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Beschäftigen sich mit dem „abenteuerhaften“ Erzählen: Franziska Wenzel und Michael Schwarzbach-Dobson (Fotos: Privat)
Nachgefragt bei Dr. Michael Schwarzbach-Dobson und Prof. Dr. Franziska Wenzel

„Das Suchen ist ein Zustand des Mangels, der Fund einer der Erfüllung“

ESV-Redaktion Philologie
08.03.2022
Erzählungen von Abenteuern besitzen für Leserinnen und Leser eine ungebrochene Faszination. Nicht nur in der literarischen Moderne begegnen wir zahlreichen Abenteuergeschichten, sondern schon in der Antike und im Mittelalter gibt es berühmte Texte, die sich diesem Sujet widmen.
Im mittelalterlichen Artusroman „Iwein“ von Hartmann von Aue findet sich der berühmte Satz: „Âventiure? waz ist daz?“. In Anlehnung daran fragen wir bei den beiden Herausgebenden unseres neu erschienenen Sammelbands zur Aventiure. Ereignis und Erzählung, Frau Prof. Wenzel und Herrn Dr. Schwarzbach-Dobson, nach:
Ein neuer Sammelband zur „Aventiure“ – wovon handelt er? Von abenteuerlichen Erlebnissen, in denen Helden auf Zwerge, Riesen, Drachen oder Zauberer treffen und verschiedene Prüfungen bestehen müssen – oder doch von anderem?


Michael Schwarzbach-Dobson: Im Mittelpunkt unseres Bandes steht weniger der Inhalt von Aventiuren oder Abenteuern, vielmehr interessiert uns die Frage, wie eigentlich von diesen Aventiuren erzählt wird. Die Aventiure ist ja eine speziell mittelalterliche Erfindung: Einerseits kommt das Wort ‚Aventiure‘, aus dem sich unser heutiges Abenteuer ableitet, erstmals im mittelalterlichen Altfranzösisch auf und wird von da ins Mittelhochdeutsche übernommen. Aber auch die damit verbundene Erzählform, das Aufbrechen ins Unbekannte, ins Wagnis, das ja heute noch das Abenteuer ausmacht, artikuliert sich hier erstmals. Natürlich gibt es auch schon in der Antike ein ‚abenteuerhaftes‘ Erzählen, dieses scheint aber noch andere Voraussetzungen zu haben: das Abenteuer der Heimkehr in der „Odyssee“ oder Abenteuer, welche die Wiedervereinigung von Liebespaaren verhindern, wie in etlichen antiken griechischen Romanen. Dass aber ein Protagonist sich dem Unbekannten aussetzt, gewissermaßen in den offenen Raum hinein reitet, ohne ein klares Ziel zu haben, ist erst ein Kennzeichen der Höfischen Romane des Mittelalters, das sich bis zu den Western der Moderne und darüber hinaus verfolgen lässt.

Wie man von diesem Aufbruch und dieser Reise erzählt, und inwiefern hier das gefährliche Ereignis die Erzählung selbst bestimmt, haben wir in den Mittelpunkt unseres Bandes gestellt. Schon das mittelhochdeutsche Wort âventiure hat eine große semantische Bandbreite: Man kann es je nach Kontext als ‚Ereignis‘, aber auch als ‚Erzählung‘ übersetzen. Bereits im Wort selbst sind also Ereignis und Erzählung eng verbunden, und dieses Prinzip spiegelt sich oftmals in der Struktur der Höfischen Romane: Ohne gefährliches Ereignis gibt es keine Aventiure-Erzählung, aber umgekehrt kann auch kein Ereignis existieren, ohne dass davon in einer Aventiure erzählt wird. Die im Band versammelten Beiträge analysieren dieses wechselseitige Verhältnis von Ereignis und Erzählung an ganz unterschiedlichen Beispielen, an Romanen des Hoch- und Spätmittelalters, an antiken und auch an modernen Texten. Gleichzeitig stehen immer wieder erzähltheoretische Fragen im Fokus, wie Fragen nach der Verbindung von Aventiure und Jagd, oder – für uns ganz zentral – dem Zusammenhang von Aventiure und einem Erzählmuster des Suchens und Findens.

Zentrale Kategorien in Ihrem Buch lassen sich also unter dem Erzählmuster des Suchens und Findens zusammenfassen. Sie schreiben, dass dieses Narrativ schon vor den Artusromanen Chrétiens und Hartmanns von Aue bedeutsam war. Können Sie uns dazu Näheres erläutern?

Michael Schwarzbach-Dobson: Suchen und Finden ist ja erstmal etwas ganz Alltägliches, was wir alle beständig tun, auf verschiedenen Ebenen: Wir können unseren Schlüsselbund suchen, aber auch Zufriedenheit im Leben. Das Suchen ist also ein Zustand des Mangels, der Fund einer der Erfüllung. Dieses Prinzip scheint nun auch viele Erzählungen zu prägen: In der Kriminalgeschichte wird der Mörder gesucht, in Liebesromanen – auch in denen der Antike – ist es die Liebe, die gesucht wird oder auf dem Prüfstand steht. In den Artusromanen verkompliziert sich dieses Prinzip, da das Ziel der Suche nicht in einem bestimmten Gegenstand liegt, sondern in einem gesellschaftlichen Wert wie der Anerkennung, mittelhochdeutsch êre.

Um ein Beispiel zu nennen: Der Ritter Erec im ersten deutschen Artusroman Hartmanns von Aue verliert sein Ansehen am Hof und bricht daraufhin ins Offene auf. Er sucht gewissermaßen das Abenteuer selbst, um sich dadurch zu beweisen. Das ist eine andere Suche als die nach einer bestimmten Person oder einem bestimmten Ort, denn der Zufall gewinnt so eine viel größere Rolle. Es ist völlig offen, was dem Ritter auf seinem Weg begegnet, ob er überhaupt eine Aventiure findet bzw. wie diese dann aussieht. Gleichzeitig hat der Artusroman in der Regel ein ‚happy end‘, so dass der Zufall für den Protagonisten in der Geschichte bedrohlich wirkt, nicht aber für die Rezipient:innen des Textes. Spannend ist dann die Frage, wie der Fund bewertet wird. Auch das ist ja eine für uns alltägliche Erfahrung: Wenn wir etwas suchen und schließlich finden, ist dieser Fund dann Resultat unseres fleißigen Suchens oder haben wir einfach ‚Glück gehabt‘? Analog dazu lässt sich fragen: Wenn der Artusritter am Ende die gesuchten Aventiuren findet, wenn er sie besteht und damit das gewünschte Ansehen erlangt, ist dieser Erfolg dann ein Ergebnis seiner Taten, Belohnung einer höheren Instanz oder beides zusammen?

Die mediävistische Forschung zur Aventiure ist reichhaltig. Mit welchen Texten beschäftigen sich die Beiträge des Bandes im Einzelnen und was ist das Neue an ihnen?

Michael Schwarzbach-Dobson: Wir haben im Band ein doppeltes Anliegen: Zum einen geht es darum, die bereits vielfach erforschten Artusromane des Hochmittelalters unter den gerade skizzierten erzähltheoretischen Perspektiven noch einmal neu im Hinblick auf die Doppelbedeutung von Aventiure als Ereignis und Erzählung sowie die Relation von Suchen und Finden zu untersuchen. Dazu gehört der genaue Blick auf die Relation von Ereignis und Erzählung, auf die Handlungsmotivierungen, auf die Modi der Bedeutungsbildung, aber auch der Vergleich mit französischen Artusromanen – hier gibt es noch etliche Desiderate.
Zum anderen geht es um eine diachrone Perspektive und eine interdisziplinäre Erweiterung der Fragestellung: Insofern reichen die Beiträge von Ereignis und Ereignishaftigkeit über die Suche nach Aventiure, die Jagd, die Emotionalisierung des Ereignisses bis zur voreilig gewährten Bitte und der dadurch motivierten Aventiure. Sie reichen von den Artusromanen Hartmanns von Aue bis hin zu spätmittelalterlichen Romanen wie denjenigen des Pleier oder der sog. Unsinnsdichtung des Spätmittelalters, in der die Aventiure als Kunstform wieder auftaucht. Diese fachliche Perspektive erfährt darüber hinaus eine Bereicherung durch Beiträge sowohl zum antiken Liebes- und Abenteuerroman, in dem die Liebenden im Abenteuer geprüft werden, als auch zum Abenteuer in der Moderne, das die Frage nach einem individuellen Lebenssinn verstärkt in den Fokus rückt.

Auszug aus: „Aventiure. Ereignis und Erzählung“ 03.03.2022
Die Jagd als Auslöser von Aventiure
Die Bewährungsprobe des höfischen Ritters in einer fremden und feindlichen Welt zählt zum wesentlichen Merkmal des mittelalterlichen höfischen Romans. Ein zentraler Begriff dieser Artusromane ist die „Âventiure“. Die Erzählstruktur ist immer ähnlich: Ein Ritter hat eine gesellschaftliche Verfehlung begangen, zieht aus „ûf âventiure“ und begibt sich damit auf die Suche nach einer unbekannten Herausforderung. Indem er das Abenteuer bewältigt, erringt der Held soziale Anerkennung und Ruhm am Artushof zurück. mehr …

Die Bandbreite der einzelnen Beiträge ist ausgesprochen eindrucksvoll. Wie konventionell dargestellt sind die Zusammenhänge von Ereignis und Erzählung in den einzelnen behandelten Texten einerseits und wie viel Spielraum lassen sie andererseits in der Erzählstruktur?

Franziska Wenzel: Nun, konventionelles Erzählen bedeutet nicht, dass die immer gleichen Inhalte auf die immer gleiche Weise dargestellt werden. Dem Konventionellen eignet in der Vormoderne eine eigene Form des Dynamischen, das zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Aventiure-Romane selbst, die in ihrer Ausformung des Zusammenspiels von Ereignis und Erzählung jeweils ganz eigene Wege gehen. Wenn man den mittelalterlichen Aventiure-Erzählungen über das Erzählmodell des sogenannten Doppelwegs ein besonders hohes Maß an strukturellem Gleichmaß attestieren würde, gelänge das nur zum Preis von Verallgemeinerung und Generalisierung.
Einer solchen zu kurz greifenden Form der Universalitätsbehauptung arbeiten einige der Beiträge des Bandes entgegen, wenn sie das am Ereignis und der Ereignishaftigkeit des Handelns orientierte Aventiure-Erzählen konturieren. Der Ausgangspunkt dieser Beiträge ist also kein festes Erzählmodell, keine wiederaufgreifbare fixe Struktur, vielmehr richtet sich das Interesse auf die Suchbewegung der Figuren, die Motivierung des Handelns, die Art der Bedeutungsstiftung und damit letztlich auch auf das Erzählen vom Ereignis. Die Frage, was überhaupt ein Ereignis in der Aventiure ausmacht, und wie das Erzählen davon gestaltet wird, lässt sich für jeden Text neu beantworten.

Zu guter Letzt: Aventiure-Erzählungen sind auch in der modernen Literatur, vor allem aber auch in Filmen wie „Herr der Ringe“ oder „Game of Thrones“, sehr beliebt, wenngleich unter anderen Vorzeichen oder in anderen Ausgestaltungen. Warum ist das Erzählen von Abenteuern auch heute noch so ungebrochen attraktiv?
 
Franziska Wenzel: In der Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten erlebt der Abenteurer das Menschsein so intensiv wie in keiner anderen Lebenssituation. In einer solchen Ausnahmesituation riskiert er das eigene Leben, sei es, um dem Sinn des Lebens näher zu kommen, oder sei es, um Ansehen und soziale Position in der Gesellschaft zu beweisen. Dass die Attraktivität des Erzählens vom Abenteuer ungebrochen ist, liegt nicht nur am Mittelalterrevival; im Kern sind es die sich im Abenteuer spiegelnde fundamentale Suchbewegung des Einzelnen, die Frage nach dem Sinn des eigenen Tuns und die Unruhe als Seinserfahrung unserer heutigen Gesellschaft, aus der sich die Faszination auch jüngerer Abenteuererzählungen speist. Die Sehnsucht nach dem Fremden und Fernen (Bilbo Beutlin) und die Herausforderung der unerfüllbaren Aufgabe (Frodo Beutlin) repräsentieren m. E. das zwischen Verheißung und Notwendigkeit eingespannte Daseinsgefühl unserer Zeit.
Die Umsetzung im Film birgt darüber hinaus mit visuellem und akustischem Unmittelbarkeitserleben eine sinnliche Form der Teilhabe, die über das gezeigte spektakuläre Ereignis des Abenteuers einer immersiv erzeugten eigenen Erfahrung recht nahe kommt, so dass die Attraktivität eine zweifache ist: Das virtuelle Eintauchen ins Abenteuertum als beständiges In-Bewegung-Bleiben ist gleichermaßen anziehend wie die von den Zwängen des Alltags entlastete Teilhabe am Außergewöhnlichen.

Lieber Herr Schwarzbach-Dobson, liebe Frau Wenzel: Herzlichen Dank für dieses spannende Interview!

Die Herausgeberin und der Herausgeber
Michael Schwarzbach-Dobson hat Germanistik und Geschichte in Cambridge, Göttingen und Wien studiert. 2018 promovierte er zu mittelalterlichen Kurzerzählungen. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln und habilitiert dort zur Aventiure in mittelhochdeutschen Romanen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Rhetorik, die Historische Semantik und kulturhistorische Fragestellungen.
Franziska Wenzel ist Professorin für Ältere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie promovierte zu einem kommunikations- und mediengeschichtlichen Thema in der höfischen Epik und habilitierte sich zu (Ton-)Autorschafts- und Meisterschaftsformen hoch- und spätmittelalterlicher Textgefüge. Neben Textualität und Überlieferungsgeschichte zählen Fragen der Praxeologie und Narratologie zu ihren Forschungsinteressen.

Aventiure. Ereignis und Erzählung
Herausgegeben von: Dr. Michael Schwarzbach-Dobson, Prof. Dr. Franziska Wenzel

Im Zuge der gegenwärtigen Konjunktur narratologischer Untersuchungen steht immer wieder das Verhältnis von Ereignis und Erzählung im Fokus der Forschung. Für die Literatur des Mittelalters kann diese Relation besonders markant am Erzählkonzept der Aventiure aufgezeigt werden. Nicht nur lässt sich das mittelhochdeutsche Wort ‚âventiure‘ sowohl als Ereignis wie als Erzählung übersetzen, auch das Erzählen von ebendieser Aventiure konfiguriert in vielen mittelalterlichen Texten eine besondere narrative Dynamik: ein Schema aus Suchen und Finden von Anerkennung, Liebe und Herrschaft, innerhalb dessen der Protagonist soziale wie kulturelle Schwellen überschreitet.
Damit öffnet sich ein weiter Horizont erzähltheoretischer wie kulturgeschichtlicher Fragestellungen, der von den Beiträgen des Tagungsbandes in unterschiedlicher Perspektivierung aufgegriffen wird. Gezeigt wird dabei, wie das Aventiure-Erzählen kulturelle Konstellationen und narrative Verfahren im Kontext von Jagd, Suche, Recht und religiösem Diskurs reguliert. Gleichzeitig wird der Blick auf diejenigen sprachlichen Verfahren gelenkt, die in der und durch die Aventiure Möglichkeiten der narrativen Sinnbildung einnehmen.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik