veranstaltung wollten beide mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Beim Aufsteigen auf ihr Rad bekam die Versicherungsnehmerin der Beklagten plötzlich Krämpfe in beiden Oberschenkeln, verlor die Kontrolle über ihr Rad und stieß gegen das Fahrrad der Versicherten der Klägerin. Die Geschädigte stürzte und verletzte sich erheblich. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt 70 Prozent. Die bisherigen übergangsfähigen Aufwendungen der Klägerin belaufen sich auf etwas mehr als 160.000 Euro.

Der Klägerin stehe, so der Senat, ein vertraglicher Anspruch auf Ersatz von 50 Prozent der aufgewandten Kosten sowie auf entsprechende Feststellung aufgrund des Teilungsabkommens zu. Zur Abgrenzung der Unfälle, die unter das Haftungsprivileg der §§ 104 f. SGB VII fallen, von sonstigen Wegeunfällen im Sinne des § 8 II Nr. 1 bis 4 SGV VII, sei zu prüfen, ob nach der ratio legis der §§ 104 f. SGB VII eine Haftungsbeschränkung geboten sei, weil sich aufgrund der bestehenden betrieblichen Gefahrengemeinschaft ein betriebsbezogenes Haftungsrisiko verwirklicht habe. Stehe jedoch das betriebliche Verhältnis zu dem Unfall in keinem oder nur einem losen Zusammenhang, scheide eine Haftungsprivilegierung aus. Von einem Unfall auf einem Betriebsweg sei somit nur dann auszugehen, wenn die gemeinsame Fahrt der Arbeitskollegen selbst als Teil des innerbetrieblichen Organisations- und Funktionsbereichs erscheine. Im Gegensatz dazu stehe der unter § 8 II  Nr. 1 SGB VII fallende „Wegeunfall“, der sich beim Zurücklegen des mit der Versichertentätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit ereigne. Die Abgrenzung erfolge aus der Sicht des Geschädigten. Hier habe der „Betrieb“, d. h. der SoVD, keinerlei Einfluss auf die Fahrt vom Veranstaltungsort genommen und diese insbesondere nicht für die Vorstandsmitglieder organisiert. Weder seien  Fahrzeuge gestellt noch ein bestimmtes Verkehrsmittel für die Anreise verbindlich vorgegeben worden. Die beiden Beteiligten hätten grundsätzlich ebenso mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Auto oder zu Fuß den Hin- oder Rückweg bestreiten können. Das betriebliche Verhältnis der beiden Beteiligten zueinander habe auch deshalb zu dem Unfall nur in einem losen Zusammenhang gestanden, da sie ihren Einsatz- bzw. Veranstaltungsort, die Scheune des Gasthofs, bereits verlassen hatten und sich in einem allgemein zugänglichen Bereich befanden, in dem sich ein solcher Vorfall auch ohne jede betriebliche Verbindung hätte ereignen können.

III. Kein Wegeunfall bei unklarer Ursache eines Schwindelanfalls
Der Kläger vor dem LSG Berlin-Brandenburg war Taxifahrer. Der Kläger wurde bewusstlos im Taxi vorgefunden und mit der Diagnose „Krampfanfall“ und „struktureller Epilepsie“ behandelt. Der Kläger brachte vor, dass der Unfall infolge einer körperlichen Überbelastung,  resultierend aus der langen Schichtzeit, passiert sei. In der Unfallnacht sei er stark überarbeitet gewesen, was anhand der Schichtzeiten ersichtlich sei. Insbesondere die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten seien nicht eingehalten worden. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens führte die Beklagte ergänzende Ermittlungen. Videoaufnahmen der Tankstelle zeigten, wie der Kläger sich beim Nachtrocknen der Taxe am Scheibenwischer festhielt und rückwärts umfiel. Die Beklagte brachte vor, dass es sich bei dem Schadensereignis um eine körpereigene, innere Erkrankung handle. Anhaltspunkte für eine äußere Ursache, beispielsweise auch Stolpern oder Ausrutschen, seien nicht ersichtlich. Auch für die von dem Kläger vermutete körperliche Überbelastung infolge einer außergewöhnlichen beruflichen Anstrengung ergäben sich unter  Berücksichtigung der dokumentierten Fahrtzeiten keine Hinweise.

Der Kläger habe, so der Senat, keinen Sturz „infolge“ seiner versicherten Tätigkeit erlitten, sondern nur zeitlich während der Ausübung dieser Tätigkeit. Es sei nicht erkennbar, inwieweit durch die schlichte Bewegung des Trockenwischens der Windschutzscheibe mit der rechten Hand bei leicht vorgeneigtem Oberkörper überhaupt eine Ursache für den Sturz des Klägers gesetzt worden sein könnte. Für ein Stolpern, Vertreten oder Ausrutschen des Klägers gäbe es keine Anhaltspunkte. Das auf dem Tankstellenvideo ersichtliche plötzliche Innehalten beim
Trockenwischen der Windschutzscheibe, das Aufrichten mit kurzzeitigem Festhalten am unteren Ende des Scheibenwischers und nachfolgendem Zusammensacken bzw. seitlich zur linken Seite hin Umfallen des Klägers deute, worauf die Beklagte zutreffend hinweise, vielmehr auf einen Bewusstseinsverlust aus innerer Ursache, wie z.B. bei einem Kreislaufkollaps, als Auslöser und damit auf eine – nicht versicherte – objektive Ursache des Sturzes hin. Bei Unfällen aus sog. innerer Ursache sei der Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Verrichtung und dem Unfall nicht gegeben, wenn die körpereigene Ursache zwangsweise zu dem eingetretenen Unfallverlauf geführt habe. In diesem Fall hätten betriebliche Einwirkungen den Unfall nicht wesentlich mitverursacht. Im Sinne einer konkurrierenden Kausalität sei der ursächliche  Zusammenhang dagegen anzunehmen, wenn betriebsbedingte Umstände bzw. Einflüsse die innere Ursache wesentlich beeinflusst hätten. Zur Überzeugung des Senats sei weder eine besondere Hitzebelastung oder Arbeitsüberlastung am Unfalltag gegeben. Ebenso wenig ließen sich besondere gefahrbringende Umstände des Unfallortes feststellen.

IV. Wegeunfall bei Fahrt zum „erweiterten häuslichen Bereich“ ist unfallversichert
Die geborene Klägerin arbeitete im Bereich Verkauf und als stellvertretende Leitung in der Tankstelle ihrer Mutter. Im November 2015 verunfallte sie nach dem Ende ihrer Arbeitszeit mit ihrem Pkw, da sie auf nasser Fahrbahn mit diesem nach rechts von der Fahrbahn abkam und an den Straßengraben stieß. Der Pkw überschlug sich mehrfach und die Klägerin wurde dabei aus dem Fahrzeug geschleudert und verletzt. Als Folge  dieser Verletzungen ist sie inkomplett ab dem 11. Brustwirbelkörper querschnittsgelähmt. 

Die Klägerin teilte der Beklagten mit, am Unfalltag auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bemerkt zu haben, dass ihr Verlobter, der in der vorherigen Nacht bei ihr geschlafen hatte, ihren Schlüssel eingesteckt und ihr nicht ausgehändigt habe. Um in ihre Wohnung zu gelangen, habe sie einen geringfügigen Umweg von zwei bis drei Kilometern fahren müssen, um den Schlüssel bei ihrem Verlobten abzuholen. Sie verunfallte kurz vor dem Wohnort ihres Verlobten, mit dem sie seit Juli 2016 verheiratet ist. Die Entfernung von ihrem Arbeitsplatz zu ihrer Wohnung betrug 602 Meter, der Unfallort war 6,6 Kilometer vom Arbeitsplatz entfernt.

Die Klägerin habe sich, so der Senat, zum Unfallzeitpunkt nicht auf dem direkten Weg von ihrer Arbeitsstätte in der Tankstelle ihrer Mutter zu ihrer Wohnung befunden, sondern auf dem Weg zum Wohnhaus der Eltern ihres Verlobten. Sie wollte von dort aus, nachdem sie einen Schlüssel für diese Wohnung – den ihres Verlobten – an sich genommen hatte, zu ihrer Wohnung fahren. Der Senat sei davon überzeugt, dass die Klägerin bereits zu Beginn ihres nach der Arbeit angetretenen Weges das Ziel hatte, das Haus ihrer seinerzeit künftigen Schwiegereltern zu erreichen, um dort einen Schlüssel für ihre Wohnung an sich zu nehmen und erst dann zu ihrer Wohnung zu fahren. Unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehe nicht nur ein Weg zur und von der Arbeitsstätte, der von oder zu einem Wohnraum als privatem Rückzugsraum führt, den der nach § 2 SGB VII Versicherte finanziert und für den eine Meldeadresse behördlich registriert sei, sondern auch der Weg zu dem privaten Rückzugsraum, an dem der Versicherte sich durch soziale Bindungen zu anderen Personen regelmäßig aufhalte. Diese Fallkonstellation wird unter dem Stichwort „erweiterter häuslicher Bereich“ gefasst. Sie habe sich seit April 2015 regelmäßig bei ihrem jetzigen Ehemann aufgehalten, der seinerzeit und am Unfalltag im Haus seiner Eltern in einem Zimmer gelebt habe. Die Klägerin habe sich zum Unfallzeitpunkt auf dem direkten Weg zu diesem (erweiterten) häuslichen Bereich befunden. Dass sie diesen (erweiterten) häuslichen Bereich am Ende dieser Fahrt nur kurz aufsuchen wollte, um einen Schlüssel für die von ihr angemietete Wohnung abzuholen und dann zu ihrer Wohnung fahren wollte, sei unschädlich.

V. Unfallversicherungsschutz bei Überprüfung eines geparkten Pkw
Die Klägerin verließ ihr Wohnhaus und begab sich mit dem Pkw zu ihrer Arbeitsstätte. Sie stellte ihren Pkw auf dem Firmenparkplatz des Arbeitgebers ab. Die Klägerin stieg aus ihrem Pkw aus, um auf direktem Weg zu ihrer Arbeitsstätte zu gehen. Nachdem sie sich wenige Schritte vom Fahrzeug entfernt hatte, bemerkte sie, dass sie vergessen hatte zu überprüfen, ob die Fahrzeugtür tatsächlich verschlossen war. Die Klägerin wollte deshalb zum Pkw zurückgehen und den Türgriff ziehen. Beim Umdrehen stolperte sie aus nicht aufklärbaren Gründen, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden des Firmenparkplatzes und verletzte sich. Die Klägerin habe, so der Senat, einen Wegeunfall erlitten. Die Klägerin habe sich zunächst mit der Handlungstendenz fortbewegt, ihre Arbeitsstätte zu erreichen und dort ihre  Beschäftigung aufzunehmen. Entgegen der Rechtsauffassung des SG habe das Umdrehen der Klägerin in Richtung ihres Pkw nicht zu einem Entfallen des Versicherungsschutzes geführt. Insoweit handle es sich um eine nur geringfügige und deshalb den Schutz der GUV unberührt lassende Unterbrechung des unmittelbaren Weges zur Arbeitsstätte. Werde der Weg zum oder vom Ort der Tätigkeit aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen, entfalle der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit und damit der Versicherungsschutz. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Versicherte lediglich seine Fortbewegung beendet habe, um sich an Ort und Stelle einer anderen, nicht nur geringfügigen Tätigkeit zuzuwenden oder ob er – wie hier – den eingeschlagenen Weg verlasse, um einer privaten Verrichtung nachzugehen und erst danach auf den ursprünglichen Weg zurückzukehren. Ausnahmsweise bestehe auch bei einer privat veranlassten Unterbrechung der Schutz der Wegeunfallversicherung gemäß § 8 II Nr. 1 SGB VII fort, wenn die Unterbrechung nur geringfügig sei. Eine Unterbrechung sei nur dann  geringfügig, wenn sie auf einer Verrichtung beruhe, die bei natürlicher Betrachtungsweise zeitlich und räumlich noch als Teil des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit anzusehen sei. Auf ein Verlassen des öffentlichen Verkehrsraumes komme es ebenfalls nicht an. Nach Maßgabe dieser Grundsätze liege hier eine den Versicherungsschutz unberührt lassende, lediglich geringfügige Unterbrechung des Weges vor, weil das geplante Handeln in seiner Gesamtheit betrachtet „ganz nebenher“ erledigt werden konnte. Zwar setze der subjektive Wunsch der Klägerin zu prüfen, ob sie ihren Pkw abgeschlossen hatte, eine neue objektiv beobachtbare Handlungssequenz in Gang (Umdrehen), die sich auch äußerlich von dem versicherten Vorgang des „Zur-Arbeit-Gehens“ abgrenzen lasse. Für das beabsichtigte Umdrehen, den nur wenige Schritte dauernde Gang zurück zum Auto (etwa zwei Meter), das kurze Innehalten und den anschließenden Weg zurück sei indes fast kein Zeitaufwand (wenige Sekunden) nötig gewesen. Bei der gebotenen Gesamtschau ist mithin von einer lediglich geringfügigen, den Versicherungsschutz nicht unterbrechenden Handlung auszugehen.

VI. Kein Unfallversicherungsschutz bei Regulierung eines Wegeunfalls
Die Klägerin erlitt 1984 auf ihrem Heimweg von ihrer Arbeit einen Verkehrsunfall. Aufgrund dieses als Wegeunfall anerkannten Ereignisses erhielt die Klägerin eine Rente. In der Unfallanzeige der Arbeitgeberin wird ausgeführt, dass die Versicherte am Unfalltag in einer Warteschlange vor der Ampel in ihrem PKW gewartet habe, als ein hinter ihr wartender PKW von einem weiteren PKW auf ihr Auto geschoben worden sei. Nachdem die Unfallstelle abgesichert worden sei, und die Polizei die Schadensaufnahme gemacht habe, habe die Klägerin darauf gewartet, dass sie die Personalien des schuldigen Fahrers aufgeschrieben bekomme. Plötzlich sei wieder ein Fahrzeug auf die Unfallstelle zugerast und die Klägerin sei zwischen zwei Fahrzeugen eingequetscht worden. Die Klägerin gab an, dass der erste Unfall gegen 20:15 Uhr geschehen sei und der zweite gegen 21:05 Uhr.

Nach dem damals geltenden Recht des § 550 I RVO habe, so der Senat, als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gegolten, wenn dieser mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhing. Die Klägerin habe sich auf dem mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Rückweg befunden, als sich der erste Verkehrsunfall ereignete. Der zweite Verkehrsunfall sei jedoch kein Arbeitsunfall gewesen, weil die Verrichtung der Klägerin zur Zeit des Unfallereignisses – der Aufenthalt zwischen den beiden Fahrzeugen – nicht mehr im sachlichen Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung gestanden habe. Die Klägerin habe zwar nicht den öffentlichen Verkehrsraum verlassen, aber durch das Verlassen ihres Fahrzeugs dokumentiert, dass sie sich auf dem versicherten Weg nicht weiter  fortbewegen wolle. Eine Unterbrechung des versicherten Weges trete auch schon vor dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsraumes ein, sobald deutlich werde, dass das Verhalten des Versicherten nicht mehr durch den Willen zur Fortsetzung des Weges von oder zu dem Ort der Tätigkeit, sondern durch eine andere Handlungstendenz gekennzeichnet sei. Es stehe dem Versicherten nur solange frei, sich im öffentlichen Verkehrsraum beliebig zu bewegen, wie die Fortbewegung nach seiner objektivierten Handlungstendenz der Zurücklegung des versicherten Weges zu dienen bestimmt sei. Hinzu komme, dass die Klägerin aufgrund eines (von ihr vorgetragenen) Schockzustands auch ohne Aufforderung der Polizei überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, den Unfallort zu verlassen. Sie hätte ihrer Auffassung nach eigentlich in ein Krankenhaus verbracht werden müssen. Dies mache ebenso deutlich, dass sie ihre ursprüngliche Handlungstendenz, ihren Weg nach Hause zurückzulegen, unterbrochen habe. Ob ihre neue Handlungstendenz auf die Erfüllung ihrer Pflichten als Verkehrsteilnehmerin und der Anweisungen der Polizei oder die  Behandlung ihres Schockzustandes gerichtet gewesen sei, sei dabei unerheblich. Die ursprüngliche Handlungstendenz habe nach außen erkennbar gewechselt. Die Wartezeit von einer Dreiviertelstunde, das Aussteigen aus dem PKW, um ein Gespräch mit der Polizei zu führen, sowie die von der Klägerin selbst vermutete Behandlungsnotwendigkeit eines Schockzustandes, der die weitere Führung eines PKW ausschließe, bedeuten eine nicht nur geringfügige Zäsur. Der Unfallversicherungsschutz erstrecke sich nicht auch auf Handlungen, mit denen ein Versicherter den durch §§ 34 StVO und 142 StGB auferlegten Verhaltenspflichten nachkomme.


Der Autor
Dr. Sebastian Felz ist Referent im Referat IIIb5 „Produktsicherheit, Anlagen- und Betriebssicherheit“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Bonn.



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