Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Das Luf-Boot stammt aus der Südsee von der Insel Luf. 1904 kam es nach Berlin und steht jetzt im neu eröffneten Humboldt Forum. Bild: Wikimedia Commons
Nachgefragt bei Prof. Dr. Michaela Holdenried und Dr. Anna-Maria Post

„An allem Anfang des Unrechts aber steht die Landnahme“

ESV-Redaktion/Ln
23.06.2021
Endlich kann das Humboldt Forum in Berlin seine Tore öffnen, der neue Stadtraum mit Schlüterhof und Passage können nach der Fertigstellung besichtigt werden. Rund um die Eröffnung des Humboldt Forums wurde allerdings ein ganz anderes Thema sehr emotional diskutiert: die Rückgabe von Kunstschätzen aus kolonialem Erbe. Staatsministerin Monika Grütters und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben sich nach intensiven Diskussionen darauf geeinigt, dass Deutschland die wertvollen Benin-Skulpturen 2022 an ihr Herkunftsland Nigeria zurückgibt.
Vor kurzem ist ein weiteres Buch zum Thema Kunstraub erschienen: „Das Prachtboot: Wie Deutsche Kunstschätze der Südsee raubten“ des Historikers Götz Aly. In dem Buch berichtet Aly, wie das Luf-Boot – eines der prominentesten Ausstellungsstücke aus der Südsee im Humboldt-Forum – aus Papua-Neuguinea geraubt wurde. Die Restitutionsdebatte geht in die nächste Runde.

Im Erich Schmidt Verlag ist nun ein Buch erschienen, das sich mit dem Thema „Landnahme“ in der Literatur beschäftigt. Wie ist Kolonialismus mit seinen verschiedenen Facetten von ‚Eroberung‘ und ‚Entdeckung‘ literarisch verarbeitet worden? Wir haben mit den beiden Herausgeberinnen, Prof. Dr. Michaela Holdenried und Dr. des Anna-Maria Post, darüber gesprochen.

Liebe Frau Holdenried, liebe Frau Post, als wichtigster ‚Entdecker‘ Amerikas gilt natürlich Christoph Kolumbus, der 1492 die neue Welt bereiste. Gleich danach fällt der Name Alexander von Humboldts als zweitem ‚Entdecker‘ Lateinamerikas. Wie werden diese Reisen später in der literarischen Beschäftigung mit den beiden Figuren bewertet und welche Rolle spielen sie in Ihrem Buch?

Michaela Holdenried: Mit Columbus begann die Ausbeutung des lateinamerikanischen Kontinents, wie sie der Historiker Eduardo Galeano („Offene Adern Lateinamerikas“) so treffend beschrieben hat. Bartolomé de las Casas, der mitreisende Priester, hat in seinem „Kurzen Bericht von der Verwüstung Westindiens“ (von Enzensberger wiederaufgelegt) schon damals die Gräueltaten der Spanier und ihre Vernichtung beschrieben – der zweifellos erste dokumentierte Völkermord. Während die Spanier mit ihren Taten in der Aufklärung, im Sturm und Drang und bis in die neuere Zeit zum Symbol des grausamen Kolonialherrentums wurden, hielt sich aber zugleich die Bewunderung für Kolumbus als einem unerschrockenen Helden. Man kann in Susanne Zantops sehr lesenswertem Buch über Kolonialphantasien nachlesen, welche ungeheure Menge an Literatur es in allen Genres zu diesem ‚Helden‘ gab. In unserem Band greifen dezidiert zwei Beiträge die Faszinationsfigur des Entdecker Kolumbus auf: Stefan Hermes beleuchtet die kritische Auseinandersetzung mit Kolumbus in Gedichten des Sturm und Drang. Diese kritischen Stimmen, die oft genug von Außenseitern des literarischen Betriebs geäußerte Einzelstimmen bleiben, sind allerdings eher die Ausnahme in einer sonst affirmativ-faszinierten Bewunderungsgeschichte. Selbst Stefan Zweig gehörte eher zur Fraktion der Bewunderer, wie in unserem Band im Beitrag von Hans-Christian Riechers zur Kolumbus-Rezeption in der Zwischenkriegszeit nachgelesen werden kann.

Humboldt schien hingegen aus der Sicht vieler Lateinamerikaner der zweite wahre – nämlich wissenschaftliche – Entdecker zu sein, mit einem wahrhaftigen Interesse an diesem nur wenig erkundeten Halbkontinent. Mit Mary Louise Pratts Scheltrede in ihrem Buch „Imperial Eyes“ wurde diese absolute Bewunderung auf den Prüfstand gestellt. Oliver Lubrich stellt in unserem Band richtig, was Pratt aus allzu politisch überspitztem Kalkül formuliert, aber nicht verifizieren kann. Wenn die Rede von ‚Helden‘ heute überhaupt noch einen Sinn haben kann, dann gilt sie sicher eher für ein Unternehmen wie dasjenige Humboldts – man sollte aber auch hier nicht die Köche vergessen – wie Brecht in seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ so trefflich schrieb. Und weiter heißt es dort: „Wer bezahlte die Spesen?“– auch diese Frage wird im Zuge der postcolonial studies zu Recht gestellt. An allem Anfang des Unrechts aber steht die Landnahme.

Zur neueren literarischen Bewertung noch ein Wort: sicher hat Kehlmanns Humboldt-Karikatur in der „Vermessung der Welt“ dazu beigetragen, sich auf aufmerksamere Weise mit den Schattenseiten eines großen Forschungsreisenden zu beschäftigen. Aber man muss ein weit größeres Tableau in den Blick nehmen, also die Traditionslinien, von denen Zantop so ausführlich sprach, um nachzuvollziehen, wie sich die Imaginationen von den ‚Entdeckern‘ und Eroberern wandeln. Dies tun wir in unserem Band.

Ihr Buch ist in fünf Großkapitel unterteilt, die sich mit unterschiedlichen geographischen Regionen beschäftigen. Es finden sich Kapitel zu Amerika bzw. dem Westen, dann zu Afrika, Europa, zu Asien bzw. dem Osten und zum Schluss zu Australien und der Südsee. Welche Absicht verfolgen Sie mit dieser Gliederung?

Anna Maria Post: Wir haben lange überlegt, wie wir vorgehen sollen, und haben uns dann für die politisch-geographische Einteilung nach verschiedenen Weltregionen entschieden. Es ist unseres Erachtens die beste Sichtbarmachung für die in allen Fällen ähnliche, aber nie gleiche historische Inbesitznahme in globaler Hinsicht. Zentral für das Narrativ der Landnahme sind natürlich die typischen kolonialen Regionen Amerika und Afrika, sowie auch weniger prominent Australien und die Südsee. Aber auch Europa hat eine Geschichte der Landnahme vorzuweisen, die gerne in Vergessenheit gerät. Im regionalen und gleichzeitig historischen Vergleich kann dann nachvollzogen werden, wie und auf welche Weise Landnahmen in ganz unterschiedlichen Weltregionen dargestellt bzw. literarisch inszeniert und diskutiert werden, wo Gemeinsamkeiten und wo Unterschiede zu finden sind.

Ferner denken wir, dass sich manche Leser:innen eher für bestimmte Regionen interessieren, die dann gezielt in den Blick genommen werden können.

Land in Sicht! 22.06.2021
Goethes „Faust“ postkolonial gelesen
Der „Faust“ Johann Wolfgang von Goethes ist ein Klassiker, viele Leserinnen und Leser kennen ihn und haben ihn gelesen oder auf dem Theater gesehen. Aber meist ist es der erste Teil des „Faust“, den wir kennen; der zweite Teil fristet ein eher unbekanntes Schattendasein. Goethe hat den zweiten Teil ab 1825 nach einer etwa 20 Jahre währenden Pause verfasst. Erst in diesem Teil der Tragödie entwickelt sich Faust zu einer harmonischen Persönlichkeit. Seine (Lebens-)Reise führt ihn nun durch die „große Welt“, und Faust verwirklicht seine Vision einer freiheitlichen Weltordnung. mehr …

Sie beginnen in dem Buch damit, den Begriff der „Landnahme“ zu definieren. Letztlich sei Landnahme, wie Sie schreiben, immer ein Gewaltakt. Bitte erläutern Sie unseren Leserinnen und Lesern vor dem Hintergrund der aktuellen postkolonialen Debatten, wie das zu verstehen ist.

