„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß?“ - Von Wissen und Wissenmüssen, von Glück und Unrecht
Pflichtverletzung = Rechtsverstoß
Ein Polizeibeamter, „der bereits häufig Fahrzeuge der Arbeitgeberin des B mit Überladungen angehalten hatte“, hielt – „obwohl offenbar keinerlei Überladungsindikatoren wahrnehmbar waren“ – doch „eine Überladung für möglich und sogar wahrscheinlich, da er meinte, die Reifenflanken seien bei dem Lkw durchgedrückt und auch das Fahrverhalten sei behäbig. Eine geeichte Fahrzeugwaage zeigte für die Fahrzeugkombination des Betroffenen ein Gesamtgewicht von 43.200 kg an. Hiervon waren 60 kg Toleranzabzug vorzunehmen, so dass sich ein vorwerfbares Gesamtgewicht von43.140 kg ergibt“.
Verschulden = Fahrlässigkeit
Ein Bußgeld kann nur verhängt werden, wenn der Fahrer mindestens fahrlässig gehandelt hat. Fahrlässigkeit ist unbewusste oder ungewollte, aber pflichtwidrige Tatbestandsverwirklichung. „Sie erfordert, dass der Täter bei Begehung der Tat nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage war, die Sorgfaltspflicht zu erfüllen und die Tatbestandsverwirklichung vorauszusehen“. Fahrlässigkeit kann fehlen z.B. bei „Wissenslücken“ oder „Erfahrungsmängeln“.
B sagte, er sei „überrascht gewesen über das Wiegeergebnis“ und habe „aufgrund einer ersten Tour von 39 Tonnen gedacht, dass es auch bei dieser zweiten Tour zu keiner Überladung komme, obgleich er einräumte, dass alles zu ladende Fräsgut stets unterschiedlich schwer sei“.
Ein Sachverständiger bestätigte, dass „bei einer Gewichtsüberschreitung von nicht einmal 10% des zulässigen Gesamtgewichts bei einem luftgefederten Fahrzeug aktueller Bauart keine Überladungsindikatoren festzustellen sind. Insbesondere sei auch ein schwerfälligeres Fahren nicht feststellbar“.
Trotzdem hat B fahrlässig gehandelt: Beim Beladen gibt der „Fräser und Führer ein längeres Hupsignal, wenn er meint, das zu beladene Fahrzeug sei ausreichend voll beladen“. Am „Tattag kontrollierte B seine Ladung nicht weiter“. Zwar „waren Überladungsindikatoren nicht feststellbar“, aber B „hätte [sie] feststellen müssen“. Das Gericht „meint, dass ein Fahrer, der bei der Beladung seines Fahrzeuges mit einem Ladegut unbekannten spezifischen Gewichts und unbekannter Menge und einem Abfahren dieses Ladeguts ohne vorherige Wägung schon fahrlässig handelt“ – gerade weil „das Fahrzeug an sich keine Überladungsindikatoren feststellen lässt“. Dass „zuvor eine ähnliche Fahrt mit ähnlichem Fräsgut in nicht überladenem Zustand stattgefunden hat, kann den B nicht entlasten, da es sich angesichts der vorgenannten Umstände hierbei lediglich um Glück handelt“.
Das Gericht reduziert – „mangels irgendwelcher Voreintragungen“ – allerdings auf die Regelgeldbuße von € 80,00.
Fazit
Fahrlässigkeit setzt zwar Erkennbarkeit bzw. Vorhersehbarkeit voraus. Dabei gilt aber nicht der Grundsatz „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Es geht nicht nur um tatsächlich vorhandenes Wissen: dann müsste Fahrlässigkeit ja definiert werden mit „erkannt“ bzw. „vorhergesehen“ und dann würde Nichtwissen vor Haftung schützen. Es geht bei der Fahrlässigkeit – das steckt in den Wörtern „Erkennbarkeit“ bzw. „Vermeidbarkeit“ – auch um Wissenmüssen: das hat gegebenenfalls eine Prüfungspflicht. Dass eine solche Überprüfungspflicht hier bestand, fasst das Gericht in folgenden beiden Leitsätzen zusammen:
1. Ein Überladungsverstoß kann auch dann auf Fahrlässigkeit beruhen, wenn für den Fahrer Überladungsindikatoren an seinem Fahrzeug nicht feststellbar sind. 2. Die Fahrlässigkeit kann sich in einem solchen Falle daraus ergeben, dass der Fahrer sein Fahrzeug mit einem Ladegut unbekannten spezifischen Gewichts und unbekannter Menge beladen lässt und dieses Ladegut ohne vorherige Wägung abfährt. |
Also: Wenn trotz Nichtprüfung nichts passiert, ist das – in den Worten des Amtsgerichts Lüdinghausen – Glück. Wenn etwas passiert, ist das kein Unglück, für das niemand verantwortlich ist, sondern Unrecht des Kontrollpflichtigen, der mit der Überprüfung – und den anschließend daraus zu ziehenden Konsequenzen: nämlich den regelwidrigen Zustand zu beseitigen – die Haftung für diesen Rechtsverstoß vermeiden kann. Übrigens: Die Frage des Wissens oder Wissenmüssens regelwidriger Zustände betrifft Tatsachenkenntnis. Wenn es um das Kennenmüssen der einschlägigen Rechtsvorschriften – also die Rechtskenntnis – geht, kennt jeder den Spruch: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“. Das stimmt zwar nicht immer – aber fast immer. Die Rechtsprechung betont „hohe Anforderungen an die Rechtserkundigungspflichten“.
Dr. Thomas Wilrich |
Rechtsanwalt Dr. Thomas Wilrich ist tätig rund um die Themen Produktsicherheit-Warenvertrieb, Produkthaftung und Arbeitsschutz und Umweltrecht einschließlich der entsprechenden Betriebsorganisation, Vertragsgestaltung, Führungskräftehaftung und Strafverteidigung. Er ist an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München zuständig für Wirtschafts-, Arbeits-, Technik, Unternehmensorganisationsrecht und „Recht für Ingenieure“. Er ist Fachbuchautor zur „Sicherheitsverantwortung“ (erschienen im Erich Schmidt Verlag), zur Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV), zum Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) sowie zur „Rechtlichen Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab“. www.rechtsanwalt-wilrich.de |
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