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BU: Zu wenige Berechtigte hatten eine realistische Chance am Wahltag in Präsenz zu wählen (Foto: Robert Kneschke / stock.adobe.com)
Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den BVVen

VerfGH Berlin: Wahlen von 2021 müssen vollständig wiederholt werden

ESV-Redaktion Recht
16.11.2022
Der Verfassungsgerichtshof (VerfGH) Berlin hat die Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen), die im September 2021 stattfanden, mit Urteil vom 16.11.2022 für ungültig erklärt. Nach der Entscheidung müssen die Wahlen aufgrund zahlreicher Pannen komplett wiederholt werden.
Mit seinem obigen Urteil hat der Berliner VerfGH seine Einschätzung, die er am 28.09.2022 im Rahmen der mündlichen Verhandlung äußerte, im Wesentlichen bestätigt. Die tragenden Gründe des Gerichts: 

Organisationsfehler

Hauptgründe für die Beanstandung sind massive Organisationsprobleme bei den Wahlen am 26.09.2021. Dies verdeutlicht das Gericht an folgenden Beispielen:  

  • Nicht genügend Wahllokale: Nach den realitätsfremden Prognosen der Landeswahlleitung zur Dauer der Wahlhandlung von rund drei Minuten je Wahlberechtigtem konnten pro Wahllokal nur 472 Personen in Präsenz wählen. Tatsächlich wahlberechtigt waren am Wahltag in jedem Wahllokal aber im Durchschnitt 1.085 Personen. Rein rechnerisch hätten somit damit günstigstenfalls rund 40 Prozent der Wahlberechtigten eine wirklichkeitsnahe Chance  gehabt, zu wählen. Bei realistischeren Prognosen zur Dauer der Wahlhandlung von etwa fünf Minuten hätten wohl nur noch 26 Prozent der Wahlberechtigten erfolgreich zur Urne gehen können. Angesichts dessen war am Wahltag eine ordnungsgemäße Wahl nicht mehr gewährleistet, so das Gericht hierzu.
  • Vertauschte Stimmzettel: Schon im Vorfeld der Wahl wurde bekannt, dass im Zuge des Druckprozesses Stimmzettel vertauscht wurden. Dennoch hatten nicht alle Bezirke die Stimmzettel überprüft. Damit wurden in mindestens fünf von zwölf Bezirken Stimmzettel für einen anderen Wahlkreiskreis ausgegeben. Hierdurch wurden auf falschen Stimmzetteln abgegebene Stimmen ungültig und faktisch damit Wähler von der Wahl ausgeschlossen.
  • Nicht genügend Stimmzettel: Darüber hinaus hatten einige Bezirkswahlämter den Wahlvorständen nicht vorher alle benötigten Stimmzettel ausgehändigt. Die Folge: Die betroffenen Wahllokale waren unterversorgt. Auch bei den Nachbelieferungen kam es zu erheblichen Verzögerungen. Dies führte zu zwischenzeitlichen Schließungungen einiger Wahllokale, und zwar zum Teil ohne Hinweise, wann mit einer erneuten Öffnung zu rechnen wäre. Andere Wahlkreise gaben Kopien von Stimmzetteln aus, mit der Folge, dass diese ungültig waren, weil sie die gesetzlichen Vorgaben nicht erfüllen. Auch konnten die betroffenen Bezirkswahlämter keine Angaben zur Zahl der Kopien machen.

Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt 

Nach Ansicht des Gerichts steht deshalb fest, dass tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme entweder gar nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten. Demzufolge sind die in der Berliner Verfassung verankerten Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt.
 
Mehr zum Thema 29.09.2022
Berliner Wahlen vom September 2021: VerfGH erwägt Wahlwiederholung

Wie die Pressestelle des Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) Berlin mitteilt, hat das Gericht am 28.09.2022 öffentlich über Teile der Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) vom 26.09.2021 verhandelt. Am 16.11.2022 will der VerfGH hierüber eine Entscheidung verkünden.  mehr …


Mandatsrelevanz

Die aufgezeigten Fehler sieht der VerfGH Berlin auch als mandatsrelevant an. Dieses Tatbestandsmerkmal liegt vor, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass Wahlfehler die Sitzverteilung beeinflusst haben. Davon ist nach Ansicht des Gerichts auszugehen, denn die von Fehlern betroffenen Stimmen lassen sich näherungsweise ermitteln, indem man die Anzahl der dokumentierten Wahlfehler zusammenfasst. Insoweit berücksichtigt der VerfGH:
 
  • 5456 nicht ausgegebene Stimmzettel,
  • 4002 Falsche Stimmzettel,
  • und mehrere tausend kopierte Stimmzettel.
Hinzu kommen Wahlunterbrechungen von 6.294 Minuten und eine Dauer von 21.941 Minuten für Wahllokale, die nach 18 Uhr noch geöffnet waren.
 
Daraus ergibt sich, so das Gericht weiter, dass mindestens 20.000 bis 30.000 Stimmen von Wahlfehlern betroffen sind. Die Ungewissheit, wie sich diese Stimmen bei einem ordnungsgemäßen Wahlablauf verteilt hätten, führt zu zahlreichen Möglichkeiten der Beeinflussung der Sitzverteilung. In einigen Wahlkreisen hätten schon dreistellige Zahlen von verändert abgegebenen Stimmen ausgereicht, um die Sitzverteilung zu verändern.
 
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Keine punktuelle Wahlwiederholung

Würden die Wahlen nur punktuell wiederholt, käme der verfassungsrechtliche Grundsatz, nach dem das Gesamtergebnis einer Wahl eine einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zu einem bestimmten Zeitpunkt sein soll, nicht zum Tragen.

Zudem würde eine nur teilweise wiederholte Wahl zu einer unangemessen großen Gestaltungsmacht einer Minderheit der Wahlberechtigten führen, denn diese könnten ihre Wahlentscheidung an den politischen Ereignissen seit der ursprünglichen Wahl neu ausrichten.
 

Koppelungsgebot führt auch zur Ungültigkeit der Wahlen zu den BVVen

Aufgrund des Koppelungsgebots nach Art. 70 Abs. 1 Satz 1 der Berliner Verfassung (VvB) sind auch die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) für ungültig zu erklären, führt das Gericht weiter aus.

Wie die obersten Verfassungshüter des Landes Berlin hervorheben, basiert ihre Entscheidung auf der Durchsicht von 2.256 Protokollen aus sämtlichen Berliner Wahllokalen, den Daten, die die Landeswahlleitung zur Verfügung gestellt hatte und einer Sichtung von etwa hundert Schriftsätzen der insgesamt über 3.000 Verfahrensbeteiligten.
 
Abschließend betonte das Gericht, dass die Ungültigkeitserklärung zwar der weitestgehende Eingriff sei. Dem VerfGH Berlin zufolge kann aber nur so eine Zusammensetzung der zu wählenden Gremien nach demokratischen Prinzipien sichergestellt werden.
 
Quelle: PM des VerfGH Berlin vom 16.11.2022 zum Urteil vom selben Tag – VerfGH 154/21; 156/21; 171/21 und 172/21



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(ESV/bp)

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