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Möchte Lateinamerikastudien als Einheit vielfältiger Disziplinen vermitteln: Miriam Lay Brander (Foto: Privat)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Miriam Lay Brander

„Wir in Europa können mithilfe der Lateinamerikastudien ebenfalls etwas dazulernen“

ESV-Redaktion Philologie
03.03.2023
Was hat Europa mit Lateinamerika zu tun? Einiges: Über die dominierenden Sprachen Spanisch und Portugiesisch hinaus haben europäische Kolonialisten diese Region maßgeblich geprägt. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun ein Handbuch, in dem 22 Autorinnen und Autoren eine „Einführung in die Lateinamerikastudien“ bieten. Wir haben mit der Herausgeberin Prof. Dr. Miriam Lay Brander gesprochen.

Liebe Frau Lay Brander, eines der Ziele Ihres Bandes ist es, Studentinnen und Studenten die Lateinamerikastudien als Einheit nahezubringen. Doch gibt es Lateinamerika überhaupt?

Miriam Lay Brander: Das ist eine berechtigte Frage. Der mexikanische Schriftsteller Jorge Volpi hat vor einigen Jahren provokativ behauptet: „Lateinamerika gibt es nicht mehr.“ Und wenn, dann existiere es nur in dem Maße, wie Kongresse über Lateinamerika organisiert würden – oder, so könnte man hinzufügen, wie Handbücher wie dieses zu Lateinamerika geschrieben werden. Geographisch lässt sich Lateinamerika zwar als kontinentale Einheit betrachten, doch hat dies nie zu einer politischen Einheit geführt. „Lateinamerika“ besteht aus zahlreichen Nationen, die zumindest ökonomisch stärker mit den weltwirtschaftlichen Zentren verbunden sind als untereinander. Und auch ethnisch-kulturell oder sprachlich weisen die einzelnen Länder Unterschiede auf. Aber es gibt auch zahlreiche Gemeinsamkeiten: Die Länder Lateinamerikas teilen die Erfahrung der Kolonialisierung, die zu einer relativen kulturellen und sprachlichen Homogenisierung geführt hat. Darüber hinaus haben sie ähnliche politische und ökonomische Entwicklungen durchgemacht – denken wir zum Beispiel an die Unabhängigkeiten oder die Auswirkungen des Neoliberalismus. Die Antwort lautet also: Ja, es gibt Lateinamerika, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass es sich wie bei allen Regionen um ein Gebilde handelt, das anhand von geographischen, historischen oder kulturellen Aspekten sozial konstruiert wurde. Daher ist der Zuschnitt Lateinamerikas als Region auch immer wieder neu Gegenstand von Aushandlungen gewesen.

Welche Relevanz haben Lateinamerikastudien in der heutigen Zeit?

Miriam Lay Brander: Lateinamerika bietet reiches Anschauungsmaterial für die Erforschung von Themen, die uns heute auf globaler Ebene beschäftigen, etwa im Hinblick auf soziale Ungleichheit, Populismus, oder auch Migration: Abgesehen von der langen Migrationsgeschichte Lateinamerikas ist derzeit Venezuela besonders betroffen, mehr als sechs Millionen Menschen haben das Land verlassen und sind in andere lateinamerikanische Länder, vor allem Kolumbien ausgewandert. Kolumbien wiederum ist ein aufschlussreiches Untersuchungsfeld im Hinblick auf Prozesse von Konflikt und Frieden. Und auch im Umgang mit dem Klimawandel sind die lateinamerikanischen Länder wichtige Akteure. Diese Beispiele – und die Reihe ließe sich fortsetzen – sind keine rein lateinamerikanischen Themen. Wir in Europa können, indem wir beobachten, wie Lateinamerika mit ihnen umgeht, dazulernen, sowohl anhand von positiven als auch negativen Beispielen.

Mit Ihrem Band stellen Sie neben den traditionellen erstmals auch neuere Teildisziplinen der Lateinamerikanistik vor. Welche neueren Forschungsfelder behandeln die Beiträgerinnen und Beiträger in Ihrem Handbuch?

Miriam Lay Brander: Neben den Zugängen einzelner Disziplinen ist den interdisziplinären Forschungsfeldern der Friedens- und Konfliktforschung sowie der Bewegungs- und Protestforschung je ein eigenes Kapitel gewidmet. Aber auch innerhalb der Disziplinen, die sich traditionellerweise mit Lateinamerika beschäftigen, werden neue Forschungsfelder berücksichtigt, an denen diese Disziplinen partizipieren. Dazu zählen etwa die Heritage-Studien, die dekoloniale Forschung oder die Feministische Politische Ökologie.

Auszug aus: „Einführung in die Lateinamerikastudien. Ein Handbuch“ 15.02.2023
Wie Humangeographie auf die gesellschaftlichen Vorstellungen und öffentlichen Diskurse Lateinamerikas hinweist
Lateinamerika: ein Sammelbegriff für alle hispanophonen und lusophonen Länder des nord- und südamerikanischen Kontinents. Die wissenschaftliche Forschung, die sich damit befasst, steht vor der Herausforderung, die diversen Disziplinen der Lateinamerikastudien herauszustellen und dennoch die interdisziplinären Verknüpfungen nicht außen vor zu lassen. mehr …


Anhand von Fallbeispielen erläutern Sie die verschiedenen Teildisziplinen des Fachs. Worin liegt hierbei die Stärke des Bands?

