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Ulrich Welzel, trauma-am-arbeitsplatz.de (Foto: Welzel)
Nachgefragt bei: Ulrich Welzel, Trauma am Arbeitsplatz, Penzberg

Welzel: „Bei Trauma versagt die Gefährdungsbeurteilung“

ESV-Redaktion Arbeitsschutz
08.11.2022
Ulrich Welzel schildert im Interview mit der ESV-Redaktion, warum das Thema Trauma am Arbeitsplatz gerade in Pandemiezeiten wichtig ist und wie Betriebe damit umgehen können.
Warum ist das Thema Trauma am Arbeitsplatz wichtig? Von welchen Ereignissen ist hier die Rede?

Welzel: Wenn wir uns dem Thema „Trauma“ nähern, heißt das neutral erstmal nur „Verletzung“. Diese Verletzung kann sowohl körperlich wie auch seelischer Natur sein, und muss nicht immer aus einem betrieblichen Kontext entstehen.

Diese stark belastenden Ereignisse können sowohl im Unternehmen wie im Privaten liegen. Drei Situationen aus unserem Alltag machen es klarer: Wenn es zu einem Vorversterben kommt, sprechen wir von einem starkbelastenden Ereignis. Das gilt auch für die Situation, dass zum Beispiel der 35-jährige Sohn der 58-jährigen Kollegin verstirbt.

Oder der LKW-Fahrer, der an der Unfallstelle auf der Autobahn die Ware aus dem verunfallten Auflieger umräumen soll, wo drei Stunden zuvor sein langjähriger Kollege verstorben ist. Nun soll er, mit den Unfallbildern im Kopf, die Tour des Verstorbenen übernehmen und drei Mal in der Woche an der Unfallstelle vorbeifahren. In dem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer Re-Traumatisierung sehr groß.

Im letzten Beispiel haben acht Mitarbeiter die Erste-Hilfe-Maßnahmen bis zum Eintreffen der Rettung übernommen und dann den Tod ihres jungen Kollegen miterlebt. Der unfallverursachende Paketdienstleister holt drei Mal am Tag Ware ab. Bei einem nach außen hin psychisch stabil wirkenden Mitarbeiter löst die Farbkombination des Paketdienstleisters Händezittern und Schweißausbrüche aus. Ob dieser Mitarbeiter in der Situation psychisch fit genug ist, seinen Gabelstapler weiter zu fahren, habe ich in Frage gestellt. Es wäre die klare Aufgabe der Sifa, hier präventiv auf die Betroffenen zuzugehen. In diesen Situationen versagt meiner Meinung nach die Gefährdungsbeurteilung.

Wie ist es denn nach Ihrer Erfahrung in deutschen Unternehmen um Trauma- und Trauerbewältigung bestellt?

Welzel: Hier gilt es zu unterscheiden: Die großen Unternehmen - zum Beispiel die Lufthansa mit ihren 45 SAT-Teams (Special Assistance Team) à 30 Teammitgliedern - sind hier sehr gut aufgestellt und halten eine Vielzahl von top ausgebildeten Ansprechpartnern bereit.

Im gehobenen Mittelstand verlässt man sich häufig auf externe Sozialdienstleister, die aus unserer Erfahrung bei psychisch starkbelastenden Ereignissen mehrere Tage brauchen, bis sie sich für den Betroffenen die notwendige Zeit nehmen. Ein interner Sozialdienst ist da besser aufgestellt.

Mittlere und kleine Unternehmen sind selten vorbereitet, sie hoffen immer darauf, dass es keine stark belastenden Ereignisse im Unternehmen gibt.

Belastbare Zahlen aus dem Fehlzeitenreport der AOK 2017 zeigen, wie wichtig das Thema ist. Gefragt wurde nach starken Effekten von kritischen Lebensereignissen. 81% sprechen von einem lebenslangen Effekt, 79% sind seelisch beeinträchtigt, 67% erleben starke Effekte bei der Berufstätigkeit und 59 % sprechen von Effekten bei der körperlichen Gesundheit.

Wenn 81,2% der Mitarbeiter sagen, sie sprechen im Betrieb über ihre Krise, und mit weitem Abstand mit den Kollegen sowie ihren Vorsetzten und nur minimal mit der Personalabteilung, Betriebsarzt und dem BGM, dann ist die Frage: Die Informationen liegen vor, was mache ich jetzt als Vorgesetzter?

Einige Unternehmen haben Mitarbeiter in einem 2-tägigen Online-Kurs zum psychologischen Ersthelfer ausbilden lassen. Die Idee ist grundsätzlich gut, wer jedoch als Arbeitgeber glaubt, dass mit 12-16 Unterrichteinheiten das Thema abgehandelt ist, irrt gewaltig. Im Beispiel der Lufthansa haben alle SAT-Mitglieder eine exzellente Fachausbildung als Basis, und danach folgt eine kontinuierliche, verpflichtende Fortbildung, Einsatznachbesprechungen und vieles mehr.

Hat die Corona-Pandemie das Thema beeinflusst?

Welzel: Ja! Wer im Homeoffice war, dem fehlte möglicherweise der enge Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen, schwer, hier als Sicherheitsfachkraft aktiv zu werden, wenn es ein stark belastendes Ereignis gab.

Lassen Sie es mich mit ein konkretes Beispiel benennen: Der Betriebsleiter (51) eines größeren Mittelständlers ist Ende März 2020 einer der ersten Covid-Patienten, und hat sich bis heute nicht mehr von der Erkrankung erholt. Seine Konzentration lässt nach vier Stunden so rapide nach, dass er erstmal eine Pause einlegen muss, also ein Long-Covid-Patient. Der Rentenversicherer würde ihn gerne verrenten. Bei der Bank ist noch ein ordentlicher Darlehensbetrag fürs Haus abzuzahlen, und die Situation führt in der Familie auch zu heftigen Diskussionen. Mit diesem „gefüllten Rucksack“ kommt der Betriebsleiter nach langen Krankenständen ins Unternehmen.


Was können Unternehmen auch im Rahmen des BEM tun?

Welzel: Zur ersten Frage passt der eben skizzierte Fall sehr gut und stellt die Bedeutung des BEM gut heraus. Ja, auch das BEM ist in diesen Situationen ein Ansprechpartner, um gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.

In den am Anfang unseres Gesprächs genannten starkbelastenden Ereignissen kommt es bei sehr gut ausgebildeten Peers mit ihren niedrigschwelligen Angeboten zu einer oft zeitnahen Stabilisierung, ohne ein BEM auszulösen.

Die Versorgung mit fachlich sehr guten Ansprechpartner wie Trauma-Therapeuten wird von den Berufsgenossenschaften bereitgehalten. In der Notfallpsychologie wird von einem hochschwelligen Angebot gesprochen, wenn 98% der niedrigschwelligen Interventionen nicht zu einer Verbesserung geführt haben.

Achtung, hier liegt die Crux: Hochschwellige Angebote wie Psychologen werden zum Beispiel von Zugführern nach einem Personenschaden im Gleisbereich, laut Umfrage der Lokführergewerkschaft und bestem Angebot des Arbeitgebers, von nur 5-10 % der Betroffenen wahrgenommen. Warum? „Wenn ich zum Psychologen gehe, stehe ich bei meinen Kollegen als Weichei dar!“ sagt ein Zugführer nach dem fünften Personenschaden, schwersten persönlichen Einschränkungen und langen Fehlzeiten.

Wie es gehen kann, zeigt die Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main, sie hat ein niedrigschwelliges Angebot für ihre Bus,-Straßenbahn- und U-Bahn-Bediensteten auf die Beine gestellt.

Es braucht professionell ausgebildete Peers, die mindestens 9-12 Tage in eine wirkliche notfallpsychologische Fachausbildung gehen, um danach die Weichen für ein niedrigschwelliges Angebot im Unternehmen stellen zu können.

Vielen Dank!

Programmbereich: Arbeitsschutz