
„Der Glaube an die gesellschaftsverändernde Kraft des Theaters blieb bestehen“
Cerstin Bauer-Funke: Der Band versammelt 29 Einzeldarstellungen von Dramen, die zwischen 1927 und 2020 entstanden sind. Somit kann die Leserschaft die überaus interessante und spannende Entwicklung des spanischen Theaters über die letzten 100 Jahre hinweg verfolgen. Thematisch verbindet alle untersuchten Dramen, dass sie in ihrer Eigenschaft als literarische Kunstwerke auf ästhetisch sehr unterschiedliche Weise auf gesellschaftliche Konflikte und Probleme Spaniens reagieren. Diese Entwicklung begann ab den 1920er Jahren mit Valle-Incláns Esperpentos und ab den 1930er Jahren mit García Lorcas surrealistischem Stück El público. Die Autorinnen und Autoren, die während der Franco-Diktatur schrieben, haben sich kritisch mit der Zensur und den patriarchalischen Strukturen befasst, wofür sie eine adäquate Dramenästhetik erproben mussten. Gegen Ende der Diktatur und seitdem ist das spanische Theater weitaus experimenteller und ästhetisch diverser geworden, doch der Glaube an die gesellschaftsverändernde Kraft des Theaters blieb bestehen und gilt bei allen im Band vorgestellten Dramatikerinnen und Dramatikern bis heute.
Nach welchen Kriterien haben Sie die hier versammelten Dramatiker und Dramatikerinnen ausgewählt?
Cerstin Bauer-Funke: Sie alle haben das spanische Theater maßgeblich geprägt, sei es thematisch, sei es formalästhetisch. Und sie alle haben in der Zeit, in der sie lebten, und auch darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung der freien Rede in Spanien geleistet. Sie haben Konflikte und Probleme auf die Bühne gebracht und ihre Leserschaft und das Theaterpublikum zum Nachdenken gebracht. Allen hier versammelten Autorinnen und Autoren geht es darum, ein kritisches Bewusstsein zu schaffen und – im Idealfall – zum politischen und sozialen Engagement aufzurufen. Die Auswahl der 29 Stücke orientierte sich an deren herausragender Bedeutung für das spanische Theater.
Die Stücke zeichnen auch die Geschichte Spaniens nach – welches Ereignis ist neben dem Spanischen Bürgerkrieg einschneidend gewesen, das sich in der Theaterproduktion niedergeschlagen hat?
Cerstin Bauer-Funke: Auch die gesamte Franco-Diktatur vom Ende des Bürgerkriegs im Jahre 1939 bis zu Francos Tod 1975 war eine Phase, welche die künstlerische Produktion maßgeblich geprägt hat. Das regimekritische und antifranquistische Theater wurde von vielen wichtigen Autorinnen und Autoren geprägt, die deshalb auch im Band Teatro español de los siglos XX y XXI behandelt werden: Antonio Buero Vallejo, Julia Maura, Alfonso Sastre, José María Rodríguez Méndez, Francisco Nieva sowie Carmen Resino und Jerónimo López Mozo sind zu nennen. Sie alle wollten sich von der Diktatur nicht mundtot machen lassen und haben gegen die franquistische Zensur des Theaters angeschrieben. Einschneidende Ereignisse sind auch der 500. Jahrestag der Entdeckung und Eroberung des amerikanischen Kontinents sowie die islamistischen Terroranschläge von Madrid im Jahre 2004, die im Theater sehr kritisch aufgearbeitet wurden. In der Coronapandemie sind nun zahlreiche Stücke entstanden, die das Eingeschlossensein, Einsamkeit, Isolation, Krankheit und Tod sowie die Schließung der Theater thematisieren.
Auszug aus: „Teatro español de los siglos XX y XXI“ | 25.08.2021 |
La crítica a las estructuras sociales patriarcales en el teatro español actual | |
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Mit „Teatro español de los siglos XX y XXI“ erscheint im Erich Schmidt Verlag eine Sammlung von 29 Beiträgen in spanischer Sprache, welche einen Überblick über die überaus vielfältige Dramen- und Theaterproduktion in Spanien im 20. und 21. Jahrhundert gibt. Der Band unterstreicht die große Bedeutung von Drama und Theater in der Didaktik an Hochschule und Schule – ein Bereich, der in der Lehre in den letzten Jahren deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Er eignet sich seminarbegleitend sowie als Prüfungsvorbereitung. mehr … |
Die besprochenen Dramen sind chronologisch geordnet und hören mit Transformación von Paloma Pedrero erfreulicherweise im Jetzt und Heute auf: Das Drama wurde (trotz Corona) 2020 uraufgeführt – was erwartet uns in der Zukunft im spanischen Theater?
Cerstin Bauer-Funke: Viele spanische Dramatikerinnen und Dramatiker arbeiten weiter an den großen Problemen unserer Zeit: Gewalt gegen Frauen, Genderfragen und Diversität, soziale Ungerechtigkeit und Massenimmigration. Einige Autorinnen und Autoren befassen sich auch mit Umweltthemen. Es werden zudem und weiterhin Themen behandelt, welche die spanische Gesellschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten hart getroffen haben, darunter die islamistischen Terroranschläge in Madrid und der Zusammenbruch des Bankensystems. Die Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur ist ein weiteres Themenfeld, das im Theater ununterbrochen und intensiv verhandelt wird.
Abschließend eine persönliche Frage: Wann waren Sie zuletzt im Theater, und welches Stück haben Sie gesehen? Unsere Leserinnen und Leser freuen sich immer über Empfehlungen.
Cerstin Bauer-Funke: Die Coronapandemie und die Lockdowns haben das Theater als ein direkt und unmittelbar in der Gemeinschaft zu erlebendes Ereignis extrem hart getroffen und monatelang sogar unmöglich gemacht. Daher weiß ich auch noch sehr genau, wann ich direkt vor und während der Pandemie im Theater war: Am 16. Februar 2020, als sich das Coronavirus bereits in Europa manifestierte, habe ich mit meiner Münsteraner Studentengruppe den Menschenfeind von Molière in einer Inszenierung des Deutschen Theaters Berlin in Gütersloh angeschaut. Danach war fast anderthalb Jahre kein Theaterbesuch mehr möglich, so dass ich erstmals und noch während der Pandemie am 6. Juni 2021 mit meiner Studentengruppe bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen den Peer Gynt von und mit Lars Eidinger und John Bock gesehen habe. In den Monaten des Lockdowns hat uns das Düsseldorfer Schauspielhaus per Zoom eine Aufführung des kanadischen Stücks Das Gewicht der Ameisen von David Paquet ermöglicht. Ich kann diese drei Inszenierungen sehr empfehlen.
Wir freuen uns auf den Band, liebe Frau Bauer-Funke, und bedanken uns sehr für das Gespräch!
Die Herausgeberin |
Cerstin Bauer-Funke ist Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Philologie am Romanischen Seminar der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen das Theater des Siglo de Oro sowie die spanische und mexikanische Literatur des 20. und des 21. Jahrhunderts. Seit einigen Jahren bildet das in den USA verfasste kubanische Exiltheater einen weiteren Schwerpunkt ihrer Forschung. Sie hat bereits zahlreiche Studien und Aufsätze zu ihren Forschungsbereichen verfasst. |
Programmbereich: Romanistik