Nudging für den Arbeitsschutz?
Andere Verhaltensweisen, von denen zwar bei langfristigem Fehlverhalten gesundheitliche Risiken drohen, einmaliges oder kurzfristiges Fehlverhalten aber nicht mit erheblichen Konsequenzen einhergeht, werden dagegen nicht sanktioniert. Stattdessen wird lediglich versucht, die betroffenen Personen durch angemessene Information auf das richtige Verhalten aufmerksam zu machen und so Fehlverhalten zu minimieren. Zu solchen Fehlverhalten zählt beispielsweise eine unergonomische und statische langfristige Sitzhaltung bei der Arbeit.
Dabei unterliegt die Fragestellung, wo der Schutz der persönlichen Freiheit dem individuellen oder kollektiven Gesundheitsschutz vorzuziehen ist, einer permanenten gesellschaftlichen Debatte. So werden bspw. aufgrund neuer Erkenntnisse bestehende Regulierungen abgebaut oder neue geschaffen, wie bei den veränderten gesetzlichen Bestimmungen des Nichtraucherschutzes in den vergangen zwei Jahrzehnten.
Nudging als Mittel zur Verhaltensbeeinflussung
Seit einigen Jahren ist nun ein Konzept aus der Verhaltensökonomie in der fachlichen und gesellschaftlichen Diskussion, das ebenfalls für den Gesundheitsschutz eingesetzt wird, und auf den ersten Blick aber nicht in diese Dichotomie zu passen scheint: Das Konzept des Nudgings. Spätestens seit einer der Begründer des Konzepts dafür 2017 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde, wird Nudging in vielen Bereichen teilweise kontrovers diskutiert.Der breiten Öffentlichkeit zum ersten Mal in ihrem Buch „Nudge“ [1] vorgestellt, beschreiben die Begründer des Konzepts Richard Thaler und Cass Sunstein Nudges als jegliche Gestaltung von Entscheidungsmöglichkeiten (Choice Architecture), die das Verhalten einer Person auf vorhersehbare Weise verändern, ohne dabei Wahlmöglichkeiten zu erzwingen oder finanzielle Anreize zu setzen. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass die menschliche Entscheidungsfindung von kognitiven Verzerrungen beeinflusst ist, die auf kognitiven Grenzen, Routinen und Gewohnheiten beruhen. Eben diese Mechanismen nutzen Nudges, um durch die Umgebungsgestaltung Entscheidungen in eine intendierte Richtung zu beeinflussen [2]. Zu diesen Mechanismen zählen bspw. soziale Normen, also das Anpassen des eigenen Verhaltens an das Verhalten und die Werte der Mitmenschen. Aber auch Bequemlichkeit ist eine Eigenart des Menschen die dafür genutzt werden kann, um Verhalten zielgerichtet zu beeinflussen. Gesunde Nachtische wie Obst werden in Kantinen bspw. öfter konsumiert, wenn sie auf Augenhöhe liegen.
In der vergangenen Legislaturperiode gründete auch die Bundesregierung eine Arbeitsgruppe zum „Wirksamen Regieren“, die sich auf das Konzept des Nudgings stützt und eine bessere Umsetzung von Handlungsempfehlungen fördern soll. Diese Maßnahme wurde in der Öffentlichkeit auch kritisch wahrgenommen und diskutiert [3]. Dabei standen vor allem Assoziationen mit Aspekten der Manipulation und Bevormundung im Vordergrund.
In anderen Ländern wie bspw. Großbritannien hat sich das Konzept seit längerem etabliert. In einem vielbeachteten Beispiel hat die britische Regierung gezielt soziale Normen in Steuerbescheiden verwendet, um eine möglichst hohe Quote an pünktlichen Steuerzahlungen zu erreichen [4]. Dabei wurde auf die hohe Anzahl der anderen Bürger aus der Nachbarschaft hingewiesen, die ihre Steuer pünktlich gezahlt hatten.
Nudging im Arbeitsschutz?
Um Chancen und Risiken des Ansatzes für sicheres und gesundes Verhalten bei der Arbeit zu untersuchen, führte die BAuA eine Reihe von Laborexperimenten im Rahmen eines mehrjährigen Projektes durch ([5], siehe auch sicher ist sicher, Ausgabe Januar 2014). Im finalen Forschungsversuch wurden dabei insgesamt 90 Personen bei einer simulierten Arbeitsaufgabe mit unterschiedlichen Nudgingstrategien konfrontiert, die sie zu sicherem Verhalten animieren sollten. Dabei wurden die Verhaltensauswirkungen der Strategie und insbesondere die zeitliche Stabilität von möglichen Verhaltensänderungen untersucht.Konkret wurde den Probanden die Aufgabe gestellt, in Zusammenarbeit mit einem Leichtbauroboter elektrische Steckbretter zu montieren. Die Arbeit mit einem kollaborativen Roboter wurde als Experimentalsetting gewählt, da sie in der Fachcommunity aktuell genau solche Fragen zu sicherem Verhalten und angemessener Regulation aufwirft, wie sie bereits oben erörtert wurden.
Die Instruktion der Probanden bestand darin, Teile vorzubereiten, die dann von dem Roboterarm weiterverarbeitet werden. Nach dem Zusammenbau durch den Roboter sollten die Personen ein neues Steckbrett und die dazugehörigen Teile bereitstellen und der Arbeitszyklus beginnt von vorne. Insgesamt wurden im Rahmen eines Durchganges so 14 Bretter montiert.
Die Arbeit des Roboters begann dabei bei einem entsprechenden Knopfdruck der Probanden. Als Sicherheitsverhalten wurden die Probanden angewiesen, den geteilten Versuchsbereich, der sowohl vom Roboter als auch vom Probanden erreichbar ist, nicht zu benutzen, solange der Roboter noch aktiv arbeitete. Die vermeintliche Bedrohung entsteht somit durch die mögliche Kollision mit dem Roboter, während das Sicherheitsverhalten eine instruktionsgemäße separate Nutzung des geteilten Arbeitsbereiches darstellt.
Tatsächlich waren die Versuchspersonen selbstverständlich zu keinem Zeitpunkt einer realen Gefährdung ausgesetzt, da der Roboterarm mit einer automatischen Stopfunktion im Kollisionsfall ausgestattet ist, mit einer relativ niedrigen Geschwindigkeit und einem stumpfen Werkzeug betrieben wurde. Zusätzlich wurde der Arbeitsbereich auf Kopfhöhe von einer transparenten Wand umgeben.
Um ein Dilemma zu erzeugen, in dem sich die Probanden zwischen sicherem und unsicherem Verhalten entscheiden müssen, wurde den Personen ein Bonus für schnelle Bearbeitung versprochen. Das Erreichen des Bonus stand damit in direktem Konflikt mit dem vermeintlich sicheren aber zeitintensiven Warten auf den Roboter.
In einer Kontrollgruppe führten Probanden diese Aufgabe ohne weitere zusätzliche Hinweise aus, um einen Referenzwert für die mögliche Wirksamkeit von Nugdingstrategien zu haben. Diese wurden in zwei weiteren Bedingungen eingesetzt. In einer Gruppe wurden die Personen von einem Assistenzsystem zum jeweiligen Zeitpunkt an die Einhaltung des Sicherheitsverhaltens erinnert, also sobald der Roboter mit seinen Arbeitsschritten begann. In der letzten Gruppe erhielten die Probanden nach jedem Arbeitsschritt des Roboters ein Feedback zur Einhaltung bzw. Nicht-Einhaltung des Sicherheitshinweises. Sowohl Erinnerungsfunktion als auch Feedback wurden mithilfe eines virtuellen menschenähnlichen Avatars dargestellt. Dabei beruhte der Wert des Nudgings weniger in dem reinen Informationsgehalts des Feedbacks und der Erinnerungen, reine Informationen hatten in vorherigen Experimenten keinen Einfluss auf das Verhalten. Vielmehr nutzten die Feedbacks die Nudgingstrategie des sozialen Drucks durch gezeigte Emotionen, indem bei richtigem Verhalten ein bestätigendes Lächeln gezeigt wurde, bei Fehlverhalten dagegen eine negative Emotion.
Die Einhaltung oder aber die Verstöße gegen diese Sicherheitsvorschrift wurden mithilfe eines Lichtgitters automatisch erfasst.
Um die zeitliche Stabilität möglicher Verhaltensauswirkungen in den Gruppen zu prüfen, wurde ein zweiter Durchlauf durchgeführt, bei dem alle Probanden die Aufgabe nach einer Pause noch einmal durchführen sollten. Diesmal erhielt jedoch keine Gruppe zusätzliche Hinweise oder Nudges. Diese zusätzliche Untersuchung sollte prüfen, ob Nudges Verhalten auch über die eigentliche Darbietungszeit hinaus beeinflussen können, oder ob eine mögliche Verhaltensänderung unmittelbar nach dem Nudge wieder verschwindet.
Nach Abschluss des Versuches wurden die Verstöße gegen die Sicherheitsregel in den verschiedenen Gruppen ausgezählt und miteinander verglichen. Die Mittelwerte des tatsächlich gezeigten Sicherheitsverhaltens der Probanden sind in Abbildung 2 dargestellt (s. PDF). Aus dem Diagramm geht hervor, dass von den 14 zu montierenden Steckbrettern die Probanden der Feedbackgruppe im Durchschnitt bei drei Steckbrettern gegen die Sicherheitsvorkehrungen verstießen. Die höchste Anzahl falsch gesteckter Bretter in dieser Gruppe liegt bei acht.
Die Verstöße in der Reminder- und Kontrollgruppe zeigen mit etwas unter 5 Verstößen ein nahezu gleiches Sicherheitsverhalten auf. Die Höchstanzahl falsch gesteckter Bretter liegt mit fast zehn ebenfalls sehr nah bei einander.
Anhand der Mittelwerte lässt sich der Schluss ziehen, dass es keine sichtbaren Unterschiede in der Anzahl der Sicherheitsverstöße zwischen der Reminder- und der Kontrollgruppe gibt. In der Feedbackgruppe wurden weniger Verstöße gegen das Sicherheitsverhalten begangen, die Anzahl der Verstöße war um etwa 40 % geringer.
Um wie oben beschrieben die zeitliche Stabilität zu überprüfen, wurde nach den Interventionen durch Feedback und Erinnerung ein weiterer Durchgang durchlaufen. Die Anzahl der Verstöße in der Phase 1 (mit Nudging) und Phase 2 (ohne Nudging) für die Strategie des Feedbacks ist in Abbildung 3 dargestellt (s. PDF). Dabei steigen die Verstöße für alle Gruppen leicht zur Phase 2 hin an, ansonsten zeigt sich dasselbe Muster wie in Phase 1. In der Nudginggruppe kommt es auch dann zu etwa 40 % weniger unsicheren Verhaltensweisen, als das Nudging nicht mehr durchgeführt wurde.
Die Ergebnisse liefern einen Hinweis auf eine Beeinflussung durch die Feedbackassistenz, denn diese Nudgingstrategie führte zu einer geringeren Anzahl an Sicherheitsverstößen im Vergleich zur Kontroll- und Remindergruppe. Gleichzeitig lassen die Unterschiede in der beobachteten Höhe, auch aufgrund der überschaubaren Personenzahl von 90 Probanden und der hohen Streuung des individuellen Verhaltens keine statistisch abgesicherte Interpretation der Ergebnisse zu.
Chancen, Grenzen und Fazit
Kann nun persuasive Technologie ein Mittel der Gestaltung auch für den Arbeitsschutz sein? Die Forschungsergebnisse zu Nudges allgemein und des Forschungsprojektes der BAuA zum Einsatz für den Arbeitsschutz liefern Anhaltspunkte, dass Nudges Personen prinzipiell zu sicherem und gesundem Verhalten bei der Arbeit animieren können.Bei der Einordnung von Nudges in Arbeitsschutzhandeln müssen jedoch mindestens drei Dinge einschränkend berücksichtigt werden:
(1) die Maßnahmenhierarchie gemäß dem TOP-Prinzip,
(2) die Anwendung auf Verhalten mit einem nicht zu hohen Schadensrisiko sowie
(3) eine ethisch vertretbare Ausgestaltung der Nudges.
Gemäß dem TOP-Prinzip des Arbeitsschutzes sind Gefährdungen und Fehlbelastungen zunächst durch eine entsprechende technische Gestaltung der Arbeitsmittel auszuschalten, wie bspw. emissionsarme Maschinen. Solche Risiken oder Fehlbelastungen, die nicht auf dieser Ebene aufzuheben sind, werden wiederum durch organisatorische Maßnahmen minimiert, wie bspw. Arbeitsplatzrotationen, um einseitige Dauerbelastungen zu vermeiden. Erst solche Missstände, die weder durch technische noch durch organisatorische Maßnahmen behoben werden können, müssen durch personenbezogene Verhaltensmaßnahmen beseitigt werden, wie bspw. das Benutzen von Schutzausrüstung.
Nudges als verhaltensändernde Maßnahmen beziehen sich dabei automatisch auf die letzte Ebene, dem individuellen Verhalten. Keinesfalls können Nudges geeignet sein, Arbeitsschutzmaßnahmen der technischen oder organisatorischen Ebene zu ersetzen, und sollten auch nicht dazu verwendet werden.
Wie in den Ergebnissen des geschilderten Experiments und Forschungsergebnissen zu Nudges in anderen Lebensbereichen zu sehen, schaffen Nudges es nur sehr selten, das unerwünschte Verhalten vollständig zu vermeiden. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil die Entscheidung ja explizit bei der Person bleibt und bleiben soll.
Für solche Fehlverhalten, deren Schadensrisiko extrem hoch ist, können sanfte Maßnahmen wie Nudges daher keine geeignete Gegenmaßnahme darstellen, da sie kein vergleichbares Schutzniveau wie Ge- und Verbote kombiniert mit konsequentem Vollzug sicherstellen können. Dies gilt sowohl bei extremer Eigengefährdung als auch Fremdgefährdung. Besonders kritisch sind dabei solche Verhalten einzustufen, bei denen schon einzelne Fehlhandlungen schwere Konsequenzen nach sich ziehen können, wie bspw. das nicht sachgerechte Benutzen von Maschinen.
Andererseits stellen Nudges aber auch keinen so hohen Eingriff in die persönliche Freiheit der Beschäftigten dar wie Verbote, weshalb sie für Verhalten mit weniger massiven Konsequenzen eine adäquatere Gegenmaßnahme als Verbote darstellen können. Dazu zählen vor allem Verhalten bei denen einzelne Fehlhandlungen nur selten mit Konsequenzen einhergehen, langfristiges Fehlverhalten aber einen spürbaren Effekt hat, wie bspw. das erwähnte ergonomische Sitzen.
Schließlich müssen vor allem auch ethische Aspekte berücksichtigt werden. Nudging bewegt sich als verhaltensändernde Maßnahme besonders immer dann nah am Bereich der Manipulation, wenn entweder die Nudgingmaßnahmen selbst oder aber die angestrebten Verhaltensweisen der Personen nicht transparent sind. Nudges sollten daher selbst nur wahre Informationen beinhalten und eindeutig interpretierbar sein. Auch das Verhalten, zu dem die Nudges anregen soll, muss erkennbar sein, damit die Betroffenen letztlich selbst entscheiden können und so die Souveränität über das Verhalten weiter innehalten. In ähnlicher Weise betonte auch einer der Begründer des Nudgings, Sunstein, während seiner Rede im Kanzleramt 2015 die Wichtigkeit von Transparenz und Neutralität [3]. Schließlich muss sichergestellt sein, dass das erklärte Ziel und der Nutzen den Eingriff in die persönliche Freiheit rechtfertigt. Im Bereich des Arbeitsschutzes kann dabei davon ausgegangen werden, dass das Ziel des Nudgings, Sicherheit und Gesundheit, prinzipiell einen solchen Eingriff rechtfertigt. Dies wird bspw. daran deutlich, dass auch stärkere Eingriffe in die persönliche Freiheit wie Verbote und Sanktionen für den Gesundheitsschutz bereits eingesetzt und gesellschaftlich akzeptiert sind. In diesem Punkt sind dabei vor allem Maßnahmen des Marketings ethisch zu hinterfragen, bei denen es um eine gezielte Einflussnahme auf das Kaufverhalten geht. Schließlich muss die Maßnahme tatsächlich auch geeignet sein, das intendierte Verhalten und damit das Ziel der Sicherheit und Gesundheit zu fördern. Kann sie es nicht oder verursacht sogar schädliche Effekte, steht dem potenziellen Eingriff in die persönliche Entscheidungsfindung kein Nutzen für die Personen gegenüber und ist daher zu unterlassen.
Werden all diese Aspekte adäquat berücksichtigt, kann Nudging als ergänzendes Verfahren zu den bewährten Werkzeugen des Arbeitsschutzes in der Verhaltensprävention eingesetzt werden, um sicheres und gesundes Verhalten in der betrieblichen Praxis zu fördern.
Literatur
[1] Thaler, R. H., & Sunstein, C. R. (2009). Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness. New York: Penguin Books[2] Hansen, P. G., et al. (2016). "Making healthy choices easier: regulation versus nudging." Annual review of public health 37: 237-251.
[3] https://www.welt.de/wirtschaft/article138326984/Merkel-will-die-Deutschen-durch-Nudging-erziehen.html, Stand 16.04.2018
[4] https://www.bloombergquint.com/politics/2017/06/10/uk-the-nudge-unit-uses-behavioural-science-to-influence-policy-outcomes-such-as-improved-tax-collections-and-pension-enrolment, Stand 16.04.2018
[5] M. Hartwig: Sicher und gesund durch persuasive Technologien?. Laborexperimentelle Untersuchungen zum Einfluss persuasiver Assistenzsysteme auf sicheres und gesundheitsgerechtes Verhalten bei der Arbeit
Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2017.
| Der Autor |
| Dr. rer nat. Matthias Hartwig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gruppe Human Factors, Ergonomie in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. Arbeitsschwerpunkte umfassen die soziotechnische Gestaltung von Arbeitssystemen sowie Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens. |
Programmbereich: Arbeitsschutz