
Psychische Belastungen in der Arbeitswelt 4.0
Sie haben im Erich Schmidt Verlag erfolgreich mehrere Auflagen Ihres Buches „psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ veröffentlicht. Warum jetzt explizit „Psychische Belastungen in der Arbeitswelt 4.0“ statt einer Neuauflage? Welche neuen Belastungsfaktoren und Formen psychischer Belastungen haben Sie identifiziert?
Poppelreuter/Mierke: Wir sehen insbesondere Veränderungen in der Art der Belastungen, die sich an vielen Stellen auf die zunehmende Digitalisierung zurückführen lassen. Viele „klassischen“ Belastungsfaktoren ausgesetzte Arbeitsplätze sind mittlerweile automatisiert. Das wertet menschliche Tätigkeiten auf, macht sie aber eben auch komplexer. Die enorme Beschleunigung dieser Entwicklungen und die globale Vernetzung von Wissen verkürzen die Halbwertzeit von Kenntnissen und Fertigkeiten. Der regelmäßige Weiterbildungsbedarf ist enorm, die Anforderungen an Dokumentation und Controlling steigen. In vielen Bereichen wächst die räumliche und zeitliche Flexibilität im Arbeiten, inklusive Mobilitätsanforderungen, die aus global vernetzten Prozessen resultieren. Bei allen Vorteilen geht damit eine Entgrenzung zwischen Job und Privatleben einher, die es erschwert, sich Erholungsräume und -zeiten zu sichern. Passend zur räumlichen Flexibilisierung entstehen neue Bürokonzepte, die bei aller Agilität keineswegs belastungsfrei sind. Die Liste ließe sich fortsetzen, und die ganze Dynamik schlägt sich nicht zuletzt im zwischenmenschlichen Kontakt nieder. Kommunikation und Konflikte bleiben als Themen mehr denn je präsent.Gerade Führungskräften kommt bei der Bewältigung psychischer Belastungen eine Doppelrolle zu: Einerseits sollen sie neue Verhaltensmuster in der Belegschaft begleiten und umsetzen helfen, andererseits müssen sie selbst umlernen oder sind Teil des Problems. Wie kann das gut gewährleistet werden?
Poppelreuter/Mierke: Durch eine konsequente Begleitung. Da sich viele Unternehmen seit einiger Zeit in einer Art Perma-Change, also kontinuierlichen und oft tiefgreifenden Veränderungsprozessen befinden, sind Führungskräfte als Vorbilder, Entscheidungsträger und Schnittstellen-Kommunikatoren besonders gefordert. Workshops als Raum für begleiteten kollegialen Austausch, Trainings, Coaching und andere flankierende Personalentwicklungsmaßnahmen sensibilisieren und unterstützen, damit z. B. Kommunikation wirklich gelingt und Konflikte nicht eskalieren. Teil des Problems werden Führungskräfte meist, wenn die Unternehmenskultur inkonsistent ist, z. B. auch bezogen auf Selbstfürsorge. Oder wenn Wandel von „ganz oben“ verordnet wird, ohne dass Hintergrund und Ziele erläutert werden. Nur wenn Neuerungen sinnstiftend sind und sich Führungskräfte selbst gut geführt fühlen, können sie Ideen authentisch vorleben und positiv in ihre Teams transportieren.Welche Konzepte gibt es, um Beschäftigte mit psychischen Belastungen in den Betrieben arbeitsfähig zu halten oder zu machen? Erst vereinzelt hört man beispielsweise von Betrieben, die Rückzugsräume für an Depressionen erkrankte Mitarbeitende stellen. Müssen wir das nicht zukünftig viel stärker bedenken?
Poppelreuter/Mierke: Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Betriebe ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Erfassung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz nachkommen würden. Die Durchdringungsquote ist hier auch Jahre nach der Einführung des Gesetzes leider immer noch nicht sehr hoch. Dabei sind solche Datenerhebungen von grundlegender Bedeutung für die Erkennung von psychisch belastenden Arbeitsplätzen bzw. entsprechend belasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Erst auf dieser Basis lassen sich sinnvolle, zielführende und sowohl effektive als auch effiziente Maßnahmen zur Intervention ableiten. Mehr noch als physische Belastungen am Arbeitsplatz sind psychische Belastungen sehr individuell zu betrachten. Daher helfen oft auch keine pauschalen Maßnahmen, sondern es müssen für jeden Einzelnen „passende“ Hilfestellungen gefunden werden. Das können Stressbewältigungstrainings genauso sein wie Unterstützungen in der Arbeitsorganisation und dem Zeitmanagement, aber auch Teamentwicklungsmaßnahmen oder Einzelcoachings. Liegt tatsächlich eine psychische Erkrankung vor, ist den Betroffenen ein systematischer Betrieblicher Wiedereingliederungsprozess anzubieten. Hier wird dann im individuellen Fall geschaut, was „das Beste“ für die Betroffenen wie für den Betrieb gleichermaßen ist.Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Themen im Arbeits- und Gesundheitsschutz für die nähere Zukunft?
Poppelreuter/Mierke: Durch die fundamentalen Veränderungen in der Arbeitswelt – technologischer, prozessualer, soziodemographischer und nicht zuletzt auch ethisch-moralischer Natur – werden sich vielfältigste neue Herausforderungen für die Unternehmen, deren Führungskräfte und die Belegschaften ergeben. Die Digitalisierung führt zu völlig neuen Arbeitsformen und –prozessen. Die so mögliche zunehmende Entkoppelung von Arbeitszeit und -ort fordert nicht nur den Einzelnen heraus, sondern sie bedingt auch ein völlig neues Verständnis von Führung. Dies berührt Themen wie Vertrauen, Motivation und Identifikation mit meiner Arbeit. Für viele junge Menschen – gerade in den westlichen Industrienationen – stellt sich die Sinnfrage in Bezug auf die Arbeit noch dringlicher als in vorangehenden Generationen. Andererseits wird Arbeit immer unsicherer. Langjährige Betriebszugehörigkeiten werden seltener, Wechsel der Tätigkeitsfelder, ja sogar des Berufes häufiger. Das erfordert Flexibilität, Agilität, Risikobereitschaft und auch Neugier bei jedem Einzelnen. Kompetenzen, die uns nicht unbedingt in die Wiege gelegt werden und die wir aktiv entwickeln müssen, um den Herausforderungen einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt und den sich daraus ergebenden riesigen Chancen und Möglichkeiten selbstbewusst begegnen zu können.Programmbereich: Arbeitsschutz