
Im Klangwald der Apokalypse
„Als am 13. August 1876, nach mehr als 25 Jahren intensiver Arbeit, Der Ring des Nibelungen auf dem Grünen Hügel in Bayreuth uraufgeführt wird, sind Beteiligte und Zuschauer überzeugt, dass sich Wagner mit dieser Darbietung „nachdrücklich ins kollektive Gedächtnis der Nation“ eingeprägt und sich „in Bayreuth etwas vollzogen [habe], woran sich noch unsere Enkel und Urenkel erinnern werden“, so der Komponist Pjotr Tschaikowski.
Bereits 1852 schreibt Richard Wagner (1813–1883) seinem Freund Franz Liszt voller Stolz: „Beachte wohl meine neue Dichtung [...] sie enthält der Welt Anfang und Untergang!“ Die Faszination für apokalyptische Denkmodelle, die Untergang und Anfang – Zerstörung und Erlösung – umfassen, lässt sich im Ring erkennen und zieht sich durch Richard Wagners gesamtes Schaffen. Sowohl in seinen kunsttheoretischen und politischen Schriften als auch in den musikdramatischen Werken findet sich das apokalyptische Sujet.
Erste apokalyptische Implikationen
Bereits in der ersten Annäherung an Wagners Götterdämmerung werden apokalyptische Implikationen deutlich. So verweist bereits der Titel des Textes auf ein apokalyptisches Szenario: ‚Götterdämmerung‘ als geläufige, doch fehlerhafte Übersetzung der Ragnarök-Saga referiert auf das Schicksal und den Untergang der Götter in der nordischen Mythologie. Die ‚Dämmerung‘ ist in ihrer Bedeutung mehrdeutig und kann sowohl Ende als auch Anfang beschreiben, da sie das Halbdunkel kurz nach Untergang oder vor Aufgang der Sonne bezeichnet. Diese Ambiguität behält das Wort auch in der französischen Übersetzung des Titels mit Le Crépuscule des Dieux oder im Englischen mit Twilight of the Gods. Crépuscule und Twilight stehen auch hier für Morgen- oder Abenddämmerung, und gerade diese Unklarheit und Obskurität, die in der Wortbedeutung mitschwingt, offenbaren die Dialektik von Untergang und Wiedergeburt. Die Verschmelzung der beiden Entitäten ‚Anfang‘ und ‚Ende‘ im Begriff der Dämmerung eröffnet einen weiteren Interpretationsraum des Apokalyptischen, der einen Übergang und das Moment des Dazwischenseins markiert.
Adornos Metapher vom ‚Klangwald‘
Musikalisch realisiert Wagner diese Verschmelzungseffekte mit den Prinzipien der Mischung, Kopplung, Überblendung und Pedalisierung. Auch in der Orchestrierung der Götterdämmerung an sich sowie in der Dominanz der Klangformen der Dur- und Molldreiklänge, die als dramatische Ausdrucksmittel mit der Funktion der elementaren Instrumentalfarben im Orchester korrelieren, lassen sich Bezüge zur Apokalypse herstellen. […] Das Orchester als massiver Klangkörper, in dem sich im Ring verschiedene kleinere Orchester- und Ensembleformationen erkennen lassen, erreicht durch die Größe und Erweiterung der Orchesterbesetzung eine besondere Dimension und Qualität, sodass Tobias Janz Adornos Metapher vom ‚Klangwald‘ aufgreift und sie für Wagners Orchestrierung stark macht.“Zur Autorin |
Dr. Franziska Thiel studierte an der Universität Leipzig Germanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Ost- und Südosteuropäische Geschichte. Sie promovierte im Cotutelle de Thèse-Verfahren an den Universitäten Leipzig und Fribourg. Für ihre Arbeit erhielt sie den Vigener-Preis der Philosophischen Fakultät der Université de Fribourg für die beste Doktorarbeit des Jahres 2017 |
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‚Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes‘ Von Dr. Franziska Thiel Die komparatistische Arbeit beleuchtet die Darstellung der Apokalypse im 20. Jahrhundert. Auf welch kreative und komplexe Weise die verschiedenen Darstellungsmittel und Künste untereinander kommunizieren, wird an unterschiedlichen Texten der Weltliteratur und an ausgewählten Beispielen der Kunst offenbart.
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Programmbereich: Germanistik und Komparatistik