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Leben und Arbeit Théophile Gautiers sind geprägt von dem Übergang der frühen Neuzeit in die Moderne (Foto: Mikhail Leonov/stock.adobe.com)
Auszug aus: „Théophile Gautier. Ein Akteur zwischen den Zeiten, Zeichen und Medien“

Ein Autor zwischen den Zeiten: Das literarische Werk Théophile Gautiers

ESV-Redaktion Philologie
24.11.2022
Die ‚Sattelzeit‘, ein Begriff, der besonders von Reinhart Koselleck in den 1970er Jahren geprägt wurde, beschreibt den Übergang der Frühen Neuzeit in die Moderne, der sich in Europa von ungefähr 1750 bis 1870 erstreckt. Ein französischer Autor, dessen Lebens- und Schaffenszeit in die zweite Hälfte dieser Epochenschwelle fällt, ist Théophile Gautier.
Bisher wurde Gautier in der romanistischen Forschung nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das aktuelle Forschungsprojekt zu Théophile Gautier, initiiert durch Kirsten von Hagen, wendet sich darum mit einen neuem Blick dem Werk Gautiers als eines, das, geprägt von der ‚Sattelzeit‘ selbst, Ergebnis eines Umbruchs ist.

Die Autorinnen und Autoren des aus dem Projekt nun resultierenden Sammelbandes zeichnen in ihren Arbeiten das Porträt eines der vielseitigsten, von der Forschung vergleichsweise wenig beachteten Protagonisten der Literatur Frankreichs im 19. Jahrhundert. Der Band schließt somit eine zentrale Forschungslücke, indem er Gautiers Stellung als Akteur zwischen Romantik und Moderne ebenso wie seine intermediale Ästhetik in den Blick rückt.

Die Zeit und Zeitlichkeit im Zusammenhang mit den Frauenfiguren bei Gautier ist Kernthema der Arbeit Anna Isabelle Wörsdörfers. Diese untersucht in ihrem Aufsatz „Im Widerstreit der Zeitregimes. Gautiers Femme fatale als Symptom der Moderne“ zwei Frauenfiguren dieses Typus in Gautiers Erzählungen La morte amoureuse und Arria Marcella. Lesen Sie hier einen Auszug aus der Arbeit.

„Théophile Gautier schreibt seine contes fantastiques in jener gesellschaftlich turbulenten und geistesgeschichtlich bedeutsamen Übergangsphase zwischen Früher Neuzeit und einer ‚neuen‘ Zeit, die mit Reinhart Koselleck als Sattelzeit gefasst wird und gemeinhin den in verschiedenen kulturellen Bereichen zeitversetzt und in Schüben sich vollziehenden Anbruch der Moderne markiert. Ein zentrales Charakteristikum der Epochenschwelle um 1800 besteht in der Entwicklung eines erstmalig historisch begründeten temporalen Bewusstseins, das die zwei komplementären Zeiterfahrungen des Fortschritts und der historischen, das heißt unwiderruflich vergangenen Zeit einschließt. Nichtsdestotrotz sind ältere (mythische, theologische und andere) Zeitvorstellungen des Ancien Régime noch nicht vollkommen vergessen und bleiben teilweise für eine ganze Weile noch immer präsent. Inmitten der allgemeinen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kann der Widerstreit konkurrierender Zeitwahrnehmungen und die erst allmähliche Durchsetzung eines veränderten ‚neuen‘ Zeitregimes als Kennzeichen der anbrechenden Moderne gelten, die deren Aufeinandertreffen allererst ermöglicht und den Weg für den schlussendlichen Siegeszug des letzteren bereitet.

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Als genuin moderne Werke reflektieren Gautiers Texte die in ihrer Entstehungszeit koexistierenden und disparaten Perspektiven auf Zeit und Zeitlichkeit – und dies ganz besonders in den fantastischen Erzählungen, denen das Moment eines (Ein-)Bruchs bereits genrekonstitutiv eingeschrieben ist und vom Autor in vielen Fällen hinsichtlich einer temporalen rupture spezifiziert und ausgestaltet wird. In den beiden im Folgenden näher betrachteten Werken, La morte amoureuse (1836) und Arria Marcella (1852), verhandelt Gautier, so die erste Leitthese, den sich in der zeitgenössischen Wirklichkeit manifestierenden Bewusstseinswandel und die moderne Gemengelage zeitlicher Vorstellungen fiktional, indem er auf Handlungsebene der contes unterschiedliche Zeitregimes aufeinanderprallen lässt: In eine moderne von bürgerlichen Denkweisen geprägte Gesellschaft dringt ein fantastisches weibliches Wesen aus der Vergangenheit ein, das als Reminiszenz an eine längst untergegangene Welt das (Zeit-)Bewusstsein der männlichen Hauptfigur ins Wanken bringt. Als Vertreterin eines überkommenen Zeitsystems erweist sich die Wiedergängerin insofern als Femme fatale, als sie dem Jüngling statt ihrer ureigenen – aus ihrem ‚Vergangensein‘ herrührenden – Vergänglichkeit eine glückselige Entzeitlichung vorgaukelt und ihn auf ewig von dem ihm zugehörenden modernen Zeitregime entfremdet.
[…]

Femme fatale, Zeit und Zeitlichkeit
Der Terminus ‚Femme fatale‘ ist erstmals in einem Louvre-Führer von 1872 belegt – in einem Text, in dem Gautier als Kunstkritiker ein Gemälde der biblischen Salome beschreibt. Das hinter dem Begriff stehende Konzept, das heißt den Typus der dem Mann höchsten sinnlichen Genuss bescherenden und zugleich Verderbnis bringenden Verführerin, verortet Mario Praz in seiner mittlerweile als Standardwerk zur Femme fatale geltenden Studie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für ihn stellt die ambivalente Verführerin demnach einen originär modernen Typus dar. Als Erklärung für dieses zeitspezifische Auftreten der Femme fatale führt Jürgen Blänsdorf mit einem Erstarken psychologischer und feministischer Positionen wie auch eines geschärften Krisenbewusstseins im Fin de Siècle drei Motive an, die sich jedoch schon im Zuge der Französischen Revolution, wie gesehen dem modernen Krisenmoment par excellence, und etwa mit Verweis auf die frühe Frauenbewegung der 1830/40er Jahre sowie das romantische Interesse an den ‚Nacht- und Schattenseiten‘ der menschlichen Natur ausmachen und also sämtlich auch in der ersten Jahrhunderthälfte nachweisen lassen. Die Femme fatale ist demnach bereits ein imaginäres Produkt der Sattelzeit.

Die beiden im Folgenden interessierenden speziellen Ausformungen der Femme fatale, adelige Vampirin [La morte amoureuse] und antike Hetäre [Arria Marcella], weisen einen besonderen Bezug zu Zeit und Zeitlichkeit auf, der sich – gemäß ihrem widersprüchlichen Charakter – als polyvalent bezeichnen lässt. Ihre Doppelnatur bringt es mit sich, dass sie zwar einerseits als Aristokratin und als Angehörige der Antike der Vergangenheit entstammen, folglich in moderner Zeit längst ‚Geschichte‘ sind, ihrem ureigenen vampirischen Wesen bzw. ihrer Funktion als dem Mann zum Zeitvertreib dienende, ihn die Zeit vergessen machende, aufreizende und gebildete Gespielin nach ‚auf Dauer‘ gestellt sind. Anders formuliert: Diese beiden Frauengestalten gehören einer vergangenen Zeit an, sind jedoch in ihrem scheinbar ewigen Sein jeglicher Zeitlichkeit enthoben. Diese besagte Ambivalenz in Bezug auf die Temporalität trifft im Kern die zentrale Eigenart der auch auf anderen Ebenen jeglicher Vereindeutigung sich ständig entziehenden Femme fatale.“

Hat der Artikel Ihr Interesse geweckt? Dann lesen Sie den vollständigen Beitrag sowie weitere Arbeiten zu Théophile Gautier in dem neu erschienenen Sammelband, herausgegeben von Kirsten von Hagen und Corinna Leister.


Zu den Herausgeberinnen

Kirsten von Hagen ist Professorin für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Gießen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Intermedialität (insbesondere Literaturverfilmung), Französische Autor:innen zwischen Romantik und Moderne, Literatur und Ökonomie sowie Interkulturalitätsforschung.

Corinna Leister studierte Moderne Fremdsprachen, Kulturen und Wirtschaft im Bachelor und Master und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Kirsten von Hagen. Mit ihrem Dissertationsprojekt zur Intermedialität der Frauenfiguren in Théophile Gautiers Prosawerk schließt sie an vorherige Forschungsinteressen an.

Théophile Gautier. Ein Akteur zwischen den Zeiten, Zeichen und Medien

Herausgegeben von Kirsten von Hagen u. Corinna Leister

Théophile Gautier (1811–1872) zählt zu den vielseitigsten, aber dennoch von der Forschung vergleichsweise wenig beachteten Protagonisten des literarischen Feldes im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Lange Zeit auf die Rolle des Vertreters eines elitären, solipsistischen Kunstverständnisses festgelegt, setzt sich erst allmählich eine nuanciertere Betrachtung seines umfangreichen Gesamtwerks durch, in dem Lyrik, Novellen, Romane, Dramen und Libretti für Ballettstücke ebenso vertreten sind wie Reiseberichte, Kunstkritiken und theoretisch-programmatische Schriften.
Ein deutliches Desiderat der rezenten Gautier-Forschung ist jedoch, Gautier als zentralen Akteur einer sich auszubildenden Moderne in den Blick zu rücken. Der Band schließt eine zentrale Forschungslücke, indem er Gautiers Stellung als Akteur zwischen Romantik und Moderne ebenso wie seine intermediale Ästhetik in den Blick rückt.

Programmbereich: Romanistik