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Heben die Relevanz des „Übergangs“ in der deutschsprachigen Orthographiedidaktik hervor: Hrvoje Hlebec und Said Sahel (v. l. n. r.) (Fotos: Privat)
Nachgefragt bei Vertr.-Prof. Dr. Hrvoje Hlebec und Dr. Said Sahel

„Die Rechtschreibprobleme einer Dritt- und einer Sechstklässlerin unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander“

ESV-Redaktion Philologie
17.02.2022
Erinnern Sie sich noch daran, wie Ihnen die deutsche Rechtschreibung in der Grundschule nähergebracht wurde? Und wie sieht es mit dem Beginn der weiterführenden Schule aus: erhielten Sie weiterhin Hilfestellungen oder wurde Rechtschreibung von da an als Allgemeinwissen behandelt? Für ein Verständnis des Orthographieerwerbs stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem die Einleitung orthographischer Lernprozesse sinnvoll ist und wie diese am besten didaktisch vermittelt werden können. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun ein Sammelband, in dem sich 16 Autorinnen und Autoren mit dem Orthographieerwerb im Übergang zwischen Primar- und Sekundarstufe auseinandersetzen. Wir haben mit den Herausgebern Vertr.-Prof. Dr. Hrvoje Hlebec und Dr. Said Sahel gesprochen.
Lieber Herr Hlebec, lieber Herr Sahel, Sie nehmen sich mit Ihrem Band erstmals explizit des Phänomens „Übergang“ in der deutschsprachigen Orthographiedidaktik an. Von welchem „Übergang“ sprechen Sie?

Said Sahel: Wir meinen zum einen den institutionellen Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe, der für die Kinder in aller Regel mit einer Zäsur verbunden ist in Hinblick auf ihr schulisches Umfeld, also auch mit Veränderungen in der Lehr-Lernkultur.
Gleichzeitig geht es aus didaktischer Perspektive um die Frage nach den Übergängen, die im Lerngegenstand selbst angelegt sind, und Phasen des Übergangs in der Entwicklung der Schüler/innen. Für unseren Band ist insbesondere die Frage relevant, inwiefern diese zwei Aspekte miteinander zusammenhängen.

Wie sieht der Status Quo beim Erwerb von Rechtschreibfähigkeiten in der Schule aus?

Hrvoje Hlebec:
Der Rechtschreibunterricht ist in den letzten Jahren kontrovers diskutiert worden, sowohl in der Fachdidaktik als auch in der breiten Öffentlichkeit. Wie bei anderen sprachlichen Phänomenen geht es hier schnell emotional zur Sache. Mehr Sachlichkeit würde der Debatte in jeder Hinsicht guttun. Den einfachen, idealen Weg zur Rechtschreibkompetenz gibt es nicht. Gleichzeitig arbeitet die Forschung kontinuierlich