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Sieht sich selbst als konstruktiv-kritischen Kraus-Leser: Prof. Dr. Dietmar Goltschnigg (Foto: privat)
Nachgefragt bei: Prof. Dr. Dietmar Goltschnigg

Goltschnigg: „Kraus’ Zeit war von Anfang an gekommen“

ESV-Redaktion Philologie
17.08.2017
Karl Kraus (1874–1936) war das „multimediale Ereignis“ der Wiener Moderne: Publizist, Satiriker, Lyriker, Dramatiker, Sprachrichter, scharfer Kritiker der Presse. In zwei umfassenden Bänden hat Prof. Dr. Dietmar Goltschnigg die Rezeption von Kraus erforscht – und gibt im Interview mit der ESV-Redaktion einen Einblick.
Lieber Herr Goltschnigg, der zweite Band zur Rezeption von Karl Kraus wird mit einem Zitat eröffnet: „Ich bin größenwahnsinnig. Ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird“ (Kraus, 1908). Wie beurteilen Sie diese Aussage? Ist die Zeit von Karl Kraus tatsächlich nie gekommen?

Dietmar Goltschnigg: Das Zitat ist natürlich – wie so oft bei Kraus – ironisch gemeint und zu verstehen. Seine Zeit war von Anfang an gekommen. Kein anderer Autor der Wiener Moderne erzielte in seiner Zeit eine derart wirkungsmächtige – ob zustimmende oder ablehnende – öffentliche Resonanz wie er. Dass er – wie er selbst gern behauptete – „totgeschwiegen“ wurde, ist reine, vielfach wiederholte Legende.

Ihr Buch beschäftigt sich weniger mit Karl Kraus selbst, vielmehr steht dessen Rezeption im Fokus. Inwiefern hat sich an der Rezeption Kraus‘ – im Vergleich zum ersten Band, der die Jahre 1892–1945 abdeckt – etwas geändert, etwa im Hinblick auf den allgemeinen Tenor oder die Anzahl der Stimmen?

Dietmar Goltschnigg: Hand in Hand mit seiner wissenschaftlichen Rezeption wird Kraus in den folgenden Jahrzehnten zusehends differenzierter und objektiver beurteilt. Aber es gibt noch immer eine Reihe hartnäckiger „Krausianer“, auch in der Forschung, die sich ihrem „Meister“ unkritisch, ja vorbehaltlos unterwerfen, und auf der anderen Seite noch immer Gegner, ja Feinde, die ihn polemisch und gehässig verurteilen. Stärker als zu seinen Lebzeiten rücken Theaterinszenierungen und Rezitationen – vor allem der Letzten Tage der Menschheit – in den Fokus, ebenso der „politische“ Kraus anhand der postum (1952) veröffentlichten Dritten Walpurgisnacht.

Im Allgemeinen fiel die Rezeption Kraus’ ja durchaus kontrovers aus – der Publizist Roger Willemsen sprach diesbezüglich von einer „Polarität“. Wie würden Sie sich persönlich sehen – eher als Kritiker oder als Anhänger von Kraus?

Dietmar Goltschnigg: Ich verstehe mich als einen der konstruktiv-kritischen Kraus-Leser, der einerseits seinen singulären Pazifismus, sein erhellendes Sprachbewusstsein, seine grandiosen wortspielerischen Aphorismen, seine unerschrockene Kultur- und Moralkritik, die unerschöpfliche Kraft und Scharfsichtigkeit seiner Satire und Polemik, seinen hinreißenden Witz bewundert, andererseits aber seine oft un- und selbstgerechte, rechthaberische Willkür im Urteil über andere Schriftsteller – ob Heine, Schnitzler, Tucholsky u. a. – seinen veritablen, zynischen Antisemitismus und sein öffentlich zur Schau gestelltes, von chauvinistischen Männerphantasien geprägtes Frauenbild, insbesondere jenes sozialpolitisch engagierter, intellektuell emanzipierter Frauen(rechtlerinnen) – „Tugendmegären, bei denen sich verhinderte sexuelle Notwendigkeiten in Sozialpolitik umgesetzt haben“ – nicht ignoriert oder als harmlosen Witz goutiert, sondern einer kritisch differenzierten, ablehnenden Bewertung unterzieht.

Ihr zweiter Band, der die Jahre 1945–2016 abdeckt, versammelt 132 Beiträge von 125 Autoren und einen fast ebenso großen Textkorpus wie der erste Band. Wie sind Sie auf all diese Texte gestoßen?

Dietmar Goltschnigg: Durch Recherchen in der Wienbibliothek, im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N., im Innsbrucker Zeitungsarchiv und über einschlägige wirkungsgeschichtliche Sammelwerke, wie etwa diejenigen von Friedrich Pfäfflin, Franz Schuh und Juliane Vogel oder Eckart Früh. 

Beide Bände unterliegen einer dreiteiligen Struktur: Es gibt einen einleitenden Darstellungsteil, einen Textkorpus sowie einen Kommentar. Bitte erläutern Sie unseren Lesern, welcher Gewinn sich daraus ergibt.

Dietmar Goltschnigg: Der Vorteil dieser Struktur, die ich auch meinen anderen wirkungsgeschichtlichen, jeweils dreibändigen Dokumentationen über Georg Büchner und Heinrich Heine, gemeinsam mit Hartmut Steinecke, zugrunde gelegt habe, besteht in der kritischen, durchaus auch ablehnenden Überprüfbarkeit meines einleitenden Darstellungsteils anhand der präsentierten Textbeispiele. Der umfangreiche Stellenkommentar gibt zudem Hinweise auf die heutzutage oft kaum mehr zu ermittelnden Texte, auf die sich Kraus bezieht, und zeigt auch mittels vieler Querverbindungen die Vernetzung der Rezeptionstexte untereinander auf.

Was haben Leser, die den ersten Band bereits kennen, von dem jetzt vorliegenden Band zu erwarten?

Dietmar Goltschnigg: die unerschöpfliche, vieldimensionale, nicht nur literarische, sprachdidaktische und ästhetische, sondern auch ethische und politische Wirkung seiner Texte.

 
Zu den Bänden
Zum Autor
Professor Dr. Dietmar Goltschnigg ist Verfasser zahlreicher Arbeiten (Bücher und Aufsätze) zur Klassischen Moderne Österreichs; sein Augenmerk richtet sich vorzugsweise auf wirkungsgeschichtliche, intertextuelle Zusammenhänge am Beispiel Georg Büchners, Heinrich Heines und Karl Kraus. Außerdem pflegt er den interdisziplinären Dialog über zentrale existentielle Phänomene („Zeit“, „Angst“ u. a.).

(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik