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Widerstand ist eines der ältesten Themen literarischer Gestaltung. (Foto: beast01 / AdobeStock)
Auszug aus: „Widerstandsfigurationen in deutschsprachigen Literaturen und Medien“

Formen des literarischen Widerstands zwischen Ästhetik, Ethik und Politik

ESV-Redaktion Philologie
26.11.2025
„Widerstand“ gehört zu den ältesten Themen der literarischen Gestaltung und auch im Alltag ist er als soziale Praxis allgegenwärtig. In einer Zeit, in der soziale und ökologische Krisen weltweit eskalieren und Unsicherheit und Polarisierung ständig wachsen, wird die Auseinandersetzung mit Widerstand immer relevanter. Der neue Band aus der Reihe „Transpositionen“ beschäftigt sich interdisziplinär mit den Formen Widerstands in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Zentral ist dabei die Frage: Wann wird Literatur widerständig?
Die Herausgeberinnen leiten in ihrem Einführungsbeitrag in die Thematik des Bandes ein. Lesen Sie hier einen Ausschnitt daraus.

„Widerstand“ ist historisch vielstimmig. Er wird heute nicht mehr ausschließlich als heroische Ausnahmegeste gedacht, sondern ebenso als leise Verweigerung, affektives Innehalten oder kreative Unterbrechung hegemonialer Ordnungen verstanden. Zwischen gesellschaftlicher Macht und individueller Resilienz öffnet sich ein weites Spannungsfeld, in dem sich Gesten des Widerstehens als kulturelle Lebenspraxis erweisen. Hier beginnt die besondere Rolle der Literatur. Sie verleiht diesen oftmals marginalisierten Formen des Widerstands Sichtbarkeit, Resonanz und kritisches Potenzial. Sie kann Wahrnehmungen irritieren, Bedeutungszusammenhänge infrage stellen und neue Perspektiven eröffnen.

Gerade im deutschsprachigen Raum ist die Beschäftigung mit Widerstand nicht nur erinnerungspolitisch, sondern auch gesellschaftlich hoch aufgeladen. Die Erfahrung zweier Diktaturen im 20. Jahrhundert – Nationalsozialismus und SED-Regime – hat nicht nur das politische Selbstverständnis der Republik, sondern auch die literarische Produktion nachhaltig geprägt. Fragen nach individueller Verantwortung, nach Möglichkeiten der Opposition, nach Schuld, Mitläufertum und Zivilcourage stellen sich hier mit besonderer Schärfe. Die literarische Darstellung von Widerstand besitzt hier eine besondere Brisanz, eben weil sie nicht nur einen ästhetischen Reflexionsraum darstellt, sondern auch eine Erfahrungsdimension bildet, in der Ambivalenzen ausgehalten, alternative Denkfiguren erprobt und ethische Haltungen formuliert werden. Sie oszilliert oft zwischen Erinnerung und Gegenwartsanalyse, zwischen ästhetischer Form und politischer Verantwortung. […]

Der Begriff des literarischen Widerstands lässt sich auf verschiedenen Ebenen verorten: politisch, ästhetisch, epistemologisch. In seiner normativen Aufladung ist er eng mit dem Ideal des autonomen, aufklärerischen Subjekts verbunden, das sich – mit Kant gesprochen – dem „selbstverschuldeten Zustand der Unmündigkeit“ entzieht. Gerade in der deutschsprachigen Literatur seit dem 20. Jahrhundert tritt Widerstand häufig an der Schnittstelle von ästhetischer Form und politischer Erfahrung auf. Die Werke von Autorinnen und Autoren wie Albrecht Haushofer, Heinrich Mann, Robert Walser, Max Czollek oder Uwe Timm – allesamt Gegenstand der vorliegenden Studien – stehen exemplarisch für sehr unterschiedliche Strategien literarischen Widerstands. Haushofer formuliert eine Ethik der Maßhaltung im Angesicht politischer Ohnmacht. Mann engagiert sich mit scharfem publizistischem und literarischem Blick gegen antidemokratische Tendenzen. Walsers subalterne Figuren unterwandern institutionelle Ordnungen mit leiser Ironie. Czollek bricht mit normativen Erinnerungserwartungen und Timm eröffnet mit Ikarien neue Formen kritischer Zeugenschaft. Diese Stimmen zeigen, wie sich literarischer Widerstand in ganz unterschiedlichen Registern artikulieren kann – als politischer Appell, als ästhetische Setzung, als performative Unterbrechung, als poetische Spurensicherung oder als ethische Geste. Ebenso zeigt sich in vielen gegenwärtigen Stimmen, wie stark Widerstand mit Fragen kultureller Erinnerung, postmigrantischer Zugehörigkeit und ethischer Verantwortung verschränkt ist.

Diese Texte legen nahe: Literarischer Widerstand erschöpft sich weder in explizit politischen Aussagen noch lässt er sich auf eine ästhetische Form festlegen. Vielmehr operiert literarischer Widerstand in einem Spannungsfeld von Sprache, Subjektivität, Affekt und gesellschaftlicher Rahmung. Er ist kein stabiler, sondern ein relationaler Begriff – situativ, kontextgebunden, offen für Brüche und Gegenlesarten.  


Sind Sie neugierig geworden? Dann können Sie das Buch hier erwerben.

Zu den Herausgeberinnen
Kylie Giblett ist Dozentin für Germanic Studies in der School of Languages and Cultures der University of Sydney. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Gedächtnis in der zeitgenössischen deutschen Literatur und Recht und Rechtsphilosophie in den Werken zeitgenössischer deutscher Dichterjurist:innen.
Yixu Lü ist McCaughey Professor of Germanic Studies in der School of Languages and Cultures der University of Sydney. Ihre umfangreiche Publikationen befassen sich mit Heinrich von Kleist, der deutsch-chinesischen Kulturbegegnung im Kontext des Kolonialismus sowie der Rezeption antiker Mythen in der deutschen Literatur.
Brangwen Stone ist Chair von Germanic Studies in der School of Languages and Cultures der University of Sydney. Sie interessiert sich besonders für transnationale Literatur und transnationales Theater, Translation Studies, Gender Studies und das Verhältnis der Literatur zu Erinnerung und Geschichte.


Widerstandsfigurationen in deutschsprachigen Literaturen und Medien / Figurations of Resistance in German-language Literature and Media

Herausgegeben von Prof. Dr. Yixu Lü, Dr. Kylie Giblett und Dr. Brangwen Stone


Ein interdisziplinärer Band über Formen des literarischen Widerstands zwischen Ästhetik, Ethik und Politik. Im Zentrum steht die Frage: Wann wird Literatur widerständig – und für wen?
Das Buch widmet sich dem Thema Widerstand in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Beiträge untersuchen Widerstand als ästhetische, ethische und politische Praxis in vielfältigen Formen: von Lyrik über Roman und Film bis hin zu Lehrwerken.
Im Zentrum steht die Frage nach dem Kern eines literarischen Widerstands:
- Kann Literatur selbst als Akt des Widerstands verstanden werden?
- Wann wird ein Text widerständig – durch Form, Inhalt, Wirkung, oder erst durch seine Rezeption?
Der Band eröffnet neue Perspektiven auf das Verhältnis von Literatur, Kritik und gesellschaftlicher Verantwortung.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik