
Wie individuell darf Gehörschutz sein?
In diesem Beitrag soll untersucht werden, wie weit eine individuelle Wahl auch unter Berücksichtigung der TRLV Lärm und der Einstufung von Gehörschutz als PSA der Kategorie III nach PSA-Verordnung (EU) 2016/425 gehen kann und darf.
Versorgung mit Gehörschutz in Groß- und Kleinfirmen heute
Die Versorgung am Arbeitsplatz erfolgt heute meist so, dass größere Firmen Verträge mit Lieferanten oder Herstellern haben, die ihnen verschiedene Modelle ihrer Produktpalette anbieten. Handelt es sich um einmalig verwendbare Gehörschutzstöpsel, werden in den Arbeitsbereichen Spender zur Selbstentnahme installiert. Typischerweise sind maximal zwei Spender mit zwei unterschiedlichen Gehörschutztypen installiert. Wiederverwendbare Gehörschutzstöpsel und Kapselgehörschutz werden meist von der Abteilung Arbeitssicherheit ausgegeben.Haben Mitarbeiter Probleme mit den angebotenen Gehörschützern, werden aber oft andere Modelle versuchsweise beschafft. Meist hält die Firma auch noch Kapselgehörschutz bereit, falls Mitarbeiter mit Stöpseln nicht arbeiten können. Der Mitarbeiter hat in der überwiegenden Zahl der Fälle ein Mitspracherecht. Eine Reihe von Firmen versorgt inzwischen ihre Mitarbeiter prinzipiell mit Gehörschutz-Otoplastiken.
Kleine Firmen und Handwerksbetriebe kaufen den Gehörschutz meist entweder im Fachhandel (technische Arbeitsschutzhändler) oder auch völlig ohne Beratung im Baumarkt. Mitarbeiter werden hier selten nach ihrer Meinung zum angebotenen Gehörschutz gefragt.
Personen mit Hörminderung oder Lärmschwerhörigkeit wird heute mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Sie haben erhebliche Einflussmöglichkeiten bei der Wahl des für sie geeigneten Gehörschutzes. Mit Hilfe der Unfallversicherungsträger werden Sonderlösungen angeboten, die oft aus der Beschaffung von Gehörschutz-Otoplastiken bestehen. In einzelnen Fällen werden auch Hörgeräte mit Gehörschutzfunkton beschafft.
Grundsätzlich sollte die Wahl zwischen Kapselgehörschützer und Gehörschutzstöpsel aus den gegebenen Randbedingungen heraus erfolgen. Es gibt Gewohnheiten der Nutzung, die aber heute an Bedeutung verlieren. So war es auf Baustellen allgemein üblich, nur Kapselgehörschutz zu verwenden. Das ergab sich auch aus der Möglichkeit, den Kapselgehörschutz am Industrieschutzhelm zu befestigen, wodurch die Ausrüstung immer griffbereit war. Solche Einflussfaktoren sind bei der Auswahl ebenfalls zu berücksichtigen.
Zu klären ist, wie weit die Individualisierung bei der Versorgung mit Gehörschutz sinnvoll ist, welche Vor- und Nachteile sie hat, wie weit der Mitarbeiter die Wahl beeinflussen sollte und welche Eckpunkte nach PSA-Verordnung und TRLV Lärm berücksichtigt werden sollten.
Die Beschränkung auf ein oder zwei Produkte mit der Möglichkeit der individuellen Versorgung ist nicht grundsätzlich falsch.
Denn es gilt, dass sich zwischen der Grenze für eine mögliche Überprotektion, die bei einem Restpegel am Ohr von etwa L'= 70 dB(A) liegt, und dem am Ohr maximal erlaubten Schallpegel von L'EX,8h = 85 dB(A) ein Pegelbereich von 15 dB erstreckt. Daher gibt es viele Arbeitsbereiche, für die allein vom Standpunkt der notwendigen Schalldämmung des Gehörschutzes ein einzelner bereitgestellter Typ ausreichend ist.
So ist z.B. 3M EAR Classic II für Lärmbereiche mit Tageslärmexpositionspegeln von 85 bis 100 dB(A) einsetzbar, wobei bei Berücksichtigung des unteren Auslösewertes (Restpegel am Ohr von maximal 80 dB(A)) und der DGUV Regel 112-194 der Einsatz allerdings nur bis 95 dB(A) empfohlen wird.
Möglichkeiten und Grenzen der individuellen Versorgung mit Gehörschutz
Die Vorteile der individuellen Versorgung liegen auf der Hand:- subjektiv wird sie als angenehmer empfunden,
- erfahrungsgemäß steigt die Tragequote,
- die nominelle Schalldämmung des Gehörschutzes kann auf den Tages-Lärmexpositionspegel am einzelnen Arbeitsplatz angepasst werden,
- die Frequenzzusammensetzung des Arbeitsgeräusches kann berücksichtigt werden,
- eine eventuell notwendige Kommunikationsfähigkeit kann bei der Schalldämmung und dem Frequenzverhalten berücksichtigt werden.
Natürlich erfordert solch eine individuelle Versorgung mit Gehörschutz einen wesentlich höheren Aufwand als eine einheitliche Versorgung aller Mitarbeiter. Speziell bei der Versorgung mit Gehörschutz-Otoplastiken muss der spätere Nutzer zur Ohrabformung und zur Funktionsprüfung (Leckagetest) beim Betriebsarzt oder der Sicherheitsabteilung einbestellt werden. Will man optimal individuell auswählen, sollte die individuelle Lärmexposition und bei Anforderungen an die Sprachverständlichkeit oder Signalhörbarkeit die Frequenzzusammensetzung des Arbeitslärms bekannt sein und ermittelt werden. Damit wird natürlich klar, dass eine persönliche Auswahl durch den Benutzer selbst nur beschränkt erfolgen darf. Er kann sein Komfortempfinden einbringen. Die Auswahl nach dem Schallpegel kann und soll er nicht durchführen. Insbesondere darf er die Filter von Otoplastiken nicht entsprechend seinen Vorstellungen manipulieren oder austauschen.
Individualisierte Gehörschutz-Versorgung von Personen mit Hörminderung
Für Personen mit Hörminderung ist die individuelle Schutzwirkung und individuelle Anpassung noch deutlich wichtiger. Um eine weitere Verschlechterung des Hörvermögens sicher auszuschließen, muss der Gehörschutz nach TRLV Lärm, Teil 3, Abschnitt 6.6 bei anerkanntem Innenohrschaden schon ab einem Tages-Lärmexpositionspegel von 80 dB(A) benutzt werden. Bei der Auswahl muss das verringerte Hörvermögen und der Frequenzbereich der Hörschädigung berücksichtigt werden, denn dies behindert die Kommunikationsfähigkeit bei Benutzung von Gehörschutz deutlich.Es gilt also, einen Gehörschutz auszuwählen, der vor einer Verschlechterung des Hörvermögens durch Weiterbestehen einer verdeckten Lärmexposition sicher schützt und dabei nur eine minimale Beeinflussung des Hörschalls zur Folge hat. Ist der Arbeitslärm vorwiegend mittelfrequent, sollte eine möglichst gleichmäßige Dämmung im Sprachfrequenzbereich angestrebt werden. Dazu gibt es bekannte Produkte auf dem Markt. Wegen des relativ hohen Preises für diese Spezialprodukte kann nicht jeder Betroffene z. B. mit dem speziell für Musiker konzipierten Filter ER 15 in einer angepassten Gehörschutz-Otoplastik versorgt werden. Es gibt auch andere Gehörschützer, die die Anforderung zur Eignung für Personen mit Hörminderung erfüllen. Diese sind in der „IFA-Positivliste“ (Alle dem IFA gemeldeten Gehörschützer mit EG/EU-Baumusterprüfbescheinigung) mit einem „X“ gekennzeichnet.
Liegt ein stark hochfrequentes Geräusch vor, kann es allerdings sinnvoll sein, einen Gehörschutz zu verwenden, dessen Schalldämmung mit der Frequenz ansteigt. Ist das Hörvermögen im hochfrequenten Bereich sehr stark geschädigt, kann die „Tiefpasswirkung“ schon allein durch den Hörschaden entstehen. Dann könnte es sein, dass eine flache Dämmwirkung doch zu besseren Ergebnissen führt. Zu entscheiden ist, wieweit die individuelle Hörminderung berücksichtigt werden sollte. Die Individualisierung kann so durchgeführt werden, dass Hörversuche mit verschiedenen Gehörschutz-Modellen am Arbeitsplatz gemacht werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass sich das Gesamtspektrum der Lärmexposition aus vielen Geräuschsituationen zusammensetzt. Konsequenterweise müsste sich das Frequenzspektrum am Ohr der jeweiligen Situation anpassen, was heute nur mit der Hörgerätetechnologie möglich ist.
Eine pauschale Versorgung mit Gehörschutz ohne Berücksichtigung der Hörminderung ist ab einem bestimmten Grad der Minderung nicht mehr zu vertreten. Die Unfallversicherungsträger haben deshalb das System der Individualprävention für Personen mit anerkanntem Innenohrschaden etabliert. In größeren Firmen wird die Versorgung mit Gehörschutz für Hörgeschädigte vom Betriebsarzt zum Teil mit Unterstützung der UVT organisiert, während für die normalhörenden Mitarbeiter die Abteilung Arbeitssicherheit zuständig ist. Gerade dem Betriebsarzt kommt bei der individuellen Auswahl und bei der Beratung zur richtigen Benutzung eine entscheidende Rolle zu, die im Rahmenprogramm der Lärmvorsorge nach G 20 als Beratung zum Gehörschutz niedergeschrieben ist.
Individuelle Schalldämmung, Funktionskontrolle
Direkt verbunden mit der individuellen Versorgung sollte die individuelle Sicherung der Wirksamkeit des Gehörschutzes sein. Diese wird bisher nur für Gehörschutz-Otoplastiken geprüft („Funktionskontrolle von Otoplastiken“). Dies ist in der individuellen Herstellung und der eventuell mit den Jahren nachlassenden Anpassung an den Gehörgang begründet. Nicht berücksichtigt wird momentan für alle anderen Gehörschutztypen die individuelle Streuung der Schalldämmung, die unter anderem als Folge der Gehörgangsanatomie und dem Benutzungsverhalten der Gehörschutzträger auftritt und vor allem für Gehörschutzstöpsel sehr groß sein kann. Mit Blick auf die geforderte Schutzwirkung (Gehörschutz ist PSA Kategorie III mit Produktionsüberwachung zur Sicherstellung der Schutzwirkung gemäß Baumusterprüfung) wäre eine Erweiterung der Bestimmung der individuellen Schalldämmung auch für serienmäßig hergestellte Gehörschutzstöpsel sehr wünschenswert. Die am besten geeignete Methode ist momentan die Audiometrie mit Bestimmung der frequenzabhängigen Hörschwelle mit und ohne Gehörschutz. Das System hat den Vorteil der guten Verfügbarkeit bei den Betriebsärzten, der ausgereiften Methode und der ausreichenden Messgenauigkeit. Es gibt auch schon Audiometer, in die ein spezielles Gehörschutzprogramm integriert wurde. Auch ist die Audiometermessung nicht produktspezifisch und kann für alle Gehörschutzstöpsel einschließlich Gehörschutz-Otoplastiken angewendet werden.Möglichkeiten der individuellen Wahl
Bei der individuellen Versorgung hat der Betriebsarzt die Möglichkeit, zwischen Gehörschutzstöpseln und Kapselgehörschutz zu unterscheiden. Bei Gehörschutzstöpseln kann er zwischen wieder verwendbaren, meist vorgeformten Produkten und einmal verwendbaren Stöpseln unterscheiden, wobei letztere immer vor Gebrauch so zu formen sind, dass sie in den Gehörgang passen. Dabei besteht die größte Gefahr einer nicht ausreichenden Schutzwirkung. Diese kann insbesondere durch Benutzung von Gehörschutz-Otoplastiken verringert werden, wenn man die Funktionskontrolle (Fittest) bei der Auslieferung vor dem ersten Einsatz und danach in regelmäßigen Abständen von drei Jahren durchführt.Eine weitere Wahlmöglichkeit besteht im Einsatz von Gehörschutz mit zusätzlicher elektronischer Ausstattung. Das können übliche pegelabhängig dämmende Gehörschützer sein oder elektronische Gehörschützer, deren Verstärkung an die individuelle Hörminderung angepasst wurde. Für Personen mit erheblichen Hörverlusten sind auch spezielle Hörgeräte, die für den Lärmbereich zugelassen sind, einsetzbar.
Die individuelle Anpassung muss in jedem Fall sorgfältig vorgenommen werden und erfordert natürlich bei der Verwendung von Hörgeräten den höchsten Aufwand.
Die Auswirkungen der Umstufung von Gehörschutz in PSA Kategorie III
Mit der Verordnung (EU) 2016/425 gelten für Gehörschutz dieselben Anforderungen wie z.B. für Atemschutz oder PSA gegen Absturz: Zum einen benötigt der Hersteller, um das Produkt in Verkehr bringen zu können, nicht nur eine EU-Baumusterprüfbescheinigung einer notifizierten Stelle, sondern auch eine jährliche Produktionsüberwachung. Zum anderen sind auf der Basis des §31 der DGUV Vorschrift 1 im Betrieb die jährlichen Unterweisungen mit Übungen durchzuführen.Dies bedeutet, dass die Beschäftigten in die richtige Handhabung der Gehörschützer einzuweisen sind und das richtige Auf- bzw. Einsetzen unter Aufsicht üben sollen. Diese Pflichtmaßnahme bietet eine weitere Möglichkeit der individuellen Betreuung. Wenn sich bei den Übungen Schwierigkeiten bei der Passform oder Handhabung ergeben, können direkt alternative Produkte getestet werden. Insbesondere beim Einsatz von Messsystemen zur Bestimmung der individuellen Schutzwirkung erhalten die Beschäftigten eine Rückmeldung über die Wirksamkeit ihres Gehörschützers und können den richtigen Umgang leichter verinnerlichen.
Was der Arbeitnehmer beachten muss, wenn er Gehörschutz selbst auswählt
Der Gehörschutzbenutzer selbst sollte eigentlich nur entscheiden, welchen Typ von Gehörschutz er benutzen möchte. Die genaue Auswahl insbesondere der Filter und die Wahl der Verstärkung bei Gehörschutz mit elektronischen Zusatzfunktionen sollte immer vom Fachmann durchgeführt werden. Insbesondere sollten keine Gehörschützer, die privat angeschafft wurden, am Arbeitsplatz zum Einsatz kommen. In Ausnahmefällen, falls ein besonderer Bedarf besteht, kann die Abteilung Arbeitssicherheit und der Betriebsarzt hinzugezogen werden. Wie bekannt liegt die generelle Verpflichtung zur Bereitstellung von persönlicher Schutzausrüstung beim Arbeitgeber. Er sollte deshalb auch immer die Kontrolle darüber haben, welche PSA im Betrieb zum Einsatz kommt.Im Lärmbereich genutzte Hörgeräte bieten im Prinzip dem Anwender größere Freiheiten als klassischer Gehörschutz. Allerdings ist im Lärmbereich nur das entsprechende Arbeitsplatzprogramm zu benutzen. Dies bedeutet, dass bei nicht ausreichender Sprachverständigung bei Benutzung dieses Programms nicht einfach auf das höher verstärkende Programm für den Privateinsatz umgeschaltet werden darf. Falls Kommunikation im Lärm nicht ausreichend möglich ist, sollte Kontakt zum Hörgeräteakustiker aufgenommen werden, der eine Anpassung der Verstärkung vornehmen kann, wobei der maximal zulässige Expositionswert von 85 dB(A) nicht überschritten werden darf.
Fazit
Die Individualisierung in der Versorgung mit Gehörschutz schreitet weiter voran. Dies ergibt sich aus den Produkten selbst (wie Gehörschutz-Otoplastiken) oder der Berücksichtigung von individuellen Bedürfnissen (wie für Personen mit Hörminderung). Bestehende Maßnahmen des Arbeitsschutzes wie die arbeitsmedizinische Vorsorge und die Unterweisung mit Übungen für PSA der Kategorie III bieten Möglichkeiten für eine individuelle Betreuung der Beschäftigten bei Auswahl und Einsatz von Gehörschutz.Die Autoren |
Peter Sickert ist Diplom-Physiker und war bis 2017 beim BGHM-Präventionsdienst in Nürnberg Leiter des Sachgebietes Gehörschutz im Fachbereich „Persönliche Schutzausrüstungen“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e. V. (DGUV). Heute ist er beratend im Bereich Lärm- und Gehörschutz tätig. Dr. rer. nat. Sandra Dantscher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich 4: Arbeitsgestaltung, Physikalische Einwirkungen des Instituts für Arbeitsschutz (IFA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e. V. (DGUV). |
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Programmbereich: Arbeitsschutz