
Neun von zehn Deutschen fehlt die psychische Gesundheitskompetenz
Vor dem Hintergrund der Zunahme psychischer Belastungen und der steigenden Diagnosehäufigkeit für psychische Erkrankungen hat die TUM in Kooperation mit der Apotheken Umschau und dem WHO Collaborating Centre for Health Literacy einen eigenständigen Fragebogen zur Messung der psychischen Gesundheitskompetenz entwickelt. Von Juli bis August 2024 wurden damit bundesweit repräsentativ 2 000 Personen ab 18 Jahren und 500 Auszubildende befragt.
Nach dem Auftreten psychischer Symptome vergehen im Schnitt mehr als acht Jahre, bevor professionelle Hilfe gesucht wird. Die Studienautoren Orkan Okan (TUM) und Kai Kolpatzik (Apotheken Umschau) sehen deshalb dringenden Handlungsbedarf. Die Relevanz der psychischen Gesundheit zeigt sich auch bei den volkswirtschaftlichen Kosten: Nach der letzten vorliegenden Krankheitskosten-Statistik des Statistischen Bundesamtes belaufen sich die Behandlungskosten alleine der Depression auf 9,5 Mrd. Euro, die Produktions- und Ausfallkosten im Jahr 2022 auf 6,9 Mrd. Euro.
Prof. Dr. Orkan Okan, Professur für Health Literacy, School of Medicine and Health der Technischen Universität München, Leiter des WHO Collaborating Centre for Health Literacy: „Die psychische Gesundheitskompetenz ist eine wichtige Determinante für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden. Leider haben über 86 % der Bevölkerung und über 79 % der Auszubildenden eine geringe psychische Gesundheitskompetenz und somit große Schwierigkeiten im Umgang mit Informationen zur psychischen Gesundheit und damit, sich um ihr psychisches Wohlbefinden im Rahmen der Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und Gesundheitsversorgung im Lebensalltag zu kümmern. Die psychische Gesundheitskompetenz muss dringend systematisch und flächendeckend gefördert werden. Idealerweise beginnt die Förderung der psychischen Gesundheitskompetenz schon früh im Lebensverlauf in den Familien, Kitas und Schulen, setzt sich in den Universitäten, Betrieben und den Kommunen fort und berücksichtigt auch die digitalen Lebenswelten der Menschen.“
Prof. Dr. Kai Kolpatzik, Institut für Digitale Gesundheit – SRH University of Applied Sciences Heidelberg, Chief Scientific Officer des Wort & Bild Verlags: „Wenn neun von zehn Menschen massive Schwierigkeiten im Umgang mit Informationen zur psychischen Gesundheit und zu Erkrankungen haben oder bei der Einschätzung, wann eine professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden sollte, dann haben wir ein grundlegendes Problem in Deutschland. Der Handlungsdruck, neue Ansätze und Lösungen zu entwickeln, ist jetzt groß. Dringlicher kann ein Ergebnis nicht ausfallen.“
Die Ergebnisse bestätigen nach Einschätzung der Studienautoren eindrücklich, dass die bisherigen Ansätze zur Verbesserung der psychischen Gesundheit in Deutschland nicht hinreichend sind, sodass neue Lösungswege gefunden werden müssen. Auf dieser Basis müssen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene wie auch auf der Ebene des Gesundheitssystems zielgruppenspezifische Handlungsempfehlungen für die Bereiche Prävention, Empowerment, Entstigmatisierung und Krankheitsmanagement formuliert und Lösungen umgesetzt werden.
Die Ergebnisse erscheinen in der Reihe Apotheken Umschau Impact unter dem Titel „Mentale Gesundheit: Defizite aufdecken – Stigma bekämpfen – Chancen ergreifen“. Erste Lösungsansätze, in denen beispielsweise Apotheken eng mit der Generation Z im Bereich der Aufklärung zusammenarbeiten, werden darin ebenfalls adressiert. Auch aus der Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung wird der Handlungsdruck bestätigt.
Stephanie Engelmann, Mitglied des Vorstandes der KKH Kaufmännische Krankenkasse: „Wir müssen in der Gesellschaft gesunde Verhältnisse schaffen, in denen die psychische Gesundheitskompetenz verbessert werden kann. Das erreichen wir über die Stärkung von Prävention und Selbsthilfe, einer öffentlichen Entstigmatisierung und einer noch effektiveren Versorgung und Betreuung von mental Belasteten und psychisch Erkrankten.“
Zentrale Ergebnisse:
Gesamtbevölkerung
86,1 Prozent der Befragten in der Gesamtbevölkerung verfügen über eine niedrige psychische Gesundheitskompetenz.
Am schwierigsten ist es …
- … für 69,1 Prozent der Befragten zu beurteilen, ob Informationen zu Angeboten zur Bewältigung eines psychischen Problems frei von kommerziellem Interesse sind,
- … für 68,3 Prozent der Befragten zu beurteilen, wann eine professionelle Einschätzung für Anzeichen von psychischen Erkrankungen nötig wäre,
- … für 68,3 Prozent der Befragten zu beurteilen, ob Informationen über psychische Erkrankungen in den Medien vertrauenswürdig sind.
Bei Frauen und Männern, beim Alter oder bei den Einkommensgruppen zeigen sich keine Unterschiede. Menschen mit niedrigerer Bildung oder mit einem Migrationshintergrund fällt der Umgang mit Informationen zur psychischen Gesundheit dagegen etwas schwerer.
Mit 69,9 Prozent geben mehr als zwei Drittel der Befragten an, einen Menschen zu kennen, der eine psychische Erkrankung hat oder hatte – die eigene Person eingeschlossen.
Auszubildende
79,6 Prozent der Auszubildenden in Deutschland verfügen über eine niedrige psychische Gesundheitskompetenz.
Männliche Auszubildende und Auszubildende mit mittlerer Bildung haben eine signifikant bessere psychische Gesundheitskompetenz. Kaum Unterschiede zeigen sich bei den Merkmalen Altersgruppe, Migrationshintergrund sowie zwischen Ost- und Westdeutschland.
Die Publikation „Mentale Gesundheit: Defizite aufdecken – Stigma bekämpfen – Chancen ergreifen“ steht als PDF unter http://apotheken-umschau.de/impact kostenfrei zur Verfügung. Der Berichtsband stellt die Ergebnisse der Studie zur psychischen Gesundheitskompetenz vor und erläutert weitere Aspekte, die mit diesem Thema im Zusammenhang stehen, z. B. die häufige Odyssee vom Symptom bis zum ersten Behandlungstermin oder die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen. Darüber hinaus werden Lösungsangebote aufgezeigt und Empfehlungen auf der Basis der Studienergebnisse abgeleitet.
Über Apotheken Umschau Impact |
Das Format Apotheken Umschau Impact greift wichtige gesundheits- und gesellschaftspolitische Themen auf und gibt ihnen eine authentische Stimme. Neueste Wissenschafts- und Forschungserkenntnisse werden aufbereitet, um Diskussionen in Gang zu setzen, Lösungsvorschläge zu entwickeln und Fortschritte anzustoßen. |
Quelle: Pressemitteilung des Wort & Bild Verlags
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