
Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ als Beispiel einer rückwärts gewandten Erzählung
Wie sich eine solche Rückwärtsgewandtheit literarisch darstellen lässt und welche Wirkung ein solches erzählerisches Verfahren entfaltet, zeigt Hannah Markus in ihrem Beitrag „Schnell, solang du noch tot bist“ exemplarisch an Ilse Aichingers „Spiegelgeschichte“ auf, aus dem Sie im Folgenden einen Auszug lesen:
Untrennbar sind in Ilse Aichingers berühmter „Spiegelgeschichte“ von 1949 Form und Inhalt miteinander verbunden. In gegenchronologischen Stufen führt das Retronarrativ eine Sterbende zurück zu ihrer Geburt, wobei die Ereignisse durch den Rücklauf relativiert und in ihren Bewertungen spiegelverkehrt werden. […] Was hier [an dieser Geschichte] von so hoher Faszinationskraft ist, dass sich ganz unterschiedliche Erkenntnisinteressen daran knüpfen lassen, ist wohl, dass Form und Inhalt in der „Spiegelgeschichte“ untrennbar (und in dieser Konsequenz für einen erzählenden Text eher ungewöhnlich) miteinander verbunden sind: Das Leben einer jungen Frau, die an einer verpfuschten Abtreibung stirbt, wird in knapp umrissenen Stationen in umgekehrter Reihenfolge wiedergegeben.
„Alles ist im Spiegel“
Die Sprechinstanz appelliert dabei direkt mittels der Du-Form an die Sterbende, ihr Leben rückwärts laufen zu lassen, vom drohenden Tod wieder hin zur eigenen Geburt, und so aus dem Ende einen Anfang zu machen, der zugleich wiederholt, was schon stattgefunden hat und es dabei doch in ein neues Licht taucht: „Alles ist im Spiegel“ (SpG, 70), heißt es, und als solches wird das Geschehen auch spiegelverkehrt – die Wertungen verändern ihre Vorzeichen im Rückwärtsdrang der Erzählung. Dabei präsentiert die Sprechinstanz die zeitlich vollzogene Rückwärtsbewegung, als handle es sich um eine Vorwärtsbewegung: „Bis morgen sind die welken Blüten frisch und schließen sich zu Knospen“ (SpG, 65). Diese Retronarration erweist sich bei genauerer Analyse als hochkomplexes und die Lesenden enorm forderndes Verfahren, das Zeitvorstellungen, Logik und Erzählnormen an ihre Grenzen bringt. Symptomatisch verweisen darauf schon die mit Vehemenz geführten Debatten in der Forschungsliteratur darüber, wie die retrograde Darstellung der „Spiegelgeschichte“ konstruiert ist, wann der Rücklauf einsetzt, zu welchem Ziel er gelangt und wer spricht.Nachgefragt bei: Dr. Franziska Thiel | 20.05.2019 |
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Gegenchronologie: Stufen-Erzählung oder Lebensfilm
Es ist problemlos möglich, die „Spiegelgeschichte“ in Erzählstufen einzuteilen, die im Erzählen gegenchronologisch vom Begräbnis bis zur Geburt abgeschritten werden, wobei die Detailliertheit der einzelnen Stufen ebenso differiert wie der Zeitabschnitt, den sie jeweils umfassen – mal werden Jahre in wenigen Sätzen umrissen, mal werden kurze Vorgänge fast minutiös skizziert. Für die Analyse in Chronologie gebracht, ist mit den Erzählstufen das Leben einer jungen Frau umrissen: von ihrer Geburt (1) über die frühe Kindheit (2), den Tod der Mutter (3), die Trauer um sie (4), die Schuljahre (5), die erste Begegnung mit dem jungen Mann und späteren Kindsvater (6), die Spaziergänge entlang des Flusses während der ersten Phase der Verliebtheit (7), die Entjungferung im ‚verdammten Haus‘ (8), die Mitteilung über die Schwangerschaft seitens der jungen Frau und die Nennung der Engelmacherin seitens des jungen Manns (9), die Abtreibung durch ‚die Alte‘ (eventuell in zwei Sequenzen, vorher/nachher, also 10a und 10b zu unterteilen) und das Krankenlager im eigenen Bett (11), über den Krankenhausaufenthalt (12), die Aufbahrung in der Leichenhalle (13), die Fahrt im Leichenwagen zum Friedhof (14) bis hin zum Begräbnis (15). Hingegen gelingt es nicht, die Geschichte selbst tatsächlich von hinten nach vorn zu lesen, da eben nicht, wie es z. B. Ulrich Gerlach behauptet, in „genauer chronologischer Revision“ erzählt wird.Aufbrechen der Retronarration
Ein Teil der Erzählstufen ist nämlich in sich überhaupt nicht oder nur ansatzweise gegenchronologisch konstruiert, so etwa die erste bzw. in der Erzählungslogik die letzte Stufe:Rückwärtsdrang der Geschichte
Weitgehend chronologisch erzählte Passagen wie die genannten offenbaren, ob nun intendiert oder nicht, dass der Rückwärtsgang der „Spiegelgeschichte“ keine bloß ‚technische‘ Spielerei ist, in der möglichst perfekt versucht würde, eine Erzählung von hinten nach vorn laufen zu lassen, gleichsam einen Lebensfilm verkehrt herum abzuspulen. Die übergeordnete Bewegung vom Ende auf den Anfang hin ist – wie zu zeigen sein wird – so elementar für das Erzählte wie für das Erzählen selbst. Solche in sich weitgehend chronologisch ablaufenden Sequenzen wie die genannten haben allerdings Seltenheitswert in der „Spiegelgeschichte“. Anders, als es etwa Erika Greber annimmt, ist die Mehrheit der Episoden konsequent retrograd erzählt, auch wenn die von Wilfred Barner treffend als „visuell eindrücklich[ ]“ und „fast strategisch über die Erzählung verteilt“ charakterisierten Kurzsequenzen besonders auffallen, da sie den Rück-Gang im wörtlichen Sinn vor Augen führen:Bis morgen sind die welken Blüten frisch und schließen sich zu Knospen. (SpG, 65)
Sie tragen dich ins Haus und die Stiegen hinauf. Du wirst aus dem Sarg gehoben. […] Und da haben sie dich schon ins Bett zurückgelegt. Und sie haben dir das Tuch wieder um den Mund gebunden. (SpG, 65)
Die Sigle SpG bezieht sich auf Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte, in: Dies.: Werke. Taschenbuchausgabe in 8 Bänden, hg. v. Richard Reichensberger, Bd. 2: Der Gefesselte. Erzählungen I, Frankfurt/Main, S. 63-74.
Zur Person |
Mona Körte, die Herausgeberin des ZfdPh-Sonderheftes 138, ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Figuren der Inversion in Literatur und Kunst. 2017 hat sie zum verkehrten Gesicht in Dante Alighieris „Inferno“ publiziert. |
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Rückwärtsvorgängeherausgegeben von Prof. Dr. Mona KörteRückwärtserzählungen sind durch die Umkehrung der zeitlichen Abfolge eines Geschehens definiert und bilden einen Sonderfall nicht kausal-kohärenten Erzählens. In ihnen gerät die erzählte Welt als eine Konstellation raumzeitlicher Elemente aus den Fugen, wodurch Zeit nicht mehr wie so oft den eher unscheinbaren Hintergrund einer Handlung bildet. |
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik