
Dramenanalyse – eine verständliche Grundlage
Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus der Neuauflage der Einführung in die Dramenanalyse. Darin geht es um das Geistliche und Weltliche Spiel im Mittelalter: passend zur Jahreszeit haben wir für Sie einen Ausschnitt über (geistliche) Passions- und Osterspiele sowie (weltliche) Fastnachtsspiele ausgewählt.
2.1 Geistliches Spiel
Das Theater des Mittelalters war eingefügt in den Kirchenjahreszyklus, war religiös-kultische Handlung im Sinne einer christlichen Verkündigungspraxis und konstituierte über die kollektive Teilnahme an der Repräsentation der Glaubensgeschichte die christliche Gemeinschaft. Beispielsweise wird im Innsbrucker Osterspiel aus dem 14. Jahrhundert die Erlösungstat Christi von der Erklärer-Figur (Expositor) Johannes erklärt: Er schließt daraufhin die Zuschauer als christliche Gemeinde zusammen, die Christus preisen soll. Die biblische Erzählung wird in der Überführung auf die Bühne als gegenwärtige Realität, als geistige Allgegenwart der geglaubten Figuren und der biblischen Handlung gedeutet.
Theater war hier in einen völlig andersartigen Zusammenhang eingebettet als in der Neuzeit: In einem weitgehend analphabetischen Raum war es eine spezifische Form geistlicher Verkündigungs- und Glaubenspraxis, waren die Stoffe vorgegeben – wenngleich sich die großen geistlichen Spiele im Verlaufe des Mittelalters auch gewissermaßen Freiräume erarbeiteten –, die Intention war gebunden an die liturgische bzw. rituelle Praxis der mittelalterlichen Kirche!
Im relativ einheitlichen westchristlichen Raum bildete sich eine Reihe vergleichbarer Formen des geistlichen Spiels heraus: Oster-, Passions- und Fronleichnamsspiele waren selbstverständlich streng in die kirchenjahreszeitliche Ordnung eingepasst, Mirakel- und Legendenspiele waren unabhängiger von dieser, unterstützten aber die christliche Verkündigung in erheblichem Maße. Bei allen Formen differenzierten sich nationalkulturelle Besonderheiten aus, die im Weiteren noch kurz Erwähnung finden werden.
Im Frühmittelalter bestimmte ein strenger Spiritualismus die kirchliche Praxis: Die majestätische Erhabenheit Christi erzwang eher eine meditative Versenkung vor allem in die Passions- und Oster-Erzählung. Im Hochmittelalter (ca. 1200) erfolgte eine Hinwendung zur empirischen Wirklichkeit: An die Stelle der meditativen Versenkung trat die anschauliche Vergegenwärtigung des Leidens Christi. Das geistliche Spiel etablierte sich als heilsbringende Schau, als exzessive Verbildlichung geistlicher Inhalte und deren sinnlicher Erfahrung in den Passions-, Oster- und Fronleichnamsspielen. Damit gehorchte es einem wachsenden Hang zum Visuellen und zur dinghaften Erfahrung, hatte aber eine relative Profanierung der Glaubensinhalte und der religiösen Bildmotive und sogar eine Anreicherung der biblischen Überlieferung mit weltlichem Szenen- und Erfahrungsmaterial zur Folge.
Im Zentrum der Glaubensüberlieferung stand die Passion Christi – und diese erschien eingebettet in den Zusammenhang der gesamten Heilsgeschichte zwischen Erschaffung der Welt und Jüngstem Gericht. Da die andächtige Betrachtung der Passion im Mittelalter als Weg zu Erlösung und Seelenheil gesehen wurde, gewann das Passionsspiel eine große Bedeutung. Die ersten geistlichen Spiele entwickelten sich – und folgten damit inhaltlich unmittelbar der Passionshandlung – aus dem Ostertropus, also der Liturgie der Osterfeier. Tropen sind hier zu verstehen als Erweiterungen der Liturgie durch textlich-gesangliche Einschübe zum jeweiligen Verkündigungsgegenstand – und diese eignen sich gerade ideal für eine zunehmend szenische Umsetzung. Der Ostertropus bestand schon aus gleichsam stationenhaften Anteilen: der Grablegung der Hostie, der Anbetung des Kreuzes (adoratio crucis) und der Wiederauferstehung (elevatio) und folgte dem Hymnus Quem Quaeritis aus dem ersten Drittel des 10. Jahrhunderts, der die Marien thematisiert, die im Grab Jesu seinen Leichnam suchen und nicht finden. Schon der Ostertropus kann als frühe Form eines geistlichen Rollenspiels verstanden werden, eine noch nicht dramatische Form, die aber eine eigene Tradition des Oster„spiels“ darstellt (visitatio sepulchri, der Besuch des Grabes): Aus der Zeit zwischen dem 10. und dem 17. Jahrhundert sind etwa 700 lateinische Textbelege überliefert.
Im 12. und 13. Jahrhundert bewegte sich die mittlerweile von der reinen Liturgie zunehmend emanzipierte spielerisch-szenische Darstellung aus dem Kirchenraum vor das Kirchenportal, aus dem Sakralraum in den Profanraum hinein (für Frankreich ist das für 1150, für England, Deutschland, die Niederlande und Italien für etwa 1200 nachgewiesen). Für volkssprachliche Spiele wurden auf Markt- oder Kirchplätzen Bühnen errichtet, nur dort gab es Bühnengerüste, die den heutigen Bühnen schon ähnlich sahen. Gleichzeitig entwickelte sich aus der strengen und gleichsam dunklen Romanik die helle, lichtdurchflutete, durchscheinenddiaphane Gotik: Eine architekturgeschichtliche Öffnung des Kirchenraums, die gleichsam parallel verläuft. Die Verlagerung des Osterspiels aus dem Kirchenraum heraus stellte eine bedeutende Hinwendung zum wachsenden städtischen Publikum dar – und gleichzeitig eine tendenzielle Hinwendung zur Volkssprache (innerhalb der Kirche wurde weiterhin Latein gesprochen und gesungen!). Vor dem Kirchenportal wurden in einer Simultanbühne von großer Breite verschiedene Spielplateaus errichtet, die ermöglichten bzw. erzwangen, dass das Publikum dem Spiel beiwohnte in Form einer Prozession, die – etwa im Osterspiel – tatsächlich von der Hölle (im Westen des Bühnenraums) zum Himmel (im Osten) führte.
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Nachgefragt bei Prof. Dr. Benedikt Jeßing | 20.03.2023 |
„Ein steigender Bedarf nach fachlicher Orientierung“ | |
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2.2 Weltliche Spiele
Neben der großen und bestimmenden Tradition des geistlichen Spiels gab es natürlich in allen Ländern Europas auch Traditionen weltlichen Theaters im Mittelalter, Spielformen von oft großer Derbheit, die durch „Spielleute“ präsentiert wurden. In Frankreich entwickelten sich die Formen von Farce und Sotie, dramatische Kurzformen, die mit straffer Dramaturgie und derbem Witz einen kritischspöttischen Blick auf den Alltag richteten. Die Themen der Stücke entstammten dem bäuerlichen, bürgerlichen oder gesellschaftlichen Alltag: Ehestreit, Ehebruch, Zechprellerei, Aufbegehren gegen die Obrigkeit, Anstößigkeiten. Die politische Farce operierte oft mit allegorischen Figuren, die Sotie (frz. „sot“, der Narr) war eine Narrenfarce mit explizit politischer Funktion. In den Niederlanden entwickelte sich die Farce als Nachspiel griechischer Stücke, im romanischen Raum wurden in derber Komik einzelne Stände vorgeführt (in Italien etwa der tölpelhafte Bauer, in Spanien und Portugal gehobene Gelehrtenstände wie Ärzte und Juristen). In den Niederlanden und im deutschsprachigen Raum wurden Ritter und Abenteuerepisoden aus der epischen Literatur in ernste dramatische Formen umgewandelt, insbesondere die niederländische Redner-Schule der Rederijker adaptierte u. a. profane Stoffe aus der antiken Mythologie (Pyramus und Thisbe, Dido und Äneas), Ritterstoffe oder populäre Erzählstoffe.
Während in England die weltliche Tradition des „mummers play“, des ursprünglich rein pantomimischen Vermummungsspiels mit allegorischen Figuren, zumeist am Ausgang des Winters gespielt, schon weit ins Mittelalter zurückreichte, nahm das weltliche Theater in Deutschland erst eine verspätete Entwicklung. Die Neidhartspiele (seit dem 13. Jahrhundert) inszenierten scharf den Kontrast zwischen höfischer Welt und bäuerlicher Derbheit und bilden gewissermaßen eine Vorform des für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit wichtigsten Genres komisch-weltlichen Theaters: das Fastnachtspiel.
Das Fastnachtspiel ist der prägende Typus des deutschsprachigen weltlichen Schauspiels in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, aufgeführt im Zusammenhang mit dem Fastnachtstreiben in den Städten. Fastnachtspiele gab es seit etwa 1430; der erste bekannte Beleg für das Wort stammt auch aus dieser Zeit. Die Textüberlieferung ist stark auf Nürnberg konzentriert, doch machen Belege und Hinweise in Rechnungsbüchern und Ratsprotokollen eine Verbreitung im ganzen deutschen Sprachgebiet wahrscheinlich.
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Die Spiele beschränken sich auf einfache Handlungen und eine geringe Personenzahl; Schwankstoffe und Liebesthematik des Spätmittelalters wirken hier weiter. Das Fastnachtspiel ist gekennzeichnet durch eine durchgehende Tendenz zum obszönen Witz und zur Fäkalsprache: In der zeitlichen Verbindung zur Fastnacht diente es gleichsam zur Entladung, Enthemmung, zur Abreaktion zurückgehaltener Affekte – in gewisser Weise organisierte es einen Katharsis-Effekt. Das Fastnachtspiel resultierte aus einer spezifischen Geselligkeitsform handwerklicher Männergesellschaft – das generierte auch die Themen: Verspottung anderer gesellschaftlicher Gruppen: Frauen, Ritter, Geistliche, Ärzte, Juden – beliebtestes Spottopfer aber war der Bauer, immer der Typus des Groben, Unflätigen und Ungeschlachten, dessen Namen dann Heinz, Mist, Huntskranz oder auch Schottenpauch lauteten; daneben existierten auch Gerichtsszenen oder -spiele. Der Reiz für Autor und Publikum lag wohl im literarisch-spielerischen Verhüllen des Unanständigen – und dessen Enthüllung in Spiel und Deutung. Neben Spaß, Spott und Unflat gab es aber auch Fastnachtspiele mit ernsten, zeitpolitischen oder kirchenkritischen Themen. Thematisch ist das Fastnachtspiel praktisch unbegrenzt, dramaturgisch legt es seinen Schwerpunkt – auch beim konsistenteren Handlungsspiel – nicht auf einheitliche Handlung, sondern oft auf stegreifartige Reaktion und improvisatorisches Spiel mit Publikumsreaktionen.
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Zum Autor |
Benedikt Jeßing ist Hochschullehrer und Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt 16. bis 18. Jahrhundert am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Er ist angesehener Experte für die Literatur Goethes und der Goethezeit, forscht zur Literatur des 20. Jahrhunderts und zur Literaturtheorie. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die universitäre Lehre und die Fachpropädeutik. Auf der Grundlage seiner Lehrerfahrung hat er zahlreiche Einführungen geschrieben (zur Neueren deutschen Literaturwissenschaft, zu Arbeitstechniken, zur Literaturgeschichte, zu Goethe). |
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Programmbereich: Germanistik und Komparatistik