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2019 ging der Nobelpreis für Literatur an Peter Handke, „für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum Randbereiche und die Spezifität menschlicher Erfahrungen ausgelotet hat“ (Foto: Bertil - Adobe Stock).
Auszug aus: Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh)

„Wie kann in der Gegenwart erzählt werden?“

ESV-Redaktion Philologie
19.01.2021
Bekanntlich hat die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke im Jahr 2019 nicht nur in Deutschland eine lautstarke Debatte ausgelöst. Ob die Preisvergabe zu Recht kritisiert wurde oder ob die Schwedische Akademie Handkes Beitrag zur Literatur zu Recht gewürdigt hat, lässt sich überprüfen, nicht zuletzt an seinem Buch „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“.
Mit der Erzählung „Die Obstdiebin“ hat Peter Handke 2017 laut Verlagsankündigung sein „Letztes Epos“ (mit großem „L“) geschrieben. Epen, so scheint es, sind derzeit in Mode. Zuletzt hat Anne Weber für ihre Erzählung „Annette, ein Heldinnenepos“ im Herbst 2020 den Deutschen Buchpreis verliehen bekommen.

Auch in dem Text „Die Obstdiebin“ werden verschiedene Erzählmodi und Gattungen einander gegenübergestellt und integriert: das Drama, das Märchen, der (Bildungs-)Roman und das epische Erzählen.

In ihrem Beitrag „Zeitfiguren des Epischen. Peter Handkes ‚Die Obstdiebin‘ als Theorie des Erzählens im Erzählen“ geht Claudia Keller dieser besonderen Erzählweise auf den Grund. Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Text, der in der Zeitschrift für deutsche Philologie, Band 139 (4/2020) veröffentlicht wurde:


Im Zentrum von Peter Handkes 2017 erschienener epischer Erzählung „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“ steht die Frage nach dem Stil. Die zumeist nur „Obstdiebin“ genannte Alexia bricht zu einer dreitägigen Reise in die Picardie auf. Sie ist eine Vielgereiste, aber diese Reise ist „ihre erste wirkliche Reise, von welcher irgendwo geschrieben stand, man erfahre daran, ‚was der eigene Stil sei‘.“ (Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017, S. 142. Im Folgenden wird die Sigle DO mit Seitenzahl verwendet.)  Dabei ringt hier keineswegs lediglich eine „blut- jung[e]“ (DO, S. 312) Protagonistin um ihre persönliche Entwicklung. Die Frage nach dem ‚eigenen Stil‘ ist vielmehr ein Metakommentar zur Erzählung, die sich auszubilden im Begriff ist. Deutlich wird dies spätestens mit Alexias selbstapostrophierter rhetorischer Frage: „[B]in ich den anderen nur noch ein Medium?“ (DO, S. 488)

Auszug aus: Bildmomente der Erinnerung an 1989/90 11.08.2020
Erinnerung an 1989/90: Mangelwirtschaft und massive Ostalgie
Nach dem Mauerfall-Jubiläum 2019 jährt sich am 3. Oktober 2020 nun auch die Wiedervereinigung zum 30. Mal: ein guter Anlass, um zurückzublicken und zu fragen, welche Veränderungen dieser historische Meilenstein mit sich gebracht hat. Nicht nur an soziologischen Daten und Fakten lässt sich die Wiedervereinigung ablesen, sondern auch an der deutschen Literatur, in welcher die Ereignisse 1989/90 vielfach aufgegriffen, angerissen oder auch parodiert werden. mehr …

Die Obstdiebin als Protagonistin ist eine Personifikation der Erzählung und „Die Obstdiebin“ als Erzählung eine Metaerzählung über das Erzählen selbst. Der Text stellt die Frage: Wie kann in der Gegenwart erzählt werden? Welches ist der ihr angemessene Ausdruck, was sind ihre Konturen und Gebärden?

Handkes Name fehlt in den Verzeichnissen der aktuell Konjunktur erfahrenden Poetikvorlesungen, weil er eine solche Vorlesung immer schon geschrieben hat. Seit 1966 fordert er eine Literatur, die Erzählen und Reflexion vereint. Gegenüber den „Sprachspielarten“ der Wiener Gruppe hält er an der Möglichkeit des Erzählens auch in der Gegenwart fest, während er auf der anderen Seite in Princeton eine Integration der Reflexion in die Literatur mit scharfen Worten einfordert. In der Folge entwickelt Handke ein Erzählen, das konkret und abstrakt, bildlich und reflexiv zugleich ist – das theoria als Anschauung praktiziert.

„Die Obstdiebin“ kann als Erzählung einer ‚einfachen Fahrt ins Landesinnere‘ gelesen werden, sie funktioniert als eine zwar programmatisch ereignisarme, doch stringent erzählte Handlung. Gleichzeitig kann, so die These, jede Episode, jede Figur, jedes Bild „unterschwellig“ als poetologischer Kommentar gelesen werden. Diese zweite Ebene systematisiert mit Bezügen auf die Geschichte der Ästhetik, mit exzessiven intertextuellen Verknüpfungen und mit enormem Gattungsbewusstsein die Problematik eines epischen Erzählens in der Gegenwart.

„8 Meilen weg vom Zentrum“


Der Stil – und stets mit ihm verbunden: der Rhythmus – verknüpft beide Ebenen und legitimiert sie in ihrer Gleichzeitigkeit: Als Ausdruck von Subjektivität in Form eines Personalstils und als Ausdruck künstlerischer Objektivität in Form eines Kollektiv- bzw. Zeitstils ermöglicht es dieser Begriff, das Verhältnis von Individualitäts- und Allgemeinheitsprinzip auszuloten. Mit seiner Anknüpfung an einen Stilbegriff, der für „hochgradige Abstraktion“ und für eine „Abbreviatur komplizierter Sachverhalte“ steht, vermag Handke den Krisen subjektivistischer Innerlichkeit, von denen seine Erzähler-Figuren immer wie- der heimgesucht werden, ein objektivierendes, auf die Außenwelt bezogenes Moment entgegenzuhalten. Dabei etabliert er mit dieser Kategorie auch ein Verhältnis zwischen Welt und Erzählung, das die Möglichkeiten der Darstellung im Vollzug der Erzählung auslotet.

Stil betont die „Form der Ausführung“ und nie das – auch direkter zu erreichende – dargestellte Ziel und fasst damit bereits in nuce, worum es der Handke’schen Prosa der Abweichung immer geht. Gemäß seiner etymologischen Herkunft von stilus als Spur einer Bewegung über eine Fläche wird Stil in der folgenden Lektüre der „Obstdiebin“ zunächst als Form der Bewegung begriffen, mit welcher die Protagonistin die Landschaft auf ihrer Wanderung durchquert. Es sind dies Bewegungen, die als charakteristischer Ausdruck ihres Personalstils gelesen werden können, wie dies etwa auch für den Hinweis auf ihren Musikgeschmack (Eminem, „8 Mile“) gilt. (DO, S. 212) Indem sich mit ihren Bewegungen die Erzählung allmählich verfertigt, ist die von ihr gezogene Spur gleichzeitig auch der stilus der Textbewegung selbst.
Diese Dimension führt über einen Personalstil hinaus, so wie sich auch ihr Musikgeschmack unschwer als Ortsangabe für die – „8 Meilen weg vom Zentrum“ (DO, S. 212) – in den Peripherien angesiedelten Erzähltexte Handkes zu erkennen gibt. Stil entsteht in Form von Körpergesten und Sprachgebärden als Ausdrucksbewegung. So soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie die vom Text gezogenen Spuren poetologisch als in Zeit versetzte Figuren, als Zeitfiguren der Erzählung gelesen werden können: Das Hin und Her der Zickzack- und Schlangenlinie sowie die weit ausgreifende Spirale bilden ornamentale Muster, in denen die Theoretisierung des Erzählens zur Anschauung gebracht wird.

Haben wir Sie neugierig gemacht auf diese besondere Erzählstruktur bei Peter Handke? Wenn Sie mehr dazu wissen wollen, können Sie in Heft 4/2020 der Zeitschrift für deutsche Philologie nachlesen. Hier geht es zur digitalen Ausgabe: https://www.zfdphdigital.de/

(ESV/Ln)

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik