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In Karlsruhe auf dem Prüfstand: Sanktionen der Jobcenter (Foto: Martin/Fotolia.com)
Grundsicherung für Arbeitsuchende

Bundesverfassungsgericht befasst sich mit Rechtmäßigkeit von Hartz IV-Sanktionen

ESV-Redaktion Recht
17.01.2019
Darf der Staat das Existenzminimum kürzen und wenn ja, in welchem Umfang? Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) muss sich mit einer entsprechenden Richtervorlage des Sozialgerichts (SG) Gotha auseinandersetzen. Die Antworten werden das Hartz IV-Sanktionssytem wohl nicht unerheblich verändern.
Geklagt hatte ein arbeitsloser Mann aus Erfurt. Diesem hatte das Jobcenter eine Stelle als Lagerarbeiter angeboten, was er ablehnte. Er wollte lieber im Verkauf arbeiten. Aus diesem Grund kürzte ihm das Jobcenter sein Arbeitslosengeld-2 für drei Monate um 117 Euro. Dies entsprach 30 Prozent des damaligen Regelsatzes von 391 Euro. Da diese Sanktion den Kläger nicht motivierte und er darüber hinaus einen Gutschein zur Erprobung bei einem Arbeitgeber nicht eingelöst hatte, kappte das Jobcenter das Arbeitslosengeld auf einen Betrag von 234,60 Euro im Monat. Dies entsprach einer Kürzung von 60 Prozent.

Im Überblick: Aktuelle Hartz-IV-Sätze 2019
  • Alleinstehende und Alleinerziehende:   424 Euro 
  • Paare bei Bedarfsgemeinschaften:  382 Euro
  • Erwachsene im Haushalt von anderen:  332 Euro
  • Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahren:  322 Euro
  • Kinder von sechs bis unter 14 Jahren:  302 Euro
  • Kinder von 0 bis 6 Jahre:  245 Euro
  • Kindergeld wird als Einkommen vom Grundbedarf abgezogen
Eine vierköpfige Familie oder Bedarfsgemeinschaft mit zwei Kindern ohne sonstiges Einkommen kann einschließlich Wohnkosten und Kindergeld mit Leistungen von insgesamt 2.000 Euro im Monat rechnen. Vorausgesetzt, es liegen weder ein Mehrbedarf oder noch weitere Besonderheiten vor.

Im Rahmen des Klageverfahrens gegen das Jobcenter setzte das Sozialgericht (SG) Gotha das Verfahren aus und legte die Sache dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe vor. Das SG hält sämtliche Sanktionsregeln für verfassungswidrig. Die wesentlichen Argumente:

Hauptargument der Richter aus Thüringen Die wichtigsten Gegenargumente
Soll der Hartz-IV-Regelsatz das menschenwürdige Existenzminimum sichern, muss jeder darauf einen Anspruch haben. Sanktionen dürfen nicht dazu führen, dass Menschen noch weniger als das Minimum haben. Auch Verweigerer erhalten Geld vom Steuerzahler. Leistungen ohne Sanktionen führt schon jetzt faktisch zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Zudem muss der Staat Mittel haben, um zumutbare Mitwirkungen auch verbindlich einfordern zu können. Es gebe kein Recht auf Faulheit.

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Im Zentrum des Verfahrens stehen die Mitwirkungspflichten der Leistungsempfänger und die Sanktionen. Hierzu hat der zuständige Erste Senat des BVerfG einen umfassenden Themenkatalog erstellt.

Mitwirkungspflichten

Im Zentrum der Mitwirkungspflichten stehen zunächst deren legitime Ziele, die nach § 31 Absatz 1 SGB II erreicht werden sollen. Zudem will der Senat klären, ob sich die dort normierten Mitwirkungsanforderungen dazu eignen, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, und ob diese zumutbar sind.

Die wesentlichen Sanktionen

  • Verpassen von Meldepflichten: Leistungskürzung um 10 Prozent
  • Verweigerung einer Arbeitsaufnahme: Wer keine „zumutbare“ Arbeit aufnimmt, bekommt 30 Prozent weniger. Bei einer Wiederholung werden 60 Prozent abgezogen. Weitere Wiederholungen innerhalb eines Jahres führen zu Kürzungen von 100 Prozent. 
  • Leistungsempfänger unter 25 Jahren: Hier führt bereits die erste Pflichtverletzung dazu, dass das Jobcenter nur noch die Kosten für die Unterkunft und Heizung übernimmt. Jede weitere Pflichtverletzung führt zu einer kompletten Streichung vom ALG-2-Leistungen.
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Gegenstand des Verfahrens

In dem Verfahren geht es hauptsächlich um folgendes:
  • Was bringen Mitwirkungspflichten und Sanktionen?
  • Führen sie Menschen tatsächlich schneller in Arbeit?
  • Oder werden labilere Menschen durch die Sanktionen stärker in die Obdachlosigkeit gedrängt?
  • Wie wird das System Kindern gerecht, die mittelbar von Sanktionen gegenüber ihren Eltern(teilen) betroffen sind?
  • Sind die Sanktionen verhältnismäßig oder in einzelnen Punkten zu hart?
Fördern und fordern

Die Bundesregierung, vertreten durch Arbeitsminister Hubertus Heil, hat die Sanktionen verteidigt: „Der Sozialstaat muss ein Mittel haben, die zumutbare Mitwirkung auch verbindlich einzufordern“, so der SPD-Politiker laut Spiegel Online am Verhandlungsauftakt. Demnach müssen die Jobcenter Leistungsbeziehern, die ihre Pflichten nicht erfüllen, die Zuwendungen nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ streichen können.

Mangelnde Flexibilität?

Demgegenüber kritisierte die Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstags, Monika Paula, dass die Jobcenter Sanktionen nicht verkürzen oder wieder aufheben könnten. Eine flexible Reaktion im Einzelfall sei nicht möglich.

Obdachlos aufgrund von Sanktionen?

Ein weiterer Aspekt kommt von der Sozial­-Initiative Tacheles. Das BVerfG hatte diese als sachverständige Organisation zur Verhandlung am 15.01.2019 eingeladen und schon vorher einen Fragebogen zugesandt. Auf dieser Grundlage startete der Verein eine Online-Umfrage, an der 21.000 Personen teilgenommen hatten. Neben Betroffenen hatten auch viele Beratungsstellen, Anwälte und Job-Center-Mitarbeitende geantwortet. Der Umfrage zufolge halten über 80 Prozent aller Antwortenden Sanktionen nicht für geeignet, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen, so der Vorstand von Tacheles, Harald Thomé, gegenüber der „taz“. Seine Einschätzung im Vorfeld der Verhandlung:
  • Obdachlosigkeit: 58 Prozent der Betroffenen und 52 Prozent der Beratungsstellen kennen Fälle, bei denen Hartz-IV-Bezieher wegen Leistungskürzungen ihre Wohnung verloren.
  • Psychische Krankheiten: Häufigster Grund, warum Leistungsbezieher ihre Verpflichtungen nicht einhalten, sei die Überforderung wegen psychischer Krankheiten. Zwar könnten psychisch Kranke ein ärztliches Attest vorlegen. Allerdings seien viele hierzu nicht in der Lage.
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Wie das Verfahren weitergeht

Dass Hartz IV insgesamt gekippt wird, ist unwahrscheinlich. Auch geht es nicht um die Höhe der Bedarfssätze. Dementsprechend hat Stephan Harbarth, Vorsitzender der Ersten Senats, die Erwartungen an das Verfahren auch gedämpft. Es gehe es nicht um die Frage, ob Sozialleistungen mit einem Sanktionssystem politisch sinnvoll seien, sagte er zahleichen Medienberichten zufolge am Beginn der Verhandlung. Ebenso wenig gehe es um ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Dennoch wäre dem Senat bewusst, dass das Thema für viele Menschen in schwierigen Lebenslagen sehr wichtig ist und grundlegende Bedürfnisse betrifft. Dies, so Harbarth weiter, „nehmen wir ernst.“

Im Mittelpunkt steht Harbarth zufolge die Frage, was die Gemeinschaft von Menschen fordern darf, bevor sie Sozialleistungen erhalten, und was diese auch durch Sanktionen erzwingen darf.

Eine Entscheidung des BVerfG wird allerdings noch einige Zeit auf sich warten lassen. Es ist aber kaum anzunehmen, dass die Sanktionen in der momentanen Form weiterhin Bestand haben. Darauf deutet auch der Themenkatalog hin, den das BVerfG bereits im Vorfeld veröffentlicht hatte.

Quellen: PM des BVerfG vom 10.01.2019 zum Verfahren 1 BvL 7/16, sowie unter anderem Spiegel-Online am 15.01.2019, Online-Ausgaben der taz vom 14.01.2019 sowie der Zeit vom 15.01.2019

Update: Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II

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BVerfG: Sanktionen bei Hartz IV teilweise verfassungswidrig

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(ESV/bp)

Programmbereich: Sozialrecht und Sozialversicherung