Michaela Holdenried: Lange Zeit war das Thema Kolonialismus nicht in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland präsent. Dass es einen deutschen Kolonialismus gab, wurde verharmlost oder mit der These gerechtfertigt, es sei ja doch der deutsche Kolonialismus nachrangig gewesen oder hätte gar zur Verbesserung von Lebensbedingungen geführt. Nichts davon ist richtig: Deutschland war die drittgrößte Kolonialmacht, in Berlin wurde bei der sogenannten Kongo-Konferenz 1884/85 die Aufteilung Afrikas beschlossen, und Deutschland sicherte sich nicht nur einen „Platz unter der Sonne“, sondern beging die gleichen Kolonialverbrechen wie alle anderen Kolonialmächte, gespeist aus rassistischem Dünkel und Habgier. Mit den Restitutionsforderungen – etwa Namibias – werden die genozidalen Verbrechen in den letzten Jahren immer sichtbarer. Die Restitution von Kunstschätzen oder auch die Rückführung von Gebeinen (wie aus Freiburg oder wie derzeit an der FU Berlin untersucht) sind hier nur die Spitze des Eisbergs. Am Ursprung allen Kolonialismus und seiner Folgen steht jedoch ein Gewaltakt: die Landnahme und in deren Gefolge ein über Jahrhunderte währendes Unsichtbarmachen der First nations. Von welch immenser Dauer solche Marginalisierungen waren, sehen wir etwa am Beispiel der nun endlich auch mitregierenden Maori in Neuseeland, sowie in den Restitutions- und Reparationsdebatten um unrechtmäßig entwendetes Eigentum im Zuge der Landnahme.

Ursprünglich sind wir davon ausgegangen, dass es zu diesem Gewaltakt als der ‚Ursünde‘, wenn man so möchte, gerade in der postkolonialen Forschung ungeheuer viele Beiträge geben müsste. Dass es diese nicht gab, sondern dass wir eine höchst markante Leerstelle entdeckt haben, hat uns erstaunt, scheint es doch davon zu zeugen, dass Landnahme als der Ursprungsakt kolonialer Inbesitznahme auch in den postcolonial studies fast vorausgesetzt, jedenfalls nicht weiter untersucht wird. Was untersucht wird, sind die Folgen – aber um diese wirklich zu verstehen, bedarf es unserer Meinung nach eines genauen Blicks auf den Akt selbst, auf dessen (Pseudo-)Legitimierung und auch eines Blicks auf das framing: Wie wird also der usurpatorische Akt nach den juristischen Kalkülen auch literarisch und bildnerisch-künstlerisch bewertet?

Diderot hat in seinem berühmten Nachtrag zu Bougainvilles Reise einen tahitianischen Greis zum Problem der Landnahme sprechen lassen. Sinngemäß bedeutet dieser Greis seinem europäischen Gesprächspartner, was die Europäer wohl denken würden, wenn es sich die Tahitianer einfallen ließen, Europa in Besitz nehmen zu wollen. Eine in dieser Umkehrung absurde Vorstellung, die die ganze Absurdität einer Vorstellung legitimer ‚Landnahme‘ ‚entdeckter‘ Länder und Inseln so pointiert, dass dem kaum etwas hinzuzufügen ist. Hinzugefügt haben wir allerdings die Fragen danach, wie in der europäischen Rechts- und philosophischen Denktradition eine Legitimierung solch offenkundigen Unrechts erfolgen konnte – und stießen natürlich auf Carl Schmitt und Hanna Arendts grundlegende Kritik an seiner Nomos-Theorie. Ausführlich setzen wir uns damit in der Einleitung auseinander.

Mit welchen Autoren bzw. Autorinnen beschäftigt sich der Sammelband im einzelnen? Was erwartet unsere Leserinnen und Leser bei der Lektüre?

