
Warum führen Betriebe keine Gefährdungsbeurteilungen durch?
Die Antwort lautet nicht: „Weil Hilfe stellungen fehlen!“... Befragt nach möglichen Gründen der Nichtdurchführung von Gefährdungsbeurteilungen
wird von den Betrieben am seltensten das Fehlen von Hilfestellungen genannt. Nur rund 14 % der Betriebe macht dies geltend. Ein ähnlich geringer Anteil von Betrieben führt unklare gesetzliche Anforderungen an; ein Viertel der Betriebe sieht in der Unkenntnis von Vorschriften einen Grund für eine fehlende Gefährdungsbeurteilung. Mehr als jeder vierte Betrieb ohne Gefährdungsbeurteilung macht diese Aussagen. Zwischen Betrieben aus dem Produktionsbereich und aus dem Dienstleistungsbereich gibt es Unterschiede von 5 % bei den Gründen „fehlende Hilfestellungen und „unklare gesetzliche Anforderungen“. Bei der Bedeutung mangelnder Kenntnis der Vorschriften unterscheiden sich die Sektoren nicht.
... vielmehr hat es etwas mit der Einschätzung der betrieblichen Situation zu tun....
Die zwei am häufigsten genannten Gründe (jeweils über 80 % der Betriebe), die für die Nichtdurchführung von Gefährdungsbeurteilungenangeführt werden, sind,
▶ dass keine nennenswerten Gefährdungen vorliegen und
▶ dass die Beschäftigten Sicherheitsdefizite selbst erkennen sowie melden oder beseitigen.
Mit einem geringen Nutzen von Gefährdungsbeurteilungen begründen dies rund 40% aus dieser Gruppe.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass ca. ein Drittel der Gruppe von Betrieben, die Gefährdungsbeurteilungen durchführen, deren Nutzen eher gering und sehr gering einschätzt und dies am häufigsten mit den gleichen Argumenten begründet, wie die Gruppe ohne Gefährdungsbeurteilung deren Nichtdurchführung.
kaum Gefährdungen | 62 |
Mitarbeiter erkennen Sicherheitsdefizite ohne hin selbst und melden oder beseitigen |
91 |
Aufwand dafür ist zu hoch | 42 |
Instrument passt nicht zu unseren betrieblichen Abläufen und Risiken |
54 |
sonstige Gründe | 24 |
... d.h. die Antwort liegt in einem reduzierten Gefährdungs und Rollenverständnis...
In einem Großteil der Betriebe ist die Sicht auf Arbeitsschutz immer noch eher an scheinbar offensichtlichen Schädigungsrisiken (Unfälle, Lärm,...) orientiert. Gibt es im Betrieb solche Gefährdungen nicht, wird dies insgesamt als Abwesenheit von Gefährdungen gedeutet und eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen für nicht erforderlich gehalten. Die Beurteilung einer Vielzahl von relevanten Arbeitsaspekten – wie z.B. manuelle Tätigkeiten, Arbeitszeitgestaltung, soziale Beziehungen etc. – bleibt damit unsichtbar. Die Chancen einer umfassenden sicherheits- und gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeitsbedingungen werden nicht genutzt. Zudem deuten die Befragungsergebnisse darauf hin, dass die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nicht primär als Verantwortung der Arbeitgeber*innen verstanden wird. Zwar ist es vor dem Hintergrund der im ArbSchG verankerten Mitwirkungspflichten der Beschäftigten sowie unter dem Gesichtspunkt einer für den betrieblichen Arbeitsschutz förderlichen Partizipation durchaus positiv, wenn die befragten Betriebsleitungen angeben, dass ihre Beschäftigten Sicherheitsmängel erkennen, berichten und abstellen. Kompetenz und Eigenverantwortlichkeit der Beschäftigten entbinden die Arbeitgeber*innen und der neben diesen verantwortlichen Personen aber in keinem Fall von ihrer Verantwortung und ihren Aufgaben bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung.
... sowie in der Unklarheit darüber, was eine Gefährdungsbeurteilung leisten muss und kann.
Dass rund 40 % der Betriebe, ohne überhaupt eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt zu haben, dies mit einem geringen Nutzen begründen, mag mit der – in ihrer Pauschalität unzutreffenden – Vorstellung zusammenhängen, dass die Gefährdungsbeurteilung – gerade auch für kleinere Betriebe – ein kompliziertes, aufwändiges und bürokratisches Verfahren ist. Andererseits kann die kritische Nutzeneinschätzung auch darauf hindeuten, dass Betriebe nicht immer realistische Erwartungen an die mit einer Gefährdungsbeurteilung erreichbaren Ergebnisse und Wirkungen haben, z.B. Wunsch nach kurzfristigen Erfolgen.Was kann zu einer Steigerung der Umsetzungsquote beitragen?
