
„Das HRG bildet das gesamte traditionsreiche Fach der ‚Deutschen Rechtsgeschichte‘ ab.“
Lieber Herr Cordes, können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit dem HRG erinnern?
Albrecht Cordes: Das war bei der Literatursuche für mein erstes Seminar bei Prof. Kroeschell im Sommer 1980. Ich war im 4. Semester und musste das englische Rechtsbuch von Ranulf de Glanville (12. Jh.) beschreiben. Darin ging es viel um „writs“ – und ich wusste nicht, was das war. Dummerweise war die 1. Auflage des HRG noch nicht beim Buchstaben W angelangt (vgl. jetzt „Englisches Recht“ und demnächst „Writ“, in: HRG, 2. Auflage, 21. Jahrhundert).
[Anmerkung der ESV-Redaktion: „Ein writ (abgeleitet von write, lat. breve) war der Befehl des Königs, mit dem er unter kurzer Kennzeichnung des Streitgegenstandes den zuständigen Sheriff oder Gerichtsherrn anwies, einen bestimmten Beklagten vor sein Gericht zu laden und die Sache in Gegenwart der Parteien zu verhandeln.“ Aus: Kent D. Lerch, Art. Engl. Recht, HRG I, 22004, 1335–1336].
Gibt es ein Stichwort, für dessen Aufnahme Sie sich besonders eingesetzt haben?
Albrecht Cordes: In Bezug auf den bahnbrechenden Artikel über „Ritter Rost“ wird die Wissenschaft künftig nicht mehr hinter die 2. Auflage des HRG zurückfallen können. Spaß beiseite - wirklich wichtig ist, dass wir uns gleich zu Beginn der Neuauflage entschlossen der jüngsten Geschichte und neuen Themen geöffnet haben, so etwa mit Artikeln wie „Aktiengesellschaft“ und „Auge des Gesetzes“, aber auch „Auschwitzprozess“.
Erklären Sie unseren Leser*innen das HRG in drei Sätzen: Was macht das HRG so einzigartig?
Albrecht Cordes: Viele der Informationen aus dem HRG kann man sich auch im Internet, ob bei Wikipedia oder sonstwo, besorgen. Der große Unterschied ist, dass im HRG die Autorinnen und Autoren die Verantwortung für die Inhalte, die Literaturauswahl und insgesamt die wissenschaftliche Qualität übernehmen. So bildet das HRG das gesamte traditionsreiche Fach der „Deutschen Rechtsgeschichte“ ab und zeigt zugleich, wie sich das Fach aus eigener Kraft über die deutschen Grenzen hinaus erneuern kann; für den Anschluss an die europäische Rechtsgeschichte dienen vor allem unsere Länderartikel (von Albanien bis Zypern).
Inzwischen sind über 3.700 Stichwörter an mehr als 700 Autor*innen vergeben worden, eine imposante Zahl. Im Gegensatz zu Auflage 1, bei der ca. 7% der Beitragenden Frauen waren, schafft es die zweite Auflage auf einen Anteil von über 20% an Autorinnen – Tendenz steigend. Wie setzen Sie als Herausgeber sich dafür ein, dass mehr Frauen für das HRG schreiben?
Albrecht Cordes: Indem wir uns des Problems bewusst sind und Autorinnen finden und einladen, wenn es nur irgendwie passt - ohne dabei aber das Prinzip zu verletzen, dass wir die jeweils kompetenteste Person für das HRG gewinnen wollen.
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Drei Regalkilometer mit Zehntausenden von Akten und Amtsbüchern: diese Quellen zur Tätigkeit des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR), die im Österreichischen Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, lagern, werden seit 2007 in einem einzigartigen deutsch-österreichischen Kooperationsprojekt erschlossen. Insgesamt sind seit 2009 bereits 11 Bände der Akten des RHR erschienen; soeben wurde der 6. Band der Serie „Antiqua“ im Druck vorgelegt. mehr … |
Neben dem bewährten gedruckten Lexikon, das sich an der alphabetischen Reihenfolge orientiert, gibt es auch eine wichtige Neuerung beim HRG. Erstmals tragen wir dem Umstand Rechnung, dass unser Handwörterbuch wie jede Enzyklopädie ein ‚Work in Progress‘ ist. Digitale Datenbanken ermöglichen es nämlich, fertiggestellte Artikel vor dem Druck zugänglich zu machen. Genau dies setzen wir mit dem neuen Online first-Modell des HRG nun um. Wie kam es zu diesem Schritt?
Albrecht Cordes: Gedruckte Wörterbücher sind Sklaven des Alphabets. Das ist nicht nur ein Nachteil, denn mit diesem Argument kann man Autoren, die durch Verspätungen den ganzen Betrieb aufhalten, doch recht gut Druck machen. Wenn umgekehrt Artikel schon früh, vielleicht Jahre vor dem Erscheinen, bei uns eingehen, wäre es unglücklich für Leser und Verfasser, sie zurückzuhalten. Den konkreten Anlass, „online first“ energisch voranzutreiben, boten die vielen wertvollen Artikel, die Michael Stolleis (1941–2021) im Winter 20/21 noch fertigstellen konnte und die wir nun online veröffentlicht haben - bis hin zum Artikel „Utopie“, der mit der Aufforderung endet, sich das „Prinzip Hoffnung“ nicht durch schlechte Realisierungen entreißen zu lassen. Das ist ein schöner Abschiedsgruß dieses großen Gelehrten.
Gibt es unter den eher exotischen Stichwörtern (damit meine ich solche, die zumindest dem Laien gänzlich unbekannt sind, wie „Go“, „Grunduhr“, „Halslösung“, „Mannheiligkeit“) ein Stichwort, das Sie selber nicht kannten, bis es im Herausgeberkreis diskutiert wurde?
Albrecht Cordes: Jede Menge! Ich bin nicht nur Herausgeber und Autor, sondern auch fleißiger Leser des HRG. Ich nehme einmal das Beispiel „Rangfahrt, Reihefahrt“, das ich nicht kannte, bis ich den Artikel selbst übernommen habe. Es handelt sich übrigens einfach um das Verfahren am Taxistand, dass der Fahrgast in das ganz vorn in der Reihe stehende Auto einsteigt.
Wie finden Sie eigentlich immer den passenden Autor/die passende Autorin für die HRG-Stichwörter? Und werden Sie als Vorsitzender des Deutschen Studienzentrums in Venedig das Stichwort „Venedig“ übernehmen?
Albrecht Cordes: Die Suche nach der/dem richtigen Autor*in ist unsere schwierigste Aufgabe. Etwas leichter wurde es, als wir die „üblichen Verdächtigen“ für die jeweiligen Teilbereiche allmählich kennenlernten. Sehr wichtig sind auch die Selbstbewerbungen von potentiellen Autor*innen, vor allem von solchen, deren einschlägige Publikationen noch in Vorbereitung oder im Druck und uns deshalb noch unbekannt sind. So gelingt uns auch eine Zusammenarbeit über die Generationen hinweg. (Für Venedig gibt es viel bessere Experten als mich, aber wer ein spannendes Thema mit Venedigbezug erforscht und dafür ein Stipendium benötigt, möge sich gern bei mir melden.)
Und zu guter Letzt noch diese Frage: Uns ist zu Ohren gekommen, dass Sie die einzelnen HRG-Bände nach den Austragungsorten der Olympischen Sommerspiele benennen. Wie kam es zu diesen ungewöhnlichen „Spitznamen“? Und trägt der aktuelle Band IV den Namen „Paris“ oder „Tokio-Paris“?
Albrecht Cordes: Schon vor 2004, als die erste Lieferung erschien, hatte Heiner Lück sicher vier Jahre lang alle Rezensionen der 1. Auflage in einer Datei mit über 100 Seiten und über 1000 Fußnoten ausgewertet. Er ist also eigentlich der erste Olympionike der Neuauflage des HRG.
Tokio 2020/21 war ohne Zuschauer ja eine traurige Veranstaltung – wie ein Lexikon ohne Leser. Und auch das HRG war in der Zeit ins Stolpern geraten. Also nenne ich Band IV lieber Paris 2024, und wir freuen uns auf Los Angeles 2028 und Brisbane 2032.
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Wir danken Ihnen für dieses aufschlussreiche Interview, lieber Herr Cordes.
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