Miriam Lay Brander: Dadurch, dass der Band überwiegend anhand von Disziplinen strukturiert ist, macht er den Beitrag der jeweiligen Disziplin mit ihren je eigenen Methoden zur Erforschung Lateinamerikas deutlich. Zugleich stellt er zahlreiche Querverbindungen zwischen den disziplinären Zugängen her und macht damit die Interdisziplinarität der Lateinamerikastudien sichtbar. Beispielsweise bedienen sich Disziplinen wie Anthropologie, Linguistik, Geographie, Geschichte oder Interkulturelle Kommunikation teilweise ethnographischer Forschungsmethoden bzw. beziehen sich auf durch diese Methoden gewonnene Ergebnisse. Mithilfe von Verweisen im Fließtext sowie eines Sach- und Namensregisters sind die entsprechenden Verbindungen leicht auffindbar.

Im Handbuch wird u. a. mehrfach der Begriff des buen vivir („Gutes Leben“) angeführt. Was ist damit gemeint und welche Rolle spielt er in Lateinamerika?

Miriam Lay Brander: Beim buen vivir (Quechua: Sumak Kawsay) handelt es sich um ein Konzept, das aus den traditionellen indigenen Werten des Andenraums abgeleitet ist. Im Fokus stehen das harmonische Zusammenleben der Menschen mit der Natur und die Ablehnung von Entwicklung als linearem Prozess. Ein Beispiel ist die traditionelle Gemeinschaftsarbeit, wie sie im Andenraum praktiziert wird, etwa bei der Ernte oder zur Errichtung von Infrastruktur. In der Forschung hat das Konzept beispielsweise in der Geographie, der Konflikt- und Friedensforschung, der Soziologie oder den Wirtschaftswissenschaften neue Impulse gegeben, vor allem im Hinblick auf Debatten über Entwicklung. Auf politischer Ebene haben indigene Bewegungen in Ecuador und Bolivien erreichen können, dass das Konzept in die neuen Verfassungen von 2008 bzw. 2009 aufgenommen wurde.

Abschließend noch eine Frage zu einem Ihrer Beiträge: In einem literaturgeschichtlichen Überblick verweisen Sie u.a. auf Zusammenhänge zwischen politischen oder kulturellen Diskursen und lateinamerikanischen Literaturen. Worin bestehen diese?

Miriam Lay Brander: Die lateinamerikanischen Literaturen sind wesentlich stärker an politischen und sozialen Problemfeldern orientiert als wir dies etwa aus der deutschen Literatur kennen. Seit den Unabhängigkeiten diente Literatur in Lateinamerika häufig als Mittel, um sich zwischen von außen oktroyierten Identitäten und dem ‚Eigenen‘ zu positionieren. Beispielsweise begleitete der literarische Essay im 19. Jahrhundert den historischen Prozess der Nationenbildung. Allerdings wird die Verbindung zwischen Literatur und nationaler Kultur ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr hinterfragt, die lateinamerikanischen Literaturen verorten sich zunehmend im globalen Kontext.


Vielen Dank für den Einblick in diese facettenreiche Region!

Zur Herausgeberin
Miriam Lay Brander ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und Direktorin des Zentralinstituts für Lateinamerikastudien (ZILAS). Seit über zehn Jahren forscht und lehrt sie im Bereich der lateinamerikanischen Literaturen und Kulturen.
Einführung in die Lateinamerikastudien
Herausgegeben von: Prof. Dr. Miriam Lay Brander

Der vorliegende Band bietet eine fundierte Einführung in die interdisziplinären Lateinamerikastudien. Er gibt einen Überblick über das Fach, indem er seine disziplinäre Vielfalt aufzeigt, es zugleich aber als Einheit greifbar macht. Das Handbuch geht sowohl auf größere Zusammenhänge als auch auf zentrale Fragestellungen der Lateinamerikastudien ein und illustriert diese anhand von ausgewählten Fallbeispielen. Neben den traditionellen Teildisziplinen der Lateinamerikanistik (Altamerikanistik und Anthropologie, Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft, Geschichts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Geographie) werden auch neuere lateinamerikanistische Forschungsgebiete wie die Konflikt- und Friedensforschung, die Protest- und Bewegungsforschung und Interkulturelle Kommunikation berücksichtigt.
Die Autorinnen und Autoren sind etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im jeweiligen Teilbereich der Lateinamerikastudien, wobei auch ausgewiesene Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Deutschland und Lateinamerika mit einbezogen wurden.
Die Einführung richtet sich insbesondere an Studierende von Studiengängen im Bereich der interdisziplinären Lateinamerikastudien und darüber hinaus an alle, die sich beruflich oder privat für Lateinamerika interessieren.

Programmbereich: Romanistik