Insgesamt zeigen die Befunde zu den Gründen der Nichtdurchführung, dass Motivation und Information zu Funktion und Umfang von Gefährdungsbeurteilungen noch weiter gestärkt werden müssen.Eine betriebsnahe und an den Tätigkeiten orientierte sowie ggf. durch Handlungshilfen unterstützte Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung
kann in Analogie zu Stadien- und Stufenmodellen der Verhaltensänderung (vgl. Keller, 1999) erst dann sinnvoll erfolgen, wenn den betrieblichen Verantwortungsträgern bewusst ist, dass sie Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen haben und welche Aufgaben dabei zu erfüllen sind (Stufe der „Absichtsbildung“).
Bei der Entwicklung entsprechender Motivations- und Informationsmaßnahmen ist zu berücksichtigen, dass die Mehrzahl der Betriebe, die keine Gefährdungsbeurteilungen durchführen, Klein- und Kleinstbetriebe sind. Hier sind ggfls. spezifische Umsetzungsbedingungen für Maßnahmen des Arbeitsschutzes einzubeziehen. Eine detaillierte Aufbereitung hierzu liefert die Studie „Sicherheit und Gesundheitsschutz in Klein- und Kleinstunternehmen in der EU: Abschlussbericht des dreijährigen Projekts SESAME“ der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA, 2018). Danach ist insbesondere zu beachten, dass Klein- und Kleinstbetriebe in der Regel Aufgaben im Arbeitsschutz nur „reaktiv“ Beachtung schenken. Klein- und Kleinstbetriebe benötigen konkrete Anstöße von außen – sei es über Multiplikatoren, aber insbesondere auch über Aufsicht.
Damit eine Ansprache von außen die „Absichtsbildung“ wirksam unterstützt, ist sowohl dem Inhalt als auch der Art und Weise der Ansprache der Betriebe gleichermaßen Bedeutung beizumessen (Boos, Mitterer, 2014).
Zu der Frage, was Gefährdungsbeurteilungen leisten können und müssen, bestehen über das von der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz für die dritte GDA-Periode verabschiedete strategische Ziel „Arbeit sicher und gesund gestalten: Prävention mit Hilfe der Gefährdungsbeurteilung“ gute Voraussetzungen, eine gemeinsame, abgestimmte und für institutionelle und betriebliche Arbeitsschutzakteure anwendbare Botschaft zu formulieren.
Wie diese Botschaft anschlussfähig an die betrieblichen Kontexte werden kann, dazu liefert das BAuA-Forschungsprojekt „Formen von Präventionskultur in deutschen Betrieben“ (Schmitt-Howe, Hammer, 2019) Antworten und Anknüpfungspunkte. Die Projektergebnisse zeigen, dass implizite Bewertungen und Grundannahmen der verantwortlichen und/oder zuständigen Fach- und Führungskräfte prägend sind für betriebsintern gültige Orientierungen zu Sicherheit und Gesundheitsschutz und den Vorstellungen davon, was relevante Gefährdungen sind und wie die „richtigen“ Strategien aussehen, ihnen zu begegnen. Das Projekt hat fünf verschiedene typische Orientierungsmuster identifiziert und Hinweise dazu abgeleitet, welche Ansprache-Konzepte für welche betrieblichen Orientierungsrahmen den größten Erfolg in der Verbesserung des Arbeitsschutzes versprechen. Darüber hinaus wurde ein handhabbares standardisiertes Erhebungsinstrument zur Erst-Einschätzung der betrieblichen Präventionskultur entwickelt.
Fazit
Vorliegende Befragungsdaten, Theoriemodelle und Forschungserkenntnisse bieten eine gute Grundlage, um geeignete Maßnahmen zur Durchführung der Beurteilung der Arbeitsbedingungen und damit zur Steigerung der Umsetzungsquote der Gefährdungsbeurteilung in Betrieben abzuleiten. Bei der Entwicklung und Umsetzung entsprechender Maßnahmen kommt Fachkräften für Arbeitssicherheit und Betriebsärzten einebesondere Bedeutung zu. Sie sollen gemäß des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG) die Arbeitgeber*innen beim Arbeitsschutz unterstützen und so dazu beitragen, dass die dem Arbeitsschutz dienenden Vorschriften – und damit auch die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung – den besonderen Betriebsverhältnissen entsprechend angewandt werden.
Die Autorin |
Sabine Sommer ist Leiterin der Fachgruppe 1.4 "Strukturen und Strategien des Arbeitsschutzes; NAK-Geschäftsstelle" bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) und in der GDA-Periode 2013-2018 Leiterin der Expertengruppe Evaluation. |
Literaturempfehlung aus dem Erich Schmidt Verlag
Programmbereich: Arbeitsschutz