Das ‚Unheimliche‘ bei E.T.A. Hoffmann
Lesen Sie hier einen Ausschnitt des Aufsatzes „Poetik des Unheimlichen in E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels im Kontext des psychoanalytischen Diskurses“ von Irina Sergeeva-Chernykh aus dem aktuellen Band:
„Das Wechselspiel zwischen Psychoanalyse und Literatur entstand fast gleichzeitig mit der Geburt der Psychoanalyse selbst. Es wäre keine Übertreibung zu behaupten, dass das Unheimliche bei E.T.A. Hoffmann und Sigmund Freud im Mittelpunkt dieses Wechselspiels steht. Das Unheimliche vermag mit seiner Erscheinung bekanntlich etwas enthüllen, was sonst verdrängt geblieben wäre. Vielleicht ist deshalb das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Literatur, das das Unheimliche in seinen Ursprüngen prägt, so komplex.
Das Unheimliche als Wiederkehr des Verdrängten ist nicht leidlos und zwingt die LeserInnen und ForscherInnen literarischer Texte, jenseits des Schleiers der imaginären Objektivität zu blicken und sich die gleichen Fragen zu stellen, denen sich der Mönch Medardus im Roman Die Elixiere des Teufels gegenübersieht. Es geht hier um das Begehren und deshalb auch um die Angst und die Phantasie, also um einige der wichtigsten Fragen der menschlichen Psyche.
Es kann mehrere Ausgangspunkte für eine Untersuchung von Hoffmanns Roman geben. Auch wenn die Wahl eines solchen Ausgangspunktes von irgendeiner wissenschaftlichen Theorie beeinflusst wird, ist diese Entscheidung dennoch zu einem erheblichen Teil eine Frage der persönlichen Präferenz der ForscherInnen. Dabei ist es sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch aus psychoanalytischer Perspektive wichtig, beim Studium des Unheimlichen in Hoffmanns Roman dem Erzähler und dem Text zu folgen. Von hoher Bedeutung ist, zunächst das Unheimliche im Text wörtlich zu suchen. Es ist bekannt, dass die Psychoanalyse sehr auf die Sprache achtet, insbesondere auf Wiederholungen. Sie zeigen die Wichtigkeit von dem an, das wiederholt wird. In den Elixieren des Teufels wird das Wort „unheimlich“ mehr als zwanzigmal verwendet, was relativ viel ist, wenn man dieses Ergebnis mit der Verwendung dieses Wortes bei Hoffmanns Zeitgenossen vergleicht. Es ist bemerkenswert, dass Freud seine eigene Arbeit mit dem Wort „unheimlich“ initiierte. Darüber hinaus geht aus der weiteren Untersuchung hervor, dass das Wort „unheimlich“ in den Szenen verwendet wird, die sich für die Aufdeckung der psychischen Wahrheit des Unheimlichen und das Begehren der Hauptfigur des Romans als entscheidend erweisen. […]
Neues aus der E.T.A.-Hoffmann-Forschung | 14.11.2022 |
E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk im 200. Jubiläumsjahr | |
Mit der Zeitumstellung Ende Oktober hat die Winterzeit Einzug gehalten, kürzere Tage und kühlere Nächte laden zwischen den goldenen Herbsttagen und der besinnlichen Weihnachtszeit zum Lesen ein. Geschichten, die Unheimliches und Fantastisches thematisieren, haben in dieser Jahreszeit Saison. Kaum ein literarisches Werk eignet sich hierfür als Lektüre besser als das E.T.A. Hoffmanns, dessen Tod sich in diesem Jahr zum 200. Mal jährt. mehr … |
Eine jener Szenen findet am Tag der Einkleidung des jungen Franz statt, als er den Namen Medardus annimmt. Während der Zeremonie bemerkt er die Schwester des Konzertmeisters, die schon früher seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und übrigens die erste Frau war, die seine sexuelle Lust weckte. In diesem Moment erinnert sich Medardus an die „Versuchung“, die mit seinen früheren Treffen mit demselben Mädchen verbunden ist. Medardus fühlt jedoch, dass diese Geschichte der Vergangenheit angehört, und er erlebt „frevelnde[n] Stolz“ auf seinen „Sieg“ über die Versuchung. Die Situation, so scheint es, ist fast gelöst, und Medardus ist durchaus bereit, zum „himmlischen Frieden“ seiner Mönchsgelübde zurückzukehren, aber Bruder Cyrillus, der neben Medardus geht, bemerkt sein Lächeln und fragt, worüber Medardus sich so erfreue. Überrascht lügt er und antwortet, dass er sich freue, „der schnöden Welt und ihrem Tand“ zu entsagen. Sobald er diese Worte ausspricht, wird er für seine Lüge bestraft: „ein unheimliches Gefühl [Hervorh. d. Verf.]“ durchbebt sein „Innerste[s]“. Das Unheimliche als eine der Manifestationen der Angst weist auf die Bedeutsamkeit des Geschehenen hin.
Laut der Psychoanalyse soll die Angst „der einzige Affekt, der nicht täuscht“, sein. Es geht um die Tatsache, dass andere Affekte verschoben und an verschiedene Vorstellungen gebunden werden können, während die Angst das Begehren des Subjekts ausdrückt. In der vorliegenden Szene definiert Bruder Cyrillus in seiner Frage Medardus als jemanden, der „sich erfreut“, was auch auf die Genussfreude hindeuten kann. Durch die Frage von Bruder Cyrillus, d. h. durch die Worte einer anderen Person, wird Medardus mit seinem Begehren konfrontiert. Etwas, das verdrängt bleiben sollte, wird aufgedeckt.“
Sind Sie neugierig geworden? Dann lesen sie den vollständigen Aufsatz und weitere Arbeiten zu Hoffmanns Werk im 30. Band des E.T.A. Hoffmann-Jahrbuchs der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft.
Zu den Herausgebenden Claudia Liebrand, Professorin an der Universität zu Köln am Institut für Deutsche Sprache und Literatur. Habilitation 1995 über E.T.A. Hoffmann. Publikationen zur europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, zu Geschlechterdifferenz, Psychoanalyse und Film. Harald Neumeyer, Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Lehr- und Forschungsschwerpunkte zu Franz Kafka, E.T.A. Hoffmann, Literatur und Wissenschaft zwischen 1700 und 2000. Thomas Wortmann, Professor für neuere deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse an der Universität Mannheim. Lehr- und Forschungsschwerpunkte zu Annette von Droste-Hülshoff, E.T.A. Hoffmann, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Drama und Theater der Gegenwart, Gender Studies und zum Film. |
E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2022 Herausgegeben von Claudia Liebrand, Harald Neumeyer, Thomas Wortmann Der 30. Band des E.T.A. Hoffmann-Jahrbuchs beginnt mit einem Beitrag zum „Fräulein von Scuderi“, der eine innovative Perspektivierung auf die Cardillac’sche Urszene vorschlägt. Hoffmanns juristische Schriften und Streitvorgänge sowie deren Literarisierungen im „Meister Floh“ und den „Lebens-Ansichten des Katers Murr“ erschließt der folgende Beitrag unter Einbezug literar-juristischer Aspekte. |
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik