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Auch Erzieher*innen sind stark lärmbelastet (Foto: CDC/Unsplash)
Sozialrecht

Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren?

Karin Wüst
16.06.2021
Nachwievor werden Frauen diskriminiert, auch und gerade im Berufsleben. Den meisten ist bewusst, dass Frauen in vielen Berufen eine geringere Bezahlung erhalten als ihre männlichen Kollegen − aber dass sie auch benachteiligt werden, wenn sie durch die Arbeit krank werden, wissen die wenigsten.
Deshalb hatte die Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten im März 2021 eine digitale Informations- und Diskussionsveranstaltung zum Thema „Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren?“ durchgeführt.

Das Berufskrankheitenverfahren

Damit Beschäftigten, die am Arbeits­platz erkranken, keine Nachteile ent­stehen, gibt es in Deutschland die ge­setzliche Unfallversicherung, die sowohl Berufskrankheiten als auch Arbeitsun­fälle einschließt. Beschäftigte sind au­tomatisch über ihre Arbeitgeber*innen bei den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen versichert; Beamt*innen über ihren Dienstherrn. Ein gut aufgestellter Arbeitsschutz, eine angemessene Gefährdungsbeur­teilung, die Umsetzung der geeigneten Schutzmaßnahmen ist der beste Schutz vor (Berufs­)Krankheiten am Arbeits­platz.

Erkranken Beschäftigte am Arbeits­platz, ist das in der Regel ein Indiz da­für, dass die Prävention im Unterneh­men der Verwaltung unzureichend war oder die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht berücksichtigt wur­den. Es ist gut zu wissen, dass unabhän­gig von nachgewiesenen Verstößen der Arbeitgeber*innen die Beschäftigten bei Anerkennung einer Berufskrankheit Leistungen von der gesetzlichen Un­fallversicherung erhalten. Es ist sicher­gestellt, dass den Beschäftigten durch das Melden einer Berufskrankheit keine Nachteile entstehen.

Eine am Arbeitsplatz erworbene Krankheit ist allerdings nur dann eine Berufskrankheit, wenn sie durch die berufliche (versicherte) Tätigkeit verur­sacht worden ist und von der Bundes­regierung durch Rechtsverordnung als Berufskrankheit bezeichnet wird. Nach § 9 Absatz 1 Satz 2 SGB VII ist die Bundesregierung ermächtigt, sol­che Krankheiten in die Liste der Berufs­krankheiten aufzunehmen,
▶ die nach wissenschaftlichen Erkennt­nissen durch besondere Einwirkun­gen verursacht sind und
▶ denen bestimmte Personen bestimm­ter Branchen/Tätigkeiten in einem erheblich höheren Maße ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung.

Liste der Berufskrankheiten

In der aktuellen Liste (Anlage 1 zur Berufskrankheiten­Verordnung) sind 80 Berufskrankheiten gelistet. Sie sind aufgeteilt in sechs Gruppen: chemische Einwirkungen, physikalische Einwirkun­gen, Infektionserreger, anorganische Stäube, organische Stäube, Hautkrank­heiten, sonstige. Es fällt auf, dass die in der Liste aufgeführten Berufskrank­heiten überwiegend Erkrankungen aus männerdominierten Berufen sind. Man könnte daher den Eindruck gewinnen, in frauentypischen Berufen gebe es weniger Gefahren oder der Arbeits­schutz bei „Frauenberufen“ habe für die Arbeitgeber*innen einen höheren Stellenwert. vermuten, dass beides nicht der Grund dafür ist, dass die Liste der Erkrankun­gen von „Männerberufen“ dominiert wird.

Es ist eher zu vermuten, dass bei Erstellung und Aktualisierung der Liste der Berufskrankheiten − aus welchen Gründen auch immer − der Fokus auf „Männerberufe“ und nicht auf „Frauen­berufe“ gelegt wurde.

Das belegen die folgenden Beispiele:

1. Lärmschwerhörigkeit BK-Nr. 2301
„Lärm im Sinne des Merkblattes (BK­Nr. 2301 des Ärztlichen Sachverständi­genbeirates) ist jeder Schall (Geräusch), der das Gehör schädigen kann und der gleichmäßig als Dauerlärm oder stark schwankend oder als Impulslärm auf die Versicherten eingewirkt hat“. Oberhalb von 85 dB (A) bis 89 dB (A) treten Gehör­schäden nur bei langandauernder Lärm­belästigung auf, ab 90 dB (A) nimmt die Schädigungsgefahr deutlich zu. Nach dem Merkblatt sind Beschäftigte bei nachstehenden Tätigkeiten besonders gefährdet: Metallbearbeitung und ­verarbei­tung, Arbeiten mit Druckluftwerkzeu­gen, Strahlarbeiten, Aufbringen von Me­tallen im Spritzverfahren, Arbeiten an Schmieden und Pressen, im Bergbau, bei der Holzbearbeitung, in der Textilindus­trie, an Falz­ und Druckmaschinen, in der Lebensmittelindustrie, bei Bauarbeiten (Abbruch), beim Betrieb lauter Arbeits­geräte, bei Berufsmusikern. Bis auf die Berufsmusiker*innen han­delt es sich fast ausschließlich um Beru­fe im industriellen Bereich.

Nach Tätig­keiten im Handel oder im Gesundheits­und Sozialbereich, der Schule oder Kita sucht man vergeblich. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Lärmbelastung in Kitas im Auftrag der Unfallkasse Hessen haben ergeben, dass mehr als ein Drittel der Messungen über 85 dB (A) und mehr liegen. Beson­ders lärmintensiv sind das gemeinsame Essen, Basteln, Werken oder Malen sowie Turnen. Es wurden Lärmspitzen von über 100 dB (A) gemessen. Der maximale ge­messene Spitzenpegel betrug 113 dB (A). Das heißt: Auch Erzieher*innen sind ho­hen Lärmbelastungen am Arbeits platz ausgesetzt, Gehörschädigungen sind nicht auszuschließen (Quelle: Schriften­reihe der Unfallkasse Hessen Band 7 „Er­ziehung (k)ein Kinderspiel“). Unter den TOP 10 der Erkrankungen ist die Lärmerkrankung bei Frauen nicht zu finden. Bei Männern ist die Lärm­erkrankung TOP 2!

2. Gonarthrose BK-Nr. 2112
Als zweites Beispiel sei auf die Gon­arthrose verwiesen. Sie ist dann eine Berufskrankheit, wenn Tätigkeiten im Knien, Hocken, Fersensitz, Kriechen oder mit vergleichbarer Kniebelastung über eine Einwirkungsdauer von mindestens 13.000 Stunden im Arbeitsleben und mindestens einer Stunde pro Schicht ausgeführt wurden − eine Diagnose vo­rausgesetzt.

Im Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2112 „Gonarthrose“ werden Beispiele für gefährdete Berufe genannt: Fliesen­, Boden­, Teppich­ und Parkettleger, Ma­ler, Schweißer, Gärtner und andere. Kein Wort über Erzieher*innen − obwohl nie­mand bestreiten wird, dass diese am Ar­beitsplatz knien, hocken und kriechen. Für sie ist es besonders schwer, die ge­forderten Zeiten nachzuweisen. Wer be­stätigt, dass täglich eine Stunde gekniet oder gehockt wurde?

Zahlen der bestätigten Berufskrankheiten 2019 − deutschlandweit

Männer 23.650 (67,1 Prozent)
Frauen  11.614 (32,9 Prozent)

Thesen zu den Ursachen der geringen Zahl von Meldungen und Anerkennungen von Berufskrankheiten bei Frauen:

  • Die Anerkennung einiger Berufs­krankheiten setzt voraus, dass die Tätigkeit über einen bestimmten Zeitraum ausgeübt worden sein muss − diese Zeiten werden wegen Teilzeit oft nicht erreicht. Vergleich­bare Belastungen durch Tätigkeiten im Privatbereich (z. B. Pflege, Betreu­ung von Kindern) bleiben unberück­sichtigt.
  • Frauen arbeiten in anderen Beru­fen als Männer − insbesondere im Ge sundheits­und Sozialbereich mit ca. 80 Prozent Frauenanteil. Die Studien lage über die Belastung bei diesen Tätigkeiten ist unzureichend.
  • Die Liste der Berufskrankheiten be­rücksichtigt eher männerdominierte Berufe/Belastungen.
  • Krankheiten, an denen insbesondere Frauen am Arbeitsplatz erkranken, sind häufig nicht als Berufskrankhei­ten anerkannt. Frau Prof. Dr. Latza von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat in ihrem Vor­trag am 9. März 2021 die Erkrankung an Brustkrebs, ausgelöst durch Nacht­schichtarbeit, als Beispiel genannt.
  • Frauen befürchten oft, ihren Arbeit­geber*innen zu schaden − und sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz.
  • Der Zusammenhang zwischen Erkran­kung und Tätigkeit wird bei Frauen seltener als bei Männern hergestellt.


Ausblick

Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau im Berufskrankheitenverfahren kann erreicht werden, wenn
  • Studien zu „Frauenberufen“ wie dem Friseurhandwerk, der Pflege und den Erziehungsberufen gefördert werden,
  • eine differenzierte Auswertung von Daten zu Berufskrankheiten nach Geschlecht, Alter und Berufsgruppen erfolgt,
  • Erkrankungen von Frauen für statis­tische Auswertungen registriert wer­den,
  • Tätigkeiten wie Kindererziehung und Pflege Angehöriger berücksichtigt werden,
  • die Berufskrankheitenstatistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversi­cherung (DGUV) geschlechtsdifferen­ziert veröffentlicht wird,
  • die Berufskrankheitenliste regelmä­ßig an die aktuellen Arbeitsbedin­gungen angepasst wird.

Über 100 Teilnehmer*innen haben an der Videokonferenz der Berliner Bera­tungsstelle Berufskrankheiten am 9. März 2021 teilgenommen. Die Teilneh­mer*innen wünschen sich, mehr über das Thema Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren zu erfahren. Es besteht ein großer Infor­mations­ und Handlungsbedarf. Wir werden weiter informieren und die fach­liche und politische Debatte weiter­führen.


Karin Wüst ist Leiterin der Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten.


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