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Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolf: Es gibt keine belanglosen Daten (Foto: ESV, Angela Kausche)
40 Jahre Volkszählungsurteil des BVerfG

Ein Urteil feiert Geburtstag

ESV-Redaktion Recht
02.01.2024
Am 15.12.1983, also vor etwa 40 Jahren, stoppte das BVerfG die Volkszählung von 1983 – mit weitreichenden und tiefgreifenden Folgen. Ein Anlass für die ESV-Akademie, am 15.12.2023 den Geburtstag dieser Entscheidung (1 BvR 209/83 u.a.) zu feiern – zusammen mit den Anwaltskanzleien HÄRTING und Redeker, Sellner, Dahs als Sponsoren, dem Deutschen Anwaltverein als Partner, der Zeitschrift PinG als Medienpartner sowie zahlreichen Diskussionsteilnehmern und vielen Gästen.
„Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“, so vielleicht die markanteste Textpassage aus dem oft zitierten Urteil, das im Rahmen der Geburtagsfeier heftig diskutiert wurde.

Die Feier teilte sich auf in folgende Diskusionsthemen, moderiert von RA Prof. Härting oder Dr. Stefan Brink:

  • Rückblick: Wie kam es zu dem Volkszählungs­urteil? Welche Resonanz gab es?
  • Wirkungsgeschichte: Welchen Einfluss hatte das Urteil auf das Datenschutzrecht und auf die Rechtsprechung des BVerfG zu Sicher­heitsgesetzen?
  • Praxisfolgen: Wie wirkt das Urteil auf die heutige Datenschutzpraxis nach?
  • Zukunft: Was wird in Zukunft von dem Urteil bleiben?

Urteil als Meilenstein

Nach der Begrüßung der Gäste durch Christiane Bowinkelmann im Namen des Erich Schmidt Verlags richtete die Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins, Edith Kindermann, ihre Grußworte per Videobotschaft an das Publikum. Dabei hob sie die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts als Meilenstein und Geburtsstunde des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hervor.

Ulrich Kelber: „Gefahren fehlender Datenkontrolle in einer noch nicht digitalisierten Welt erkannt“

Ebenfalls per Videobotschaft meldete sich anschließend Prof. Ulrich Kelber, seines Zeichens Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI). Ihm zufolge hatte der Erste Senat des BVerfG trotz einer damals noch nicht digitalisierten Welt die Gefahren für die Gesellschaft erkannt, die aus einer fehlenden Kontrolle über die Daten der Bürger resultieren.


Prof. Härting „Wo warst Du am 15.12.1983?“

In ihrer Ansprache stellten die Veranstaltungsleiter Rechtsanwalt Prof. Niko Härting und Dr. Stefan Brink, Geschäftsführer der wida/Berlin und von 2017 bis 2022 Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg, unter anderem fest, dass sich beide nicht mehr dran erinnern konnten, wo sie am 15.12.1983 waren.


Dr. Gisela Wild: „Ich war mir der Tragweite des Volkszählungsetzes von 1983 am Anfang überhaupt nicht bewusst“

Im Rahmen ihres Rückblicks bezeichnete die seit 1961 zugelassene Rechtsanwältin Dr. Gisela Wild, die die Volkszählung vor 40 Jahren stoppte, das betreffende Verfahren als größte Herausforderung ihres Lebens. Sie bezweifelt, ob es das Volkszählungsurteil ohne sie überhaupt gegeben hätte. Jedenfalls hätten damals viele Anwälte entsprechende Mandate abgelehnt. Sie selbst wäre sich zunächst der Tragweite der Thematik gar nicht bewusst gewesen.

Letztlich kam ihr die Fülle der erhobenen Daten, verbunden mit den Möglichkeiten ihrer Verknüpfung und der gesetzlich noch nicht ausdefinierten Zwecke der Datenerhebung sehr suspekt vor. Hinzu kam die Neigung der Behörden, das Gebot der Rechts- und Amtshilfe allzu wörtlich zu nehmen.

Zwar waren Entwicklungen wie Big Data 1983 nur im Nebel und der Ferne erkennbar. Im Kern sah sie hierdurch aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Kombination mit der unantastbaren Würde des Menschen bedroht. So habe sie sich dazu entschlossen, gleichzeitig als Beschwerdeführerin und Prozessbevollmächtigte gegen das Volkszählungsgesetz von 1983 vorzugehen. Heute entwickelt sich ihr zufolge aufgrund der Künstlichen Intelligenz (KI) wieder ein hohes Angstniveau, das eine Gegenbewegung entstehen lässt.
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Prof. Dr. Gerhard Robbers: „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist  ein Korrekturfehler“

Zweifelhaft ist, ob es das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ als solches überhaupt geben sollte. Laut Prof. Dr. Gerhard Robbers, Uni Trier, wurde der Begriff „Grundrecht“ im Manuskript des Urteils überall auf „Recht“ geändert. Im 189. Absatz sei dies allerdings vergessen worden, gab er im Rahmen des Rückblicks zum Besten. Robbers war damals wissenschaftlicher Mitarbeiter des damaligen Präsidenten des BVerfG, Ernst Benda. Zwar sieht Robbers in den unterschiedlichen Begriffen keinen allzu großen Unterschied. Ein bisschen mache dies aber schon aus, so Robbers weiter.  

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Es werden Immer wieder neue Überwachungsbefugnisse gefordert“

In einigen Begründungen späterer Entscheidungen habe das BVerfG auf das Recht der informationellen Selbstbestimmung Bezug genommen, meint die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Insoweit nennt sie die Begründungen zur Beschränkung des großen Lauschangriffs und vor allem zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Als ähnliche Beispiele benennt sie Entscheidungen gegen den Staatstrojaner, die Rasterfahndung oder die Bestandsdatenauskunft. Dennoch erkennt sie eine Tendenz der Innenminister, immer wieder neue Überwachungsbefugnisse einzuführen. Zwar könne man die im Volkszählungsurteil aufgestellten Erfordernisse als bürokratisch ansehen, dennoch erinnert sie daran, dass es um den Schutz der Grundrechte geht.

Prof. Dr.  Heinrich Amadeus Wolf: „Ähnliche Paukenschläge wird es nicht mehr geben“

Es gibt keine „belangloses Daten“, betonte Prof. Dr.  Heinrich Amadeus Wolf – seit Frühjahr 2022 Richter im Ersten Senat des BVerfG – im Rahmen der Diskussion um die Frage, was von dem Urteil bleiben wird. Demnach kommt der Gedanke der informationellen Selbstbestimmung, der ganz Europa erobert und auch die DSGVO beeinflusst habe, sachlich einem Grundrecht gleich.

Allerdings erwartet er heute keine derartigen „Paukenschläge“ mehr.  Seine Begründung: Der EuGH habe das Datenschutzrecht im Laufe der Zeit stärker ausgestaltet. Für das BVerfG blieben deshab eher Bereiche wie die Privatsphäre im Sicherheitsbereich oder im Gesundheitswesen übrig. 

Hören Sie rein in den Ping-Podcast: Follow the Rechtsstaat – Folge 56: 
40 Jahre Volkszählungsurteil des BVerfG – ein Grundrecht feiert Geburtstag 
 


Kein Urteil ohne Kritik

Das Urteil rief allerdings auch Kritiker auf den Plan. Hier die wichtigsten Kritikpunkte und Stichworte: 

  • Strukturelle Schwächen: Der hessische Datenschutzbeauftragte Alexander Roßnagel bemängelte hauptsächlich strukturelle Schwächen. Ihm zufolge ist das Selbstbestimmungsrecht in erster Linie an der Bewältigung von Gefahren aus den sozialen Netzwerken sogar gescheitert. Im Gegensatz hierzu biete schon das einfache Recht der DSGVO einen größeren Schutz, fährt er fort. Allerdings sieht er Artikel 6 DSGVO von der Entscheidung beeinflusst. Denn diese Norm verlangt für die Verarbeitung persönlicher Daten eine klare Rechtsgrundlage, wie zum Beispiel die informierte Einwilligung. 
  • Größere Gefahr von privaten Datensammlern: Auf die neuen Gefahren für die Privatsphäre aufgrund der Digitalisierung weist Gero Ziegenhorn – Kanzlei Redeker, Sellner, Dahs – hin. Ähnlich sieht es auch Prof. Dr. Dieter Grimm, der von 1987–1999 Richter am BVerfG war.  Grimm zufolge gehen von Google oder Facebook die größeren Gefahren aus. Das Volkszählungsurteil verpflichtet den Staat ihm zufolge aber grundsätzlich auch dazu, die Bürger vor dem Missbrauch von Informationen durch Unternehmen zu schützen. 
  • Generalverdacht gegen jegliche Datenverarbeitung: Auch das Aufblühen der KI lässt die Zahl der Kritiker am Volkszählungsurteil steigen, meint der erste Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull. Mit seiner damaligen Entscheidung habe das BVerfG einen Generalverdacht und ein allgemeines Misstrauen gegen jegliche Datenverarbeitung geschürt. Nach Bull entspricht es dem „woken Zeitgeist“, dass Gerichte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung inzwischen zum Teil schon dann als beeinträchtigt ansehen, wenn sich Bürger lediglich „subjektiv unwohl“ fühlen. Hierbei werde oft nicht ausreichend berücksichtigt, dass Datenverarbeitung oft einfach nur nützlich sein kann. Demgegenüber bezeichnt er die Einwilligung bei Cookie-Bannnern als „Farce". Dieser spricht er jede Sinnhaftigkeit ab und kritisiert die aus seiner Sicht insoweit übermäßige Verrechtlichung.
  • Zweckbindung freiheitsfeindlich: Winfried Veil aus dem Bundesinnenministerium kritsiert schließlich die Zweckbindung als freiheitsfeindlich. Sie behindert nach seiner Auffassung die gesamte Kommunikation zwischen Menschen. Er warnt davor, dass dies zum Tod von KI und Big Data führen kann.

Ausblick

Zum Thema KI fordert der EU-Abgeordnete Axel Voss allerdings eine Änderung der DSGVO, weil die KI riesige Mengen persönlicher Daten braucht.

Demgegenüber meint Peter Schaar – gegenwärtig unter anderem Vorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz (EAID) und von 2003-2013 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit – dass die DSGVO schon sehr viele Details regelt. Er wünscht sich insoweit schlankere Gesetze. Letzlich schließt er sich der Meinung von Marit Hansen an, der Vorsitzenden der Datenschutzkonferenz von Bund und Ländern. Hansen setzt auf technische Lösungen, die den Personenbezug auflösen sollen, wie zum Beispiel Differential Privacy.



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Herausgeber: Prof. Niko Härting

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PinG bleibt im Gespräch: Hören Sie auch in den PinG-Podcast „Follow the Rechtsstaat“ mit Prof. Niko Härting und Dr. Stefan Brink rein, die Fragen zum Datenschutz, zu Grund- und Bürgerrechten in einer bewegten Zeit gemeinsam mit ihren namhaften Gästen ausleuchten.

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(RSV/bp)
 

Programmbereich: Wirtschaftsrecht