Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren?
Das Berufskrankheitenverfahren
Damit Beschäftigten, die am Arbeitsplatz erkranken, keine Nachteile entstehen, gibt es in Deutschland die gesetzliche Unfallversicherung, die sowohl Berufskrankheiten als auch Arbeitsunfälle einschließt. Beschäftigte sind automatisch über ihre Arbeitgeber*innen bei den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen versichert; Beamt*innen über ihren Dienstherrn. Ein gut aufgestellter Arbeitsschutz, eine angemessene Gefährdungsbeurteilung, die Umsetzung der geeigneten Schutzmaßnahmen ist der beste Schutz vor (Berufs)Krankheiten am Arbeitsplatz.Erkranken Beschäftigte am Arbeitsplatz, ist das in der Regel ein Indiz dafür, dass die Prävention im Unternehmen der Verwaltung unzureichend war oder die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht berücksichtigt wurden. Es ist gut zu wissen, dass unabhängig von nachgewiesenen Verstößen der Arbeitgeber*innen die Beschäftigten bei Anerkennung einer Berufskrankheit Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung erhalten. Es ist sichergestellt, dass den Beschäftigten durch das Melden einer Berufskrankheit keine Nachteile entstehen.
Eine am Arbeitsplatz erworbene Krankheit ist allerdings nur dann eine Berufskrankheit, wenn sie durch die berufliche (versicherte) Tätigkeit verursacht worden ist und von der Bundesregierung durch Rechtsverordnung als Berufskrankheit bezeichnet wird. Nach § 9 Absatz 1 Satz 2 SGB VII ist die Bundesregierung ermächtigt, solche Krankheiten in die Liste der Berufskrankheiten aufzunehmen,
▶ die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen durch besondere Einwirkungen verursacht sind und
▶ denen bestimmte Personen bestimmter Branchen/Tätigkeiten in einem erheblich höheren Maße ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung.
Liste der Berufskrankheiten
In der aktuellen Liste (Anlage 1 zur BerufskrankheitenVerordnung) sind 80 Berufskrankheiten gelistet. Sie sind aufgeteilt in sechs Gruppen: chemische Einwirkungen, physikalische Einwirkungen, Infektionserreger, anorganische Stäube, organische Stäube, Hautkrankheiten, sonstige. Es fällt auf, dass die in der Liste aufgeführten Berufskrankheiten überwiegend Erkrankungen aus männerdominierten Berufen sind. Man könnte daher den Eindruck gewinnen, in frauentypischen Berufen gebe es weniger Gefahren oder der Arbeitsschutz bei „Frauenberufen“ habe für die Arbeitgeber*innen einen höheren Stellenwert. vermuten, dass beides nicht der Grund dafür ist, dass die Liste der Erkrankungen von „Männerberufen“ dominiert wird.Es ist eher zu vermuten, dass bei Erstellung und Aktualisierung der Liste der Berufskrankheiten − aus welchen Gründen auch immer − der Fokus auf „Männerberufe“ und nicht auf „Frauenberufe“ gelegt wurde.
Das belegen die folgenden Beispiele:
1. Lärmschwerhörigkeit BK-Nr. 2301
„Lärm im Sinne des Merkblattes (BKNr. 2301 des Ärztlichen Sachverständigenbeirates) ist jeder Schall (Geräusch), der das Gehör schädigen kann und der gleichmäßig als Dauerlärm oder stark schwankend oder als Impulslärm auf die Versicherten eingewirkt hat“. Oberhalb von 85 dB (A) bis 89 dB (A) treten Gehörschäden nur bei langandauernder Lärmbelästigung auf, ab 90 dB (A) nimmt die Schädigungsgefahr deutlich zu. Nach dem Merkblatt sind Beschäftigte bei nachstehenden Tätigkeiten besonders gefährdet: Metallbearbeitung und verarbeitung, Arbeiten mit Druckluftwerkzeugen, Strahlarbeiten, Aufbringen von Metallen im Spritzverfahren, Arbeiten an Schmieden und Pressen, im Bergbau, bei der Holzbearbeitung, in der Textilindustrie, an Falz und Druckmaschinen, in der Lebensmittelindustrie, bei Bauarbeiten (Abbruch), beim Betrieb lauter Arbeitsgeräte, bei Berufsmusikern. Bis auf die Berufsmusiker*innen handelt es sich fast ausschließlich um Berufe im industriellen Bereich.
Nach Tätigkeiten im Handel oder im Gesundheitsund Sozialbereich, der Schule oder Kita sucht man vergeblich. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Lärmbelastung in Kitas im Auftrag der Unfallkasse Hessen haben ergeben, dass mehr als ein Drittel der Messungen über 85 dB (A) und mehr liegen. Besonders lärmintensiv sind das gemeinsame Essen, Basteln, Werken oder Malen sowie Turnen. Es wurden Lärmspitzen von über 100 dB (A) gemessen. Der maximale gemessene Spitzenpegel betrug 113 dB (A). Das heißt: Auch Erzieher*innen sind hohen Lärmbelastungen am Arbeits platz ausgesetzt, Gehörschädigungen sind nicht auszuschließen (Quelle: Schriftenreihe der Unfallkasse Hessen Band 7 „Erziehung (k)ein Kinderspiel“). Unter den TOP 10 der Erkrankungen ist die Lärmerkrankung bei Frauen nicht zu finden. Bei Männern ist die Lärmerkrankung TOP 2!
2. Gonarthrose BK-Nr. 2112
Als zweites Beispiel sei auf die Gonarthrose verwiesen. Sie ist dann eine Berufskrankheit, wenn Tätigkeiten im Knien, Hocken, Fersensitz, Kriechen oder mit vergleichbarer Kniebelastung über eine Einwirkungsdauer von mindestens 13.000 Stunden im Arbeitsleben und mindestens einer Stunde pro Schicht ausgeführt wurden − eine Diagnose vorausgesetzt.
Im Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2112 „Gonarthrose“ werden Beispiele für gefährdete Berufe genannt: Fliesen, Boden, Teppich und Parkettleger, Maler, Schweißer, Gärtner und andere. Kein Wort über Erzieher*innen − obwohl niemand bestreiten wird, dass diese am Arbeitsplatz knien, hocken und kriechen. Für sie ist es besonders schwer, die geforderten Zeiten nachzuweisen. Wer bestätigt, dass täglich eine Stunde gekniet oder gehockt wurde?
Zahlen der bestätigten Berufskrankheiten 2019 − deutschlandweit Männer 23.650 (67,1 Prozent) Frauen 11.614 (32,9 Prozent) |
Thesen zu den Ursachen der geringen Zahl von Meldungen und Anerkennungen von Berufskrankheiten bei Frauen:
- Die Anerkennung einiger Berufskrankheiten setzt voraus, dass die Tätigkeit über einen bestimmten Zeitraum ausgeübt worden sein muss − diese Zeiten werden wegen Teilzeit oft nicht erreicht. Vergleichbare Belastungen durch Tätigkeiten im Privatbereich (z. B. Pflege, Betreuung von Kindern) bleiben unberücksichtigt.
- Frauen arbeiten in anderen Berufen als Männer − insbesondere im Ge sundheitsund Sozialbereich mit ca. 80 Prozent Frauenanteil. Die Studien lage über die Belastung bei diesen Tätigkeiten ist unzureichend.
- Die Liste der Berufskrankheiten berücksichtigt eher männerdominierte Berufe/Belastungen.
- Krankheiten, an denen insbesondere Frauen am Arbeitsplatz erkranken, sind häufig nicht als Berufskrankheiten anerkannt. Frau Prof. Dr. Latza von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat in ihrem Vortrag am 9. März 2021 die Erkrankung an Brustkrebs, ausgelöst durch Nachtschichtarbeit, als Beispiel genannt.
- Frauen befürchten oft, ihren Arbeitgeber*innen zu schaden − und sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz.
- Der Zusammenhang zwischen Erkrankung und Tätigkeit wird bei Frauen seltener als bei Männern hergestellt.
Ausblick
Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau im Berufskrankheitenverfahren kann erreicht werden, wenn- Studien zu „Frauenberufen“ wie dem Friseurhandwerk, der Pflege und den Erziehungsberufen gefördert werden,
- eine differenzierte Auswertung von Daten zu Berufskrankheiten nach Geschlecht, Alter und Berufsgruppen erfolgt,
- Erkrankungen von Frauen für statistische Auswertungen registriert werden,
- Tätigkeiten wie Kindererziehung und Pflege Angehöriger berücksichtigt werden,
- die Berufskrankheitenstatistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) geschlechtsdifferenziert veröffentlicht wird,
- die Berufskrankheitenliste regelmäßig an die aktuellen Arbeitsbedingungen angepasst wird.
Über 100 Teilnehmer*innen haben an der Videokonferenz der Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten am 9. März 2021 teilgenommen. Die Teilnehmer*innen wünschen sich, mehr über das Thema Gleichberechtigung von Frauen im Berufskrankheitenverfahren zu erfahren. Es besteht ein großer Informations und Handlungsbedarf. Wir werden weiter informieren und die fachliche und politische Debatte weiterführen.
Karin Wüst ist Leiterin der Berliner Beratungsstelle Berufskrankheiten. |
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