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Im Gespräch über den Mythos: Stephanie Waldow und Eva Forrester (Foto links: Credit: Frauke Wichmann, Foto rechts: Credit: Emanuel Schwarz)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Stephanie Waldow und Dr. Eva Forrester

„Der Mythos befasst sich mit konstanten Grundfragen des menschlichen Lebens“

ESV-Redaktion Philologie
21.04.2023
Die Mythen um Orpheus und Eurydike, um Narziss, Ödipus und Ikarus sind den meisten vertraut.  Doch was haben uns Mythen heutzutage noch zu sagen? Mythen sind nicht überholt und kein Gegenentwurf zur rationalen Weltsicht der Moderne. Mythen füllen den Raum, den Wissenschaft nicht erreichen kann: Durch Kunst, Poesie, Moral wird seit jeher eine kreative Möglichkeit der Welterklärung geschaffen.
Der neu erscheinende Band „Mythos und Mythos-Theorie“ präsentiert eine analytische Übersicht zu verschiedenen Mythos-Theorien. Die beiden Autorinnen Stephanie Waldow und Eva Forrester stellen im Folgenden den Mythos in seinen unterschiedlichen diskursbestimmenden Facetten als Mittel der Erkenntnis vor und sprechen darüber, wie Mythen den Menschen noch heute Antworten auf Grundfragen des menschlichen Lebens geben können.

Liebe Frau Waldow, liebe Frau Forrester, in Ihrer Einführung zeigen Sie, dass der Mythos-Begriff von der Antike an bis zum heutigen Tag eine scheinbar unerschöpfliche Komplexität besitzt. Von welcher Seite nähern Sie sich einem solchen Begriffskoloss?

Stephanie Waldow: Wir mussten für den Band natürlich eine Auswahl treffen, haben aber versucht, möglichst jene Theorien in den Mittelpunkt zu stellen, die nicht nur bis heute diskursbestimmend für den Umgang mit dem Mythos sind, sondern die auch eine möglichst diverse Auswahl an Zugängen zum Mythos bieten. Es war uns wichtig, aufzuzeigen, dass der Mythos sowohl als Welterklärungsmodell aufgerufen wird und damit auch ein anthropologisches Bedürfnis des Menschen nach Weltverankerung ausdrückt als auch zugleich als Einsicht in die Unerklärbarkeit von Welt fungiert. Diese Spannbreite ist scheinbar unüberwindlich, zeigt aber, dass mit dem Mythos eigentlich immer die für den Menschen existenzielle Frage nach dem eigenen Standort in der Welt verbunden ist. Er spiegelt sozusagen das für die jeweilige Zeit eigene Verständnis von Menschsein wider und befasst sich gleichzeitig mit konstanten Grundfragen des menschlichen Lebens. Insofern ist der Band auch ein Versuch, die Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses in Ausschnitten abzubilden.

Die Unerklärbarkeit der Welt erklären – das klingt vielversprechend. Nun leben wir heute aber in einer aufgeklärten Welt, kann Mythos da noch als Welterklärungsmodell und Bewältigungsstrategie fungieren?

Eva Forrester: Die Beschäftigung mit dem Mythos zeigt ja, dass gerade die Vorherrschaft des ‚Logos‘ nicht dazu geführt hat, dass der ‚Mythos‘ verdrängt wird. Im Gegenteil, Blumenbergs Text ‚Arbeit am Mythos‘ ist bis heute hochaktuell, denn je mehr wir auf den rationalen Zugang zur Welt bauen, umso mehr zeigt sich auch die Lücke des Nichtwissens. Mythen bieten einen anders gearteten Zugang zur Erkenntnis als beispielsweise die Wissenschaft: sie drehen sich um menschliche Grundfragen, die sich einem rein rationalen Zugriff entziehen und bildlich oder narrativ umkreist werden können.

Begriffe wie Kunst, Moral, Religion und Poesie wurden vielfach mit dem des Mythos in Verbindung gebracht. Können Sie erklären, wie sie zusammenhängen?

Stephanie Waldow: Es sind Bereiche, in denen sich der Mensch jenseits von rationalem Wissen in der Welt zu verankern versucht. In allen Bereichen spielt die Kreativität eine herausgehobene Rolle beim Zugang zur Welt. Sie spiegeln die jeweilige Verfasstheit des Menschen wider und sprechen Bereiche an, die den Menschen in seinem anthropologischen Bedürfnis nach Welthaltigkeit befriedigen. Mythen ‚durchweben‘ Kunst, Moral, Religion und Poesie von Beginn an, da mythische Geschichten mit ihrer „ikonischen Konstanz“ (so Blumenberg) und gleichzeitiger Variabilität sich ideal dazu eignen, gleichbleibende menschliche Grundfragen für jede Zeit neu zu beantworten und gleichzeitig die bereits tradierten Antworten mitzuführen.

Auszug aus „Mythos und Mythos-Theorie“ 19.04.2023
Wie Menschen Mythen erschaffen, wie Mythen Welt erschaffen
Mythen begegnen, wo Menschen versuchen, ihre Erfahrungswelt greifbar zu machen, wo Menschen ordnen und strukturieren, wo sie ihre Welt erklären – schlichtweg überall. Was aber verbirgt sich hinter diesem bei genauerem Hinsehen doch gar nicht so greifbaren Begriff des ‚Mythos‘? mehr …

Einen Großteil Ihrer Analysen haben Sie dem Orpheus-Mythos und seiner Rezeption gewidmet. Worin besteht dessen anthropologische Bedeutsamkeit und Aktualität?

Eva Forrester: Der Orpheus-Mythos hat, wenn man so will, den Kern des Mythos zum Gegenstand. Es geht um die Frage, welchen Anteil und welche Funktion Literatur und Musik bei der Welterschließung hat. Gerade wenn man davon ausgeht, dass die Kreativität ein wesentlicher Bestandteil des mythischen Denkens ist, ist der Orpheus-Mythos bis heute hochaktuell, wie zahlreiche Bearbeitungen des Mythos in der Gegenwart zeigen. Darüber hinaus können anhand des Orpheus-Mythos Fragen nach der Stellung von Kunst und Literatur in der Gesellschaft diskutiert werden. Auch die Beschäftigung mit zentralen Themen, wie dem Umgang mit dem Tod, mit Geschlechtlichkeit und Liebe oder Machverhältnissen sind Punkte, die anhand des Mythos verhandelt werden. Sie sind bis heute absolut virulent und betreffen ureigenste offene Fragen des Menschseins.

Wie viel Anteil nehmen Mythen an unserer modernen Gesellschaft? Haben sie eine stabilisierende oder destabilisierende Funktion?

Stephanie Waldow: Der Mythos hat bis heute eine hohe Aktualität. Gerade in einer scheinbar aufgeklärten Welt besteht offensichtlich immer noch ein Bedürfnis, jene offen bleibenden Leerstellen mit dem Mythos zu füllen. Es entstehen immer wieder neue Mythen, die nicht selten die Funktion haben, die Identität einer Gruppe zu sichern, die ins kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft eingehen und damit hohe gesellschaftsstabilisierende Funktion haben. Gleichzeitig besteht auch die Gefahr einer Ideologisierung, wie bereits Adorno/Horkheimer oder auch Ernst Cassirer für die Zeit des Nationalsozialismus aufgezeigt haben. Auch die Ikonografie Putins wäre ein Beispiel für die Mythisierung, die zu einer gefährlichen Ideologie geführt hat. Mythen bieten ein geschlossenes Weltbild an, das auch schnell dogmatisch werden kann. Es geht also vielleicht heute mehr denn je vor allem um einen ethischen Umgang mit dem Mythos.

Vielen Dank für dieses interessante Interview, liebe Frau Waldow und liebe Frau Forrester. Und wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser jetzt neugierig auf das Buch geworden sind, können Sie es gern hier bestellen.

Zu den Autorinnen
Stephanie Waldow ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Sie hat über den ‚Mythos der reinen Sprache‘ im Kontext von Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Hans Blumenberg promoviert und beschäftigt sich neben dem Mythos u. a. mit Fragen der Alterität und dem Zusammenhang von Engagement, Theater und Literatur.

Eva Forrester ist Studiengangskoordinatorin des Elitestudiengangs Ethik der Textkulturen an der FAU Erlangen-Nürnberg. Sie hat zum Thema ‚Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann‘ promoviert und setzt sich in weiteren Publikationen mit den Forschungsschwerpunkten Mythos und Rationalität, Musik in der Literatur und der literarischen Beziehung zwischen Thomas Mann und Hermann Hesse auseinander.

Mythos und Mythos-Theorie. Formen und Funktion. Eine Einführung
Von Stephanie Waldow und Eva Forrester

Seit jeher erfinden und überliefern die Menschen Mythen. Sie erzählen sich Geschichten, um Bedrohliches zu bannen, Unverständliches vertraut zu machen, Unerträgliches zu bewältigen oder soziale Normen zu begründen.
Der vorliegende Band bietet einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und widmet sich sowohl dem Mythos als literarischem Phänomen als auch dem philosophischen und ästhetischen Nachdenken über mythische Erzählungen in Form von Mythos-Theorien. Eine Bestimmung des Mythos ist, so die Konzeption des Bandes, nur von seinen Funktionen her zu leisten, die es historisch aufzuschlüsseln gilt und die unter drei Aspekten beleuchtet werden.
Von seiner Begriffs- und Funktionsgeschichte herkommend wird der Mythos erstens als Denkgewohnheit und zweitens als Erzählform vorgestellt. Daran schließt sich drittens seine Rezeptionsgeschichte an, um seinen vielfältigen Konnotationen gerecht werden zu können. Hier steht der Orpheus-Mythos im Mittelpunkt, da an ihm die enge Verbindung von Literatur, Kunst und Mythos nachvollzogen werden kann.
Das Buch richtet sich insbesondere an Studierende der Literaturwissenschaft und bietet eine aktuelle Auseinandersetzung mit philosophischer Mythos-Theorie in knapper und verständlicher Form.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik