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Dr. Anne Köchling (Foto: FH Westküste)
Trends im Tourismus

„Die großen touristischen Anbieter müssen als Vorbild voranschreiten“

Interview mit Dr. Anne Köchling vom Deutschen Institut für Tourismusforschung an der FH Westküste
06.02.2023
Die Tourismusbranche durchläuft einen tiefgreifenden Wandel. Die Folgen der Pandemie erforderten vielfältige Anpassungen. Nachhaltigkeit gewinnt weiter an Bedeutung. Das gilt auch für das Thema Resilienz. Wohin geht die Reise? Die ESV-Redaktion sprach mit Dr. Anne Köchling über Trends und Lerneffekte in der Tourismusbranche.

Sie haben schon viele Jahre sowohl praktische als auch wissenschaftliche Erfahrung in der Tourismusbranche sammeln können. Was gefällt Ihnen besonders daran, sich mit dem Tourismussektor zu beschäftigen?
Dr. Anne Köchling: Das stimmt, ich bin nach einigen Jahren in der Praxis, genauer gesagt im Destinationsmanagement, nun schon seit mehr als zehn Jahren in der Tourismusforschung tätig. Ich finde, dass der Tourismussektor insgesamt ein sehr vielfältiges und spannendes Beschäftigungsfeld bietet, schließlich gehört er hinsichtlich der Beschäftigungswirkung weltweit zu den größten Branchen. Die Bandbreite an Betätigungsfeldern geht vom Reiseveranstalter über Verkehrsträger, Hotellerie und Gastronomie bis zu Destinationsmanagement-Organisationen, um nur einige Beispiele zu nennen. Gleichzeitig trägt wohl kaum eine andere Branche mehr zum interkulturellen Austausch und zur Völkerverständigung bei. Hinzu kommt aus wissenschaftlicher Sicht, dass es sich um eine Querschnittsbranche handelt, in die beispielsweise Perspektiven der Geographie, der Betriebswirtschaftslehre, der Soziologie oder der Psychologie einfließen. Auch diesen fächerübergreifenden Austausch finde ich extrem spannend.

Der Tourismussektor steht immer mehr unter dem Druck, nachhaltiger werden zu müssen. Welche Chancen sehen Sie in der nachhaltigen Transformation für die unterschiedlichen Stakeholder und Destinationen?
Der weltweite Tourismus trägt nach Schätzungen knapp acht Prozent zu den Treibhausgas-Emissionen bei. Hier geht es also meines Erachtens nicht um Chancen, sondern um zwingende Notwendigkeiten für die Sicherung der Zukunft der Branche, die mit Business-as-usual den Ast absägt, auf dem sie sitzt, aber auch darüber hinaus für die nachkommenden Generationen. Letztlich wird eine nachhaltige Transformation im Tourismus nur gelingen, wenn die Verantwortlichen in Tourismuswirtschaft und Politik dies erkennen und auch danach handeln. Dabei müssen wir die verschiedenen Perspektiven der Nachhaltigkeit unterscheiden. Bei der ökologischen Nachhaltigkeit ist der Druck zur Veränderung in Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels inzwischen immens. Hier gilt es, technische Weiterentwicklungen zu fördern und gleichzeitig die Weichen zu stellen, dass der Klimaschutz endlich den Stellenwert bekommt, den er verdient. Aus Sicht der sozialen Nachhaltigkeit geht es vor allem darum, den Tourismus im Einklang mit der Bevölkerung vor Ort zu entwickeln. In Ländern mit geringerer wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Tourismus bedeutet das in erster Linie, die Lebensqualität der Einwohnerinnen und Einwohner bei der Tourismusplanung im Blick zu behalten und Overtourismus-Tendenzen zu verhindern.

Auch die Nachfrage und das Verhalten von Touristen verändern sich. Welchen Trend sehen Sie in absehbarer Zukunft?
Ich beziehe mich jetzt mal nur auf die Nachfrage aus Deutschland: Was die Einstellung zur Nachhaltigkeit bei Urlaubsreisen angeht, zeichnet sich ein positiver Trend ab – das Thema wird den Deutschen bei ihren Urlaubsreisen also immer wichtiger. Allerdings konkurriert das Bewusstsein um die Relevanz der nachhaltigen Gestaltung der Reise mit vielen anderen Bedürfnissen wie Bequemlichkeit oder niedrigen Kosten. Es ist also leider nicht davon auszugehen, dass sich die positive Einstellung in ausreichendem Maße in nachhaltiges Verhalten umwandeln wird. Wir sprechen dabei vom „Attitude-behaviour gap“, also der Lücke zwischen der Einstellung und dem tatsächlichen Verhalten. Auch hier braucht es kluge Lösungen von Wirtschaft und Politik, um die Nachfrage zunehmend in Richtung des nachhaltigen Verhaltens zu stupsen. Was das Nachfragevolumen aus dem deutschen Quellmarkt nun nach der Pandemie angeht, sehen wir, dass einerseits ein großer Freiheitsdrang besteht und die Urlaubslust ungebrochen groß ist, andererseits aber in Anbetracht der hohen Inflation in Teilen der Bevölkerung auch große Unsicherheit herrscht, ob die Urlaubsreise finanzierbar sein wird. Entsprechend ist bei Teilen der Bevölkerung mit einer höheren Preissensibilität zu rechnen, die dazu führen kann, dass das Thema Nachhaltigkeit wieder weiter in den Hintergrund rückt.

Nachhaltigkeit und Resilienz gewinnt auch für Hotelketten und große Reiseveranstalter an Bedeutung. Wie könnte Ihrer Meinung nach eine Transformation im Massen-Tourismus gelingen?
Da in Anbetracht des „Attitude-behaviour gap“ die Transformation nicht allein durch freiwillige Verhaltensänderungen der Nachfrage erfolgen wird, müssten gerade die großen touristischen Anbieter als Vorbild voranschreiten und beispielsweise eine CO2-Kompensationszahlung in die Angebote standardmäßig einpreisen. Erste Anbieter wie Studiosus gehen bereits diesen Weg. Wir wissen zudem aus Studien, dass viele Reisende in Deutschland befürworten oder sogar erwarten, dass die Anbieter sich um das Thema Nachhaltigkeit „kümmern“. Vielfach fehlt den Reisenden auch einfach das Hintergrundwissen, warum bestimmte Angebotsformen schädlich für die Umwelt oder die Bevölkerung vor Ort sind. Wir können als Forschende und Lehrende im Tourismus auch unseren Beitrag leisten, indem wir Aufklärungsarbeit für die zukünftigen Branchenvertreterinnen und -vertreter und die Gesellschaft betreiben. Es ist aber leider noch ein langer Weg zu gehen. 

Die Pandemie hat den Tourismussektor stark getroffen. Wird die Branche in ihr Business-as-usual zurückkehren?
Wenn wir uns die Nachfrageentwicklung im Jahr 2022 ansehen, stehen die Zeichen wieder ganz deutlich auf Business-as-usual. So sind die Übernachtungszahlen in den gewerblichen Beherbergungsbetrieben und Passagierzahlen im Luftverkehr zwar noch nicht wieder auf dem Vorkrisenniveau, aber die Tendenz geht steil nach oben und das Niveau wird in diesem Jahr voraussichtlich wieder erreicht sein. Bei Kurzurlauben und Geschäftsreisen hingegen dürfte das vorpandemische Nachfragevolumen nicht oder nicht so schnell wieder erreicht werden. Geschäftstermine lassen sich beispielsweise auch virtuell durchführen. Die Branche wiederum ist nach fast drei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen wirtschaftlich dringend auf eine möglichst hohe Nachfrage angewiesen und wird sie bedienen. Entsprechend ist zu erwarten, dass sich beim Angebot überwiegend wieder ein Business-as-usual einstellen wird. Es bleibt zu hoffen, dass sich dennoch die ökologischen und sozialen Interessen auch immer mehr durchsetzen.

In ihrem Buch beschreiben Autorinnen und Autoren Trends und Entwicklungen im Tourismussektor aus verschiedenen Regionen der Welt. Wie können wir voneinander lernen?
Zu den positiven Effekten des Reisens gehören Begegnungen mit anderen Kulturen und der internationale Austausch. Dies gilt nicht nur für die Reisenden, sondern ist auch für die Tourismusbranche essentiell. Wir haben zwar globale Probleme wie Pandemien oder den Klimawandel zu bekämpfen. Damit dies gelingen kann, müssen aber auch immer die lokalen Gegebenheiten vor Ort berücksichtigt werden. Für eine nachhaltige, resiliente Zukunft des Tourismus gibt es keine globalen Patentlösungen. Der Austausch und das gegenseitige Verständnis für die verschiedenen Perspektiven und Lösungsansätze sind zentral, um dennoch gemeinsam an einer positiven Zukunft zu arbeiten. Wir hoffen, dass unser Buch, in dem Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichsten Ländern zum Thema Nachhaltigkeit und Resilienz im Tourismus gebündelt sind, auch ein wenig dazu beitragen kann.

(sel)

Towards Sustainable and Resilient Tourism Futures

Herausgegeben von Dr. Anne Köchling, Dr. Sabrina Seeler, Prof. Dr. Peet van der Merwe und Prof. Dr. Albert Postma

The competitiveness of tourism products and tourist destinations heavily relies on natural and social resources. At the same time, the tourism industry’s environmental footprint and its contribution to social inequalities are incontestable. A transformation towards more sustainable tourism futures is needed to ensure a positive contribution to fulfilling the UN’s Sustainable Development Goals.

Today’s challenges, desirable pathways and solutions are portrayed in this book, which was co-authored by members of the International Competence Network of Tourism Research and Education (ICNT). In 12 chapters, the scholars from diverse cultural backgrounds discuss

  • aspects of sustainable and resilient tourism futures with reference to the attitude and behaviour of selected tourist groups,
  • management of wildlife protection and of sustainability aspects by industry stakeholders as well as
  • strategies to overcome Covid-19 induced issues.

The different chapters take the reader on a journey around the globe while discussing sustainability along the triple bottom line.

Programmbereich: Management und Wirtschaft