Anna Maria Post: Unser Band schlägt neben dem, wie wir oben bereits angeführt haben, territorialen, auch einen großen historischen Bogen: Das Spektrum reicht vom Mittelalter, für das im Band Gründungserzählungen (origenes gentum) aus Britannien, Ungarn und Deutschland, der Konnex von Landnahme und Minne im „Iwein“, „Parzifal“ und „Wigalois“, sowie konsens- und konfliktgeladene Landgaben im „Herzog Ernst“ behandelt werden, über das Barock mit Martin Opitz’ globalgeschichtlicher Perspektive auf Landnahme im „Laudes Martes“ und Gedichten des Sturm und Drang hin zu jesuitischen Missionsberichten aus Paraguay sowie Berichten der Missionierung Grönlands aus dem 18. Jahrhundert und schließlich zu Goethes „Faust“.  Das Kolonialismus begeisterte 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts werden gleich in mehreren Beiträgen beleuchtet, wobei neben fiktionalen Bearbeitungen etwa der Ballonfahrt Salomon August Andreés zum Nordpol auch faktuale Berichte wie zum Beispiel Alexander von Humboldts Russlandreisen untersucht werden. Schlussendlich ist auch die Gegenwartsliteratur mit Christoph Buchs „Sansibar Blues“, Elfriede Jelineks „Bambiland“ und Christian Krachts „Imperium“ in unserem Band vertreten.

Zum Abschluss eine persönliche Frage: was ist Ihr persönlicher Lektüretipp für unsere Leserinnen und Leser, welches Landnahme-Buch gilt es aus Ihrer Sicht zu entdecken?

Michaela Holdenried: Eine schwierige Frage: Aber vielleicht sollte man wirklich mit Columbus beginnen – mit seinem sogenannten Bordbuch und dazu Enzensbergers Neuausgabe von las Casas Bericht lesen. Im Grunde ist es das gleiche Muster, das auch heute noch gilt: wer Besitzansprüche anmeldet (siehe die Chinesen im asiatischen Raum, die Russen auf der Krim…) und nicht daran gehindert wird, behält recht. Der Akt der Inbesitznahme wird dann nur noch im kollektiven Gedächtnis der Usurpierten weiterleben. Zur neueren Literatur wäre etwa ein Werk wie Thomas von Steinaeckers „Schutzgebiet“ empfehlenswert, oder auch Alex Capus „Eine Frage der Zeit“.

Anna Maria Post: Auch Sharon Dodua Otoos „Adas Raum“ lässt sich als Landnahme-Buch lesen, da es die Kontinuität einer Gewaltgeschichte anhand vier durch ein Armband miteinander verwobener Frauenschicksale erzählerisch offenlegt und dabei auch Fragen der Restitution aufwirft, die Sie zu Beginn unseres Interviews ja ebenfalls angesprochen haben.

Wir danken Ihnen herzlich für dieses interessante Gespräch, liebe Frau Holdenried, liebe Frau Post.

„Land in Sicht!“
Herausgegeben von: Prof. Dr. Michaela Holdenried, Dr. des Anna-Maria Post
Die Beiträge des Bandes beleuchten verschiedene Szenarien und Praktiken von Landnahme und deren literarische Inszenierung in einem historischen Bogen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Bandbreite reicht von europäischen Gründungsmythen wie dem des Riesen Teuton über Christoph Kolumbus’ „Entdeckung“ der Neuen Welt und deren literarischer Verarbeitung bis hin zu postmodernen Re-Lektüren der deutschen Kolonialgeschichte.
In der Zusammenschau wird deutlich, dass Landnahmen nur vordergründig Territorialisierungsprozesse sind, die mithilfe ritualisierter Praktiken des räumlichen Ordnens Herrschaft über Land stabilisieren. Die Mechanismen sind in Wirklichkeit viel komplexer, besonders wenn man eine metaphorische Qualität des Begriffes und eine symbolische Dimension der Praktiken annimmt. Diese vollziehen Landnahme nicht nur faktisch (etwa durch das Einrammen von Grenzpflöcken), sondern initiieren begleitende Prozesse der Imagination und stoßen das Durchexerzieren von Landnahmeszenarien im Diskurs an. Erst so entsteht ein stimulierendes, rechtfertigendes und programmatisches Narrativ der Landnahme. Eine literaturwissenschaftliche Analyse der Praktiken und Verwendungsweisen des Landnahme-Begriffs liegt damit auf der Hand, blieb in der bisherigen postkolonialen Auseinandersetzung allerdings bisher aus. Der Band schließt daher eine gravierende Forschungslücke im Bereich der postkolonialen Literaturwissenschaft.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik