Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Denken Sprachgeschichte neu: Dr. Laura Linzmeier und Professorin Dr. Maria Selig (Foto: privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Maria Selig und Dr. Laura Linzmeier

„Die Standardisierung ist, wie wir sagen, polymorph“

ESV-Redaktion Philologie
31.08.2023
Waren es wirklich nur Literaten und Literatinnen, die unsere Sprache standardisiert haben? Der neue Band Expert Cultures and Standardization / Expertenkulturen und Standardisierung rückt bislang weniger berücksichtigte Expertengruppen etwa im Bereich des Handels, der Verwaltung oder des Journalismus in den Fokus der Aufmerksamkeit und zeigt, dass sie eine zentrale Rolle bei der Herausbildung standardisierter Sprachnormen spielen. Wir haben mit den Herausgeberinnen des Bandes gesprochen, die uns im Folgenden einen kleinen Einblick in ihre Arbeit geben.
Liebe Frau Selig, liebe Frau Linzmeier, als Nicht-Expertin könnte man denken, zur Geschichte der romanischen Sprachen sei inzwischen schon alles erforscht. Wenn ich es richtig verstehe, gibt es aber ein wachsendes Interesse an „alternativen Sprachgeschichten“, die die „klassische“, oft an literarischen Texten orientierte Sprachgeschichte ergänzen kann. Welche „alternative Sprachgeschichte“ haben Sie in dem von Ihnen herausgegebenen Band Expert Cultures and Standardization. Romance Languages in the Early Modern Period im Blick, und wie kam es überhaupt zu diesem Band?

Maria Selig: Wenn man nach einer „alternativen Sprachgeschichte“ ruft, macht man das sehr häufig aus dem Gefühl heraus, dass bisher nur die „klassische“ Sprache der literarischen Eliten berücksichtigt wurde. Das stimmt auch. Der Fokus der Sprachgeschichtsschreibung war in der Tat sehr lange Zeit auf die literatursprachlichen Domänen verengt und man hat alle sprachgeschichtlichen Epochen so interpretiert, als ob die Literatursprache das Maß aller Dinge gewesen wäre. Deshalb ist es auch richtig, komplementäre Sprachgeschichten vorzuschlagen, also Sprachgeschichten „von unten“, die das untersuchen, was die traditionellen Monographien bisher nicht interessiert hat, die mündliche Alltagssprachlichkeit, die Geschichte der Dialekte und so weiter. Der Ansatz, der die Komplementarität in den Vordergrund stellt – ein bisschen nach dem Motto „Ihr da oben, wir da unten“ – setzt aber eigentlich diese traditionellen Sprachgeschichten fort. Denn er insinuiert, dass die Standardisierung eine Sache der literarischen Eliten ist, die ‚ihre‘ Standardsprache dann den anderen Sprechern aufoktroyieren. Unser Ansatz richtet sich genau gegen diese sehr vereinfachende Gegenüberstellung von zwei Sprachgeschichten, der „von oben“ und der „von unten“.

Aber Standardisierung heißt doch, dass man feste grammatische Regeln aufstellt und die Sprecher zwingt, ‚richtig‘ zu sprechen oder zu schreiben. Diese Normierungen gingen doch „von oben“ und von den Grammatikern aus.

Maria Selig: Die explizite Normierung und das Insistieren darauf, dass man nur dann soziales Prestige erwerben kann, wenn man standardsprachlich spricht, sind aber nur Teilaspekte des Standardisierungsprozesses. Auch wenn es sich selbstverständlich um wichtige Aspekte handelt, weil wir in der Schule sofort mit dieser standardsprachlichen Ideologie konfrontiert werden. Wir meinen aber, dass die idealisierenden Beschreibungen der ‚guten‘ Sprache und die vielen Vorschriften, die ja kaum einer erfüllen kann, gerade nicht das Entscheidende an der Standardisierung sind. Entscheidend ist vielmehr, ob eine Sprache in Kommunikationsdomänen gebraucht wird, die man als „distanzsprachlich“, „formell“ oder „schriftsprachlich“ charakterisieren kann. Die Terminologie ist hier nicht wichtig. Es geht nur darum, dass viele, sehr viele Sprecherinnen und Sprecher eine Sprache in öffentlichen, sachorientierten und themenzentrierten Kommunikationsakten einsetzen, also in Domänen, die gerade nicht durch die Bedingungen der Alltagssprachlichkeit geprägt sind. In der Standardisierungsforschung nennt man diesen Aspekt den sprachlichen „Ausbau“, gewissermaßen das Hineintragen einer Sprache in die distanzsprachlichen Kommunikationsdomänen. Wenn Sprecherinnen und Sprecher kontinuierlich eine Sprache in zahlreichen Ausbaudomänen verwenden, ist es sogar egal, ob sie sich an den Normen der Grammatiker orientieren. Wichtig ist der reale Gebrauch, die vielen wichtigen Impulse, die davon ausgehen, dass eine Sprache nicht mehr nur im Alltag verwendet wird, sondern auch Funktionen erfüllen muss, die komplexer sind und die mit den Mitteln, die man im spontanen, vertrauten Miteinander einsetzt, nicht geleistet werden können.

Deshalb interessieren Sie sich besonders für die Expertenkulturen? Weil die Kaufleute, Seefahrer oder Kanzleischreiber zwar nicht zur Normierung beigetragen haben, aber zum Ausbau?

Maria Selig: Ja, ganz genau. Beziehungsweise: Natürlich sind auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Experten. Aber die professionellen Schreiber in den praktischen Domänen, die Sie genannt haben, tragen ganz wesentlich dazu bei, dass die frühneuzeitlichen Gesellschaften weiter alphabetisiert werden, dass sich Lese- und Schreibkenntnisse immer weiter verbreiten und dass sich die schriftsprachliche Kompetenz auch in der gesellschaftlichen Mitte etabliert. Und was die Normierung anbetrifft: Wenn wir anerkennen, dass sich sprachliche Normen in der Interaktion herausbilden, weil die Sprecherinnen und Sprecher die Tendenz haben, sich an ihre Kommunikationspartner anzupassen, dann ist es sehr wichtig zu wissen, dass im Bereich der Kanzleien und Handelsunternehmen Unmengen von geschriebenen Texten überregional zirkulierten und sprachliche Anpassungen sehr häufig vorgekommen sein dürften. Deshalb sind nicht nur die literarischen ‚Bestseller‘, etwa Dante Alighieri oder der Roman de la Rose von Jean de Meun wichtig für die Verbreitung überregionaler Sprachnormen, sondern auch die professionellen Kontexte der Schreibstuben. Wir dürfen das, was in der pragmatischen Schriftlichkeit über Jahrhunderte hinweg passierte, einfach nicht mehr ignorieren. Die Standardisierung ist, wie wir sagen, polymorph, weil mehrere Ausbaudomäne, nicht nur die literarische, zu diesem Prozess beitragen.

Das könnte Sie auch interessieren: 07.01.2020
Roelcke: „Fachsprachen unterscheiden sich von der Sprache im Alltag in vielerlei Hinsicht.“
Die Bedeutung von Fachsprachen rückt immer stärker in den Fokus der Bildungspolitik. Neben der Alltagssprache ist das Erlernen von spezifischen Fachsprachen wesentlich für den (Lern-) Erfolg der Beteiligten. mehr …


Wie kann man sich die Arbeit vorstellen, wenn man z. B. 200 Jahre alte französische Navigationsjournale ausfindig machen möchte, um die dort verwendete Sprache zu untersuchen? Wo findet man solche Quellen und unter welchen Bedingungen kann man sie einsehen – und dann auswerten?

Laura Linzmeier: Die Untersuchung von historischen Dokumenten, die im Zusammenhang mit der europäischen Seefahrt entstanden sind, ist in den letzten Jahren verstärkt in den Vordergrund der geisteswissenschaftlichen Forschung gerückt. Dazu gehören aus der Feder der Schiffsbesatzung stammende Navigationsjournale, Kapitänsbriefe und weitere administrative Dokumente, aber auch Privatbriefe oder Tagebücher von Reisenden. Diese Funde ermöglichen uns nicht nur Einblicke in die (oftmals fachsprachlich geprägten) Schreibstrategien von Navigationsexperten, sondern helfen uns auch, das Schreibverhalten von weniger routinisierten Schreibern und Schreiberinnen zu verstehen. In offiziellen Kontexten entstandene Dokumente wie Logbücher sind z. B. in Frankreich im Nationalarchiv und auch in kleineren Hafenarchiven einsehbar – oftmals werden sie aber mittlerweile durch die Archive in digitaler Form zur Verfügung gestellt, was erstens die Suche und zweitens die Analyse des Materials erheblich erleichtert. Hinweisen möchten wir in diesem Kontext vor allem auf das an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angesiedelte Prize-Papers-Projekt, das ganz unterschiedliche und verschiedensprachige Dokumenttypen, die an Bord von gekaperten Schiffen (1652–1815) gefunden wurden, online zur Verfügung stellt – darunter auch zahlreiche Dokumente privater Natur.

Kann man sagen, dass der sich bereits in der Frühen Neuzeit globalisierende Handel Auswirkungen auf die Entwicklung von Sprache hatte? Haben Sie ein Beispiel für unsere Leserinnen und Leser?

Maria Selig: Der Germanist Arend Mihm hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kaufleute mehrsprachig sein mussten. Das gilt auch für die romanischen Gebiete. Francesco Datini beispielsweise, ein Kaufmann des 14. Jahrhunderts aus dem toskanischen Prato, hat in seinem Archiv Briefe aus aller Herren Länder und in sehr vielen unterschiedlichen Sprachen vereint. Man darf auch nicht vergessen, dass Kaufleute, etwa die in Köln, eine ganz wichtige Rolle bei der Verbreitung überregionaler Literatursprachen spielten. Das mittelalterliche Französisch, dessen Vorbild die Entwicklung des Mittelhochdeutschen so stark geprägt hat, kam zwar mit den höfischen Romanen. Aber anders als man denken könnte, waren es nicht nur die Aristokraten, die diese Texte verbreiteten.

Heute, im 21. Jahrhundert, ist die Handelssprache ja zumeist Englisch – welche Auswirkungen hat das auf Herausbildung standardisierter Sprachnormen?

Laura Linzmeier: Da zeigt sich eine ganz wichtige Parallele zu den frühneuzeitlichen Entwicklungen. Lange Zeit ist die pragmatische Schriftlichkeit, sprachlich gesehen, nämlich ziemlich unreguliert. Das ist heute beim Englischen auch so. Das Englische verbreitet sich als „lingua franca“, also als eine Sprache, die gar nichts mit dem Englischen als normierter Standardsprache zu tun hat, weil man zur Verständigung nicht fehlerfrei und idiomatisch sprechen und schreiben können muss. In der Vormoderne war das auch so. Das Hauptanliegen der mehrsprachigen Kaufleute war nicht die sprachliche Korrektheit ihrer Briefe, da die Sache, d. h. das zielgerichtete Handeln, im Vordergrund stand. Wenn man unsere auf die historischen Akteure und ihre kommunikative Praxis konzentrierte Perspektive übernimmt, fällt es leichter, solche nicht normgerechten Sprachformen zu akzeptieren und nicht in Hysterie zu verfallen, wenn es um das Businessenglisch geht. Wichtiger wäre, zu erkennen, dass man die Fähigkeit, sich in einer Sprache komplex auszudrücken, sichern muss – dann sind auch Sprachkontaktphänomene, wie sie in mehrsprachigen Gesellschaften häufig auftreten, nicht alarmierend.

Maria Selig: Ich kann nur zustimmen. Das ist auch eine wichtige Motivation für unsere Forschungen: Aufzuzeigen, dass die Idee der für alle verbindlichen grammatisch normierten Standardsprache erst sehr spät, Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Die traditionelle Sprachgeschichtsschreibung vermittelt, dass die historischen Standardisierungsprozesse automatisch auf die modernen Formen der Standardsprachlichkeit ausgerichtet sind; denn diese repräsentieren, so meinen sie, den nicht mehr verbesserbaren und deshalb stabilen Endpunkt standardsprachlicher Entwicklungen. Wenn man die nicht-literarischen Expertenkulturen der Vormoderne untersucht, weiß man, dass das nicht stimmen kann. Standardsprachen – im Sinne des sprachlichen Ausbaus, aber auch im Sinne der Verbreitung überregional gültiger Formen und im Sinne der expliziten Normierung – sind dynamische Praktiken, die sich im Moment offensichtlich wesentlich verändern. Als Wissenschaftlerinnen sind wir deshalb ganz gespannt, wie die standardsprachliche Entwicklung in unseren Gesellschaften weitergehen wird.

Vielen Dank für das Interview!

Falls Sie sich nun mehr über die erwähnten Expertenkulturen erfahren möchten, können Sie den Band im Buchhandel oder hier auf der Verlagsseite erwerben, er steht auch als eBook zur Verfügung. Viel Spaß bei der Lektüre!


Die Herausgeberinnen

Maria Selig ist Professorin für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg und seit 2009 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Sie ist verantwortlich für den „Dictionnaire de l'occitan médiéval“ (www.dom-en-ligne.de) und das Akademieprojekt „Sprachdatenbasierte Modellierung von Wissensnetzen in der mittelalterlichen Romania (ALMA)“.

Dr. Laura Linzmeier ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg (Italienische und Französische Sprachwissenschaften). Sie widmet sich Forschungen zum Lautwandel des Sassaresischen (Sardinien) und zur funktional-pragmatischen Schriftlichkeit französischer Seefahrtsexperten des 17./18. Jahrhunderts. Sie ist Ko-Koordinatorin des CITAS-Forschungsnetzwerks „Mediterranean Studies on Island Areas“ (MS ISLA).


Expert Cultures and Standardization / Expertenkulturen und Standardisierung
Romance Languages in the Early Modern Period / Romanische Sprachen in der Frühen Neuzeit

Herausgegeben von Maria Selig und Laura Linzmeier
Mit Beiträgen von Marina Albers, Vahram Atayan, Katharina Fezer, Sebastian Lauschus, Laura Linzmeier, Franz Meier, Guido Mensching, Daniele Moretti, Christine Paasch-Kaiser, Luca Refrigeri, Tabea Salzmann, Frank Savelsberg, Maria Selig, Martin Sinn, Lorenzo Tomasin, Anne Weber und Gabriele Zanello

In der Frühen Neuzeit entwickelten sich in der Romania neue Expertengruppen im Bereich der pragmatischen und nicht-literarischen Schriftlichkeit. Bisher wurden sie bei der Analyse der historischen Standardisierungsprozesse nur wenig berücksichtigt. Die Beiträge des Bandes rücken diese neuen Expertenkulturen etwa im Bereich des Handels, der Verwaltung oder des Journalismus in den Fokus der Aufmerksamkeit und zeigen, dass sie eine zentrale Rolle bei der Herausbildung standardisierter Sprachnormen spielen. Grundlage der neuen Bewertung ist eine praxeologische Sprachgeschichte, die distanzsprachliche Kommunikationsbedingungen, überregionale Kommunikationsnetze, schriftkulturelle Expertise und neue soziolinguistische Dynamiken als Faktoren sprachlicher Standardisierung benennt und ihr Zusammenwirken in Ausbau-, Überdachungs- und Normierungsprozessen anhand von Fallbeispielen analysiert.

Programmbereich: Romanistik