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Bundessozialgericht: Gebrauchsvorteile einer Prothese mindern Verletztenrente nicht (Foto: Prazis/Fotolia.com)
Minderung der Erwerbstätigkeit

Nusser und Spellbrink: „MdE-Tabellen sind zu verrechtlichen”

ESV-Redaktion Recht
01.11.2017
Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) ist die Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE) nicht aufgrund von technisch verbesserten Prothesen herabzusetzen. Dr. Anna Nusser und Prof. Dr. Wolfgang Spellbrink nehmen dies zum Anlass, in der Fachzeitschrift SGb die rechtsdogmatische Einordnung der MdE-Tabellen zu hinterfragen.
Die Entscheidung des BSG sei mit Spannung erwartet worden, so Nusser und Spellbrink. In dem betreffenden Fall hatte der Kläger im Jahr 1998 als Schüler einen Unfall. Aufgrund dessen musste sein linkes Bein im Bereich des Oberschenkels amputiert werden. Sein Unfallversicherungsträger stellte ihm daher eine Prothese. Darüber hinaus zahlte der der Versicherer dem Kläger anfangs eine Verletztenrente wegen einer Erwerbsminderung von 70 Prozent. Im März 2006 erhielt der Kläger dann ein sogenanntes „C-LeG”. Dies ist eine mikroprozessorgesteuerte Oberschenkelprothese.  

Der Unfallversicherungsträger meinte daher, dass deshalb die Verletztenrente um 10 Prozent zu kürzen wäre. Diese Kürzung wollte der Versicherer mit einer deutlichen Funktionsverbesserung des linken Beines und die hierdurch verbesserten Erwerbsaussichten rechtfertigen. 

Hintergrund - MdE-Tabellen: Minderung der Erwerbsfähigkeit 
  • Anwendung: In der Praxis sind die MdE-Tabellenwerte wichtig zur Bestimmung der Rentenhöhe 
  • Rechtliche Grundlagen: Einschlägig sind insoweit vor allem die §§ 56 und 73 SGB VII. 
  • Berechnungsfaktoren: Die Höhe einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen dauerhafter gesundheitlicher Beeinträchtigungen ergibt sich aus den Berechnungsfaktoren Jahresarbeitsverdienst und Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), die in Tabellen eingearbeitet sind.
  • Keine Differenzierung nach technischem Fortschritt: Die MdE-Tabellen differenzieren aktuell aber nicht nach dem technischen Fortschritt und den daraus resultierenden Gebrauchtsvorteilen der Prothese.

Vorinstanz sieht keine wesentlichen Gebrauchsvorteile

Die Vorinstanz, das Landessozialgericht (LSG) Mecklenburg-Vorpommern habe dann entschieden, dass die Voraussetzungen für die Herabsetzung des MdE-Grades nicht erfüllt wären, fahren die Autoren fort. Danach würden die Gebrauchsvorteile der neuen Prothese keine wesentlichen Änderungen herbeiführen.

Auch BSG setzt MdE-Tabellenwerte nicht herab

Diesem Ergebnis habe sich der 2. Senat des BSG angeschlossen. Damit hätte der Senat aber vor der Frage gestanden, ob die MdE-Tabellen als solche korrigiert werden müssten, weil die Tabellen etwaige Gebrauchsvorteile nicht bewerten, führen Nusser und Spellbrink weiter aus.
  • Hierbei musste der Senat berücksichtigen, dass er bisher in ständiger Rechtsprechung die Feststellung von MdE-Graden als reine Tatsachenfeststellungen angesehen hat.
  • Dies sollte allein den Instanzgerichte vorbehalten bleiben und nur im Einzelfall auf eine zulässige und begründete Verfahrensrüge hin revisionsrechtlich überprüft werden können.

Keine endgültige rechtsdogmatische Einordnung der Tabellen

Im Weiteren wäre der Senat seiner bisherigen Linie treu geblieben und habe die Aussagen der Tabellen als „generelle Tatsachen” angesehen, die grundsätzlich von einem Revisionsgericht überprüft werden können.

Revisionsrechtlich relevanter Prüfungsmaßstab wäre somit die Frage, ob diese generellen Tatsachen als Erfahrungswerte offensichtlich unrichtig sind. Dies, so die Verfasser weiter, sei anhand des neuesten Standes von Wissenschaft und Technik zu ermitteln. Damit hat der Senat nach Meinung der Autoren aber eine endgültige rechtsdogmatische Einordnung vermieden.

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Nusser und Spellbrink: MdE-Tabellen haben Charakter von materiellen Rechtssätzen

Nach einer Skizzierung der Inhalte und der Herkunft der MdE-Tabellen, einer Aufbereitung der rechtlichen Kategorisierung in Rechtsprechung und Literatur kommen Nusser und Spellbrink dann zu dem Zwischenergebnis, dass diese zwar den Charakter von materiellen Rechtssätzen hätten. Allerdings fehle ihnen derzeit die formelle Legitimation. Eine Einordnung der MdE-Tabellen in die klassische Rechtsquellenlehre wäre daher nur schwer möglich. Hierzu schlagen sie folgende Lösungsansätze vor:

Ausgangspunkt: Bindung aller Staatsgewalt an Recht und Gesetz

  • Anforderungen von Art. 20 Absatz 3 GG sind zu erfüllen: Aus alledem ziehen die Autoren den Schluss, dass die Tabellen den Anforderungen von Art. 20 Absatz 3 GG entsprechen müssen. Das verankerte Rechtsstaatsprinzip fordere eine Bindung sämtlicher Staatsgewalt an Recht und Gesetz. Für das Sozialrecht würde § 31 SGB 1 klarstellen, dass der Vorbehalt des Gesetzes auch in der Leistungsverwaltung gilt.
  • Aber - gesetzliche Delegationsnorm ausreichend: Allerdings wäre es nicht erforderlich, dass der parlamentarische Gesetzgeber die Bestimmung der MdE-Tabellen selbst in allen Einzelheiten regelt. Ausreichend wäre insoweit eine gesetzliche Delegationsnorm, die den Erfordernissen von Art. 80 GG genügt. Diese könnte dann den Bundesminister für Arbeit und Soziales zu einer entsprechenden Rechtsverordnung (VO) ermächtigen.
  • Die Inhalte der VO: Die VO könnte dann unter anderem die entsprechenden Verfahrensregelungen zur Ermittlung der Tabellenwerte und zur Zusammensetzung des Gremiums, das den erforderlichen sozialmedizinischen und arbeitsmarktsoziologischen Sachverstand einbringt, enthalten.
  • Vorbild Versorgungsrecht: Als Vorbild hierfür sehen die Autoren das Versorgungsrecht an. Hier habe vor Erlass der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) unter Geltung der „Anhaltspunkte  für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht” (AHP) eine ähnliche Situation bestanden. Der Gesetzgeber könnte also durchaus auf die Erfahrungen bei der Verrechtlichung der AHP zurückgreifen. 
Weitere Einzelheiten zur konkreten Vergleichsituation im Versorgungsrecht und eine kritische Überprüfung des bisherigen Verständnisses der Tabellen durch die Autoren finden Sie in der Fachzeitschrift SGb, Ausgabe 10.17
Bereiter-Hahn

Datenbank - Gesetzliche Unfallversicherung

Begründet von: Dr. jur. Werner Bereiter-Hahn
Bearbeitet von: Prof. Dr. jur. Gerhard Mehrtens

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(ESV/bp)

Programmbereich: Sozialrecht und Sozialversicherung