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Gefahr Rückwärtsfahren (Foto: Goss Vitalij - Fotolia)
Arbeitsschutzrecht

Der "Blindflug" bei der Biomüllentsorgung

Thomas Wilrich
09.02.2017
In diesem Praxisfall erörtert Prof. Thomas Wilrich die (straf-)rechtlichen Konsequenzen der fahrlässigen Tötung eines Menschen durch einen rückwärtsfahrenden Müllwerker.
Das Amtsgericht (AG) Wuppertal hatte im August 2015 über folgenden Fall zu entscheiden:

Sachverhalt

Ein 71-jähriger Mann befand sich am 2.2.2015 um ca. 8:45 Uhr mit einer Schneefräse arbeitend auf einem Gehweg einer Sackgasse ohne Wendemöglichkeit in Wuppertal-Vohwinkel. Plötzlich begab er sich auf die Fahrbahn – und er wird in diesem Augenblick tödlich erfasst von einem rückwärtsfahrenden Müllfahrzeug, das Biomüll abholte.

Das Fahrzeug hatte ein 57-jähriger Müllwagenfahrer gesteuert. Er hatte den mit der Schneefräse arbeitenden Mann auch wahrgenommen – aber nur auf dem Gehweg. Die am Heck montierte Kamera, die Rundumbeleuchtung, das Warnblinklicht, zwei Arbeitsleuchten sowie der Signalton waren eingeschaltet. „Die Kamera dient der Überwachung der Arbeitsvorgänge bei der Abfallentsorgung. Der durch die Kamera einsehbare Bereich hinter dem Fahrzeug ist nur sehr eingegrenzt.“ [1]

Der Müllwagenfahrer wurde von einem Lader begleitet, der bei Bedarf einweist. Das Abfallentsorgungsunternehmen führte als Arbeitgeber einmal jährlich für Fahrer und Lader ca. eineinhalb-stündige „Sicherheitsbelehrungen“ [2] durch.

„Dabei wird auch das Verhalten bei Rückwärtsfahrten thematisiert. Danach ist für den Fall, dass nur ein einzelner Einweiser zur Verfügung steht, vom Fahrer zu entscheiden, wo dieser zu positionieren ist.“ Bei der Einfahrt in die Sackgasse ging der Lader auf Anweisung des Fahrers vor das Müllfahrzeug, um darauf zu achten, dass keine parkenden Fahrzeuge beschädigt werden. 

Das AG Wuppertal sagte im Urteil noch, der Angeklagte arbeitet nach wie vor als Müllwagenfahrer und „hat seitens seines Arbeitgebers auch keinerlei Konsequenzen zu fürchten“ – er „befand sich nach der Tat vier Wochen in psychotherapeutischer Behandlung. Er hat sich im Hauptverhandlungstermin bei der Witwe entschuldigt."

Auszug Strafgesetzbuch (StGB): 

§ 222 Fahrlässige Tötung: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ 

Auszug Straßenverkehrsordnung (StVO):

§ 9 Abs. 5: „Wer ein Fahrzeug führt, muss sich beim Abbiegen in ein Grundstück, beim Wenden und beim Rückwärtsfahren ... so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss man sich einweisen lassen.“

Auszug Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG): 

§ 3 Grundpflichten des Arbeitgebers

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.

(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten

1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie

2. Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können. 

Urteil

Das AG Wuppertal urteilt, „der Angeklagte hat sich der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB schuldig gemacht“. Voraussetzung einer strafrechtlichen Verurteilung ist
▶ eine den Tod verursachende Pflichtverletzung des Fahrers (dazu 1.) und
▶ Verschulden des Fahrers – also seine Fahrlässigkeit (dazu 2.).

1. Pflichtverletzung

Das Gericht sagt, der Angeklagte „hat durch sein Verhalten die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen“ – mehr nicht. Das AG Berlin-Tiergarten war im Urteil aus Mai 2013 etwas ausführlicher und erwähnte auch die einschlägigen Rechtsvorschriften der Straßenverkehrsordnung (StVO) [3] – und es hätten auch Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsrecht herangezogen werden können (siehe Kästchen). Aber Gerichte stellen in klaren Fällen zuweilen „nur“ auf die Verkehrssicherheitspflicht ab. Das reicht hier ja auch: Jeder muss immer alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um Schäden zu vermeiden. Hier wird das Gericht erst bei der Schuld detaillierter:

2. Verschulden = Fahrlässigkeit

Die entscheidenden Prüfungen bei der Fahrlässigkeit sind die Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit: Bestraft wird nur, wer den Schaden (Juristen sagen: den „Kausalverlauf“) voraussehen und wer zumutbare Abwehrmaßnahmen ergreifen konnte. Das AG Wuppertal sagt, „dem Angeklagten war bei der Rückwärtsfahrt bekannt, dass ein ganz erheblicher Bereich hinter seinem Fahrzeug nicht einsehbar ist. Er ließ die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht, indem er den Kollegen nicht so positionierte, dass dieser den nicht einsehbaren Bereich hätte abdecken können.“

Und noch einmal: „Es war für ihn erkennbar und vorhersehbar, dass sich Personen auf der Fahrbahn im uneinsehbaren Bereich aufhalten. Insoweit ist grundsätzlich mit derart beeinträchtigten Verkehrsteilnehmern zu rechnen, welche auch das Müllfahrzeug nicht wahrnehmen. Dies können beispielsweise Kinder oder behinderte Personen sein oder wie vorliegend durch Arbeitsgeräusche beeinträchtigte Personen, welche eine andere Blickrichtung haben. Mit der Teilnahme derartiger Personen am Straßenverkehr ist stets zu rechnen. Das Geschehen wäre für den Angeklagten auch leicht vermeidbar gewesen. Er hätte lediglich seinen Kollegen anweisen müssen, sich so hinter dem Fahrzeug zu positionieren, dass er den für den Angeklagten nicht einsehbaren Bereich einsehen kann. Der Kollege hätte dann den Angeklagten sowie den Geschädigten rechtzeitig warnen können.“

Die Vorsitzende Richterin sagte noch: „Es wäre wünschenswert gewesen, wenn damals drei Leute auf dem Wagen gearbeitet hätten, wie das inzwischen ja auch der Fall sein soll.“ [4]

3. Strafzumessung

Der Strafrahmen des § 222 StGB ist Geldstrafe bis Freiheitsstrafe von 5 Jahren. § 46 StGB enthält „Grundsätze der Strafzumessung“: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab“. Dabei „kommen namentlich in Betracht“
▶ „das Maß der Pflichtwidrigkeit“ und
▶ „die verschuldeten Auswirkungen der Tat“ sowie
▶ „sein Verhalten nach der Tat“.

Strafmildernd zugunsten des Verurteilten war nach Ansicht des Gerichts zu berücksichtigen

▶ „dass auch der Angeklagte durch seine Tat psychisch belastet ist“,
▶ „seine im vollen Umfang geständige Einlassung“,
▶ „dass er bisher strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist“ und
▶ „dass ihm seitens des Arbeitgebers lediglich ein einzelner Einweiser und nicht wie sonst auf anderen Müllfahrzeugen üblich zwei Einweiser zur Verfügung standen“.

Strafschärfend war dagegen,

▶ „dass es eine besonders grobe Fahrlässigkeit darstellt, quasi im ‚Blindflug‘ ein derartiges Fahrzeug zu bewegen“,
▶ „dass dem Angeklagten leicht einzusetzende Mittel zur Verfügung standen, um den Unfall zu vermeiden“ und
▶ dass es zu „erheblichen Folgen für die Witwe“ kam.

„Aufgrund der groben Fahrlässigkeit kam nur die Verhängung einer Freiheitsstrafe in Betracht. Diese ist mit 1 Jahr und 6 Monaten tat- und schuldangemessen. Die Vollstreckung dieser Strafe konnte ohne Weiteres zur Bewährung ausgesetzt werden. Der Angeklagte ging bisher straflos durchs Leben und scheint durch das Verfahren so hinreichend beeindruckt, dass mit weiteren Taten nicht zu rechnen ist“

Das Amtsgericht fasste noch einen Bewährungsbeschluss [5]: Der Verurteilte muss der Witwe als Auflage über drei Jahre monatlich 100 Euro zahlen, „um in Freiheit bleiben zu können“; die Frau erklärte nach der Urteilsverkündung: „Ich will das Geld nicht.“ [6]

4. Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsrecht

Die DGUV Regel 114-012 (früher GUV-R 238-1) „Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Tätigkeiten der Abfallwirtschaft – Teil 1: Sammlung und Transport von Abfall“ aus Januar 2007 sagt in Nr. 3.2.5 über „Rückwärtsfahren“: „Die Sammelfahrt ist so zu planen, dass ein Rückwärtsfahren nicht erforderlich ist [vgl. § 3 Abs. 2 ArbSchG [7]]. Dies erfordert, dass der Unternehmer im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung Sackgassen, Zufahrten, Bereitstellungsplätze und Arbeitsabläufe daraufhin prüft, ob die Versicherten Abfälle gefahrlos abholen können. Dies ist bei Sackgassen der Fall, wenn an deren Ende eine Wendemöglichkeit für das Abfallsammelfahrzeug besteht“. 

Auszug DGUV-Regel 114-601 (früher DGUV Regel 114-012/GUV-R 238-1)
Branche Abfallwirtschaft Teil I: Abfallsammlung
3.8 Rückwärtsfahren und Rangieren des Abfallsammelfahrzeuges (Auszug)

Das Rückwärtsfahren und das Zurücksetzen stellen so gefährliche Verkehrsvorgänge dar, dass sie nach Möglichkeit zu vermeiden sind.

Beim Rückwärtsfahren muss ausgeschlossen werden, dass andere Personen gefährdet werden. Kann das nicht ausgeschlossen werden, muss sich die Fahrerin bzw. der Fahrer einweisen lassen. 

Sofern eine Gefährdung von Personen durch technische Maßnahmen, z. B. Fahrerassistenzsysteme, ausgeschlossen werden kann, kann auf einen Einweiser verzichtet werden. Zur Zeit gilt als anerkannte Regel der Technik, dass ein Einweiser eingesetzt wird, wenn die Gefährdung von Personen/Verkehrsteilnehmern nicht ausgeschlossen wird. 

[Siehe auch: Zwei neue Branchenregeln zur Abfallwirtschaft veröffentlicht.]


Anmerkungen

[1] Zu einem Fall, in dem eine Kamera nicht montiert war, siehe die Urteilsbesprechung von Thomas Wilrich, Der Baggerunfall am Bahnhof Kochel – Strafrechtliche Verantwortung eines Baggerfahrers für Unfall beim Rückwärtsfahren – Warum jeder Arbeitnehmer auf Fremdfirmenmanagement pochen sollte“, in BPUVZ Heft 9 aus 2014.

[2] Zu Unterweisungen gemäß BetrSichV siehe Thomas Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2015, Kapitel 8, S. 159 ff.

[3] Siehe die Urteilsbesprechung von Thomas Wilrich: „Die ungesicherte Rückwärtsfahrt des Müllwerkers – Fahrlässige Tötung durch rückwärtsfahrenden Müllwerker, Überwachungsverschulden des Arbeitgebers und Eigenverantwortung des musikhörenden Fußgängers“, in: BPUVZ Heft 7/8 aus 2015.

[4] Wuppertaler Rundschau 5. August 2015: http://www.wuppertaler-rundschau.de/lokales/witwe-ich-will-das-geld-nicht-aid-1.5289580.

[5] § 268a Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) lautet: „Wird in dem Urteil die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ..., so trifft das Gericht die in den §§ 56a bis 56d und 59a des Strafgesetzbuches bezeichneten Entscheidungen durch Beschluss; dieser ist mit dem Urteil zu verkünden“. § 56b Strafgesetzbuch (StGB) lautet: „Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Das Gericht kann dem Verurteilten auferlegen nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen ...“

[6] Wuppertaler Rundschau 5. August 2015: http://www.wuppertaler-rundschau.de/lokales/witwe-ich-will-das-geld-nicht-aid-1.5289580.

[7] Zu Gefährdungsbeurteilungen gemäß BetrSichV siehe Thomas Wilrich, Praxisleitfaden Betriebssicherheitsverordnung, 2015, Kapitel 5, S. 109ff.
 

Der Autor
Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Wilrich ist tätig rund um die Themen Produktsicherheit, Produkt- und Führungskräftehaftung und Arbeitsschutz einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik- und Unternehmensorganisationsrecht und Fachbuchautor zur Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), zum Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) sowie Arbeitsschutzmanagement und Unfallversicherungsrecht.


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Sicherheitsverantwortung
Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung - mit 25 erläuterten Gerichtsurteilen

Jede Führungskraft muss den eigenen Bereich sicherheitsgerecht organisieren – vom Geschäftsführer des ganzen Unternehmens über den Abteilungs- und Projektleiter bis zum Vorarbeiter auf der Baustelle.

Im Recht gibt es viele spezielle Sicherheitsvorschriften. Immer gilt aber auch die Verkehrssicherungspflicht – nämlich in jeder Situation alles (technisch) Mögliche und (wirtschaftlich) Zumutbare zu tun, um andere nicht zu schädigen. Wie weit diese Sicherheitspflicht geht, hängt von den – zuweilen nicht leicht erkennbaren – tatsächlichen Umständen des Einzelfalles und von – zuweilen schwierigen – Wertungen ab. Das ist der Hintergrund dafür, dass Fragen zum Umfang der Verantwortung im Vorhinein nicht abschließend und eindeutig beantwortet werden können. Erst wenn es um die Haftung in einem konkreten Fall geht, wird die Frage der Verantwortung – in diesem einen Fall – beantwortet.
Das Arbeitsschutzrecht verlangt kein Nullrisiko, sondern dass Gefährdungen nach dem Stand der Technik und unter verantwortungsvoller Abwägung der Sicherheitsinteressen und – vorsichtiger – Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit so gering wie möglich sind. Es geht also nicht um die Gewährleistung absoluter, sondern ausreichender Sicherheit. Was ausreicht, ist eine schwierige Wertungsfrage und verantwortungsvolle Entscheidung.

Empfehlung:
Der erste Schritt zum – unvermeidlichen – Umgang mit der Unsicherheit, wieviel Sicherheit von einem Mitarbeiter oder einer Führungskraft in einer bestimmten Situation erwartet wird, ist das Verständnis und die Akzeptanz, dass der Gesetzgeber dies für ihn nicht in jedem Fall eindeutig festlegen kann: das muss man schon selbst tun. Je weniger Gewissheit es gibt, desto wichtiger wird die Person und ihre Entscheidung.

Programmbereich: Arbeitsschutz