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Manuela Barišić (Foto: Bertelsmann Stiftung)
Nachgefragt bei: Manuela Barišić (Bertelsmann Stiftung)

Barišić: „Bevölkerungsgruppen haben sehr unterschiedlich vom technologischen Fortschritt profitiert“

ESV-Redaktion Arbeitsschutz
07.06.2019
Die Bertelsmann Stiftung hat in Kooperation mit der FU Berlin zur Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts geforscht, um die Auswirkungen historischer, aktueller und prognostizierter Trends auf dem Arbeitsmarkt zu untersuchen. Im Gespräch mit der ESV-Redaktion Arbeitsschutz berichtet Manuela Barišić aus deren Forschung zu den Gewinnern und Verlierern der bisherigen Arbeitsmarktentwicklung.

Wie genau sieht die Studie aus und wie weit vor und zurück haben Sie geforscht?

Barišić: Die aktuelle Studie „Wer gewinnt? Wer verliert? Die Entwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt seit den frühen Jahren der Bundesrepublik bis heute“ bildet den ersten Teil einer dreiteiligen Reihe, die wir als Bertelsmann Stiftung im Rahmen eines Forschungsprojektes der FU Berlin fördern. Ziel dieser Studienreihe ist es, die Auswirkungen der historischen, aktuellen und prognostizierten Trends am Arbeitsmarkt auf die individuelle Beschäftigungssituation und die künftigen Lebenserwerbseinkommen zu untersuchen.

Um empirisch fundierte Zukunftsszenarien simulieren zu können, befassen wir uns in dieser ersten Studie zunächst eingehend mit der Analyse des Arbeitsmarkts der vergangenen sechs Jahrzehnte. Aufbauend auf der erarbeiteten Datenbasis werden im zweiten Schritt die Lebenserwerbseinkommen für verschiedene Geburtskohorten prognostiziert, die derzeit ins Erwerbsleben eintreten bzw. einen Großteil ihrer Erwerbsbiografie noch vor sich haben. Die dritte Studie zielt auf die Reformebene. Sie fragt, ob es dem deutschen Sozialstaat gelingt, in der sich wandelnden Arbeitswelt Lebenschancen angemessen zu ermöglichen, und an welcher Stelle wohlfahrtsstaatliche Institutionen angepasst werden müssen. Wir werden die Ergebnisse der zweiten und dritten Studie noch in diesem Sommer veröffentlichen.

Das Forscherteam, bestehend aus Prof. Dr. Timm Bönke, Astrid Harnack und Miriam Wetter, untersucht in der ersten Studie, wer auf individueller und auf Haushaltsebene, differenziert nach Geschlecht und Region, von den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auf dem deutschen Arbeitsmarkt profitiert hat. Dabei werden das Bildungsniveau, die Erwerbsbeteiligung, die Entwicklung von Tätigkeitsklassen nach bestimmten Qualifikationsanforderungen sowie die verfügbaren Einkommen betrachtet. Durch die Aufarbeitung und Harmonisierung der vom Statistischen Bundesamt zur Verfügung gestellten Daten des Mikrozensus, einer seit 1957 fast jährlich durchgeführten repräsentativen Befragung privater Haushalte in Deutschland, ist es erstmals möglich, ein großes und umfassendes Bild des deutschen Arbeitsmarkts der vergangenen Jahrzehnte zu zeichnen. 

Im Ergebnis zeigt sich, dass Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich von den Einflüssen des technologischen Fortschritts, den verschiedenen makroökonomischen Entwicklungen sowie den Megatrends wie der Globalisierung, dem sektoralen Wandel und den institutionellen Änderungen auf dem Arbeitsmarkt profitiert haben.

So zählen Geringqualifizierte, insbesondere Männer, im Hinblick auf verfügbare Einkommen und Beschäftigungsquoten zu den größten Verlierern auf dem Arbeitsmarkt. Hauptgewinner sind dagegen hochqualifizierte westdeutsche Männer. Hier waren die Arbeitslosenquoten stets gering und der Match von ausgeübter Tätigkeit und Qualifikation konstant sehr gut; zudem haben die verfügbaren Einkommen dieser Gruppe am stärksten zugenommen. Auch hochqualifizierte ostdeutsche Arbeitskräfte konnten von den Entwicklungen der vergangenen Jahre profitieren. Westdeutsche hochqualifizierte Frauen gehören zu den größten Aufsteigerinnen der letzten Jahrzehnte. Sie sind besser ausgebildet, arbeiten insgesamt mehr und haben inflationsbereinigt deutlich höhere Einkommen zur Verfügung als noch in den 1970er-Jahren. Nichtsdestoweniger üben sie häufiger als ihre männlichen Kollegen Tätigkeiten aus, für die sie formal überqualifiziert sind. Darüber hinaus haben sie über alle Bildungsstufen hinweg – damals wie heute – häufig weniger als die Hälfte der Einkommen der Männer zur Verfügung. Da ostdeutsche Frauen traditionell stärker in den Arbeitsmarkt eingebunden waren, lässt sich bei ihnen eine eher konstante Entwicklung beobachten. Darüber hinaus kommt Frauen eine zentrale Bedeutung bei der Sicherung des Haushaltseinkommens zu. Insbesondere Frauen prekär beschäftigter Männer tragen mit der Ausdehnung ihrer Erwerbstätigkeit und dem zunehmenden Zweitverdienst dazu bei, das Familieneinkommen abzusichern.

Im Hinblick auf die Zukunft der Arbeit zeigt sich, dass es deutliche Gewinner und Verlierer durch den technologischen Fortschritt gibt. Welche können Sie skizzieren und können Sie auch die Faktoren nennen, die dafür ursächlich sind?

Barišić: Das Thema „Zukunft der Arbeit“ ist derzeit in aller Munde. Die Megatrends unserer Zeit wie Globalisierung, demographischer Wandel und, allen voran, die fortschreitende Digitalisierung haben erhebliche Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung des Arbeitsmarkts. Mit dieser Feststellung einher geht die Frage, wer von diesen Entwicklungen profitieren wird und wer nicht. Mit der aktuellen Studie „Wer gewinnt? Wer verliert?“ schauen wir aber bewusst nicht in die Zukunft. Wir blicken in die Vergangenheit und fragen nach den Gewinnern und Verlieren der vergangenen Jahrzehnte.

Denn bevor wir einen seriösen Blick in die Zukunft wagen können, brauchen wir zunächst gesichertes, differenziertes Wissen über die Entwicklungen der Vergangenheit und am aktuellen Rand. Nur auf dieser Basis können wir gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen einordnen und bewerten sowie die richtigen Antworten auf Handlungserfordernisse geben. Der Blick in die Vergangenheit hilft uns, die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen.

Ihre Studie ist natürlich deskriptiv, aber haben Sie ausgehend von Ihren Erkenntnissen einen Appell an Politik und Sozialpartner, um möglichst viele Menschen mit in die Arbeit der Zukunft mitzunehmen?

Barišić: Die Langzeitbetrachtung zeigt, dass die Frage nach Teilhabe und Aufstiegsmöglichkeiten für möglichst alle auf dem Arbeitsmarkt – heute und auch in Zukunft – eine entscheidende ist. Politik, Gesellschaft und Wirtschaft müssen darüber nachdenken, wie sie zum einen die bestehenden Lohn- und damit auch Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen beseitigen und zum anderen Geringqualifizierte fit für den Arbeitsmarkt (der Zukunft) machen.

Auch vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Zusammenhalts kann es sich eine führende Wirtschaftsnation wie Deutschland nämlich nicht leisten, Verlierer zu produzieren. Damit bildet die Studie eine wichtige empirische Grundlage in der aktuellen Diskussion um faire Teilhabechancen für alle auf dem Arbeitsmarkt.


Manuela Barišić ist Projektmanagerin des „Programm Arbeit neu denken“ bei der Bertelsmann Stiftung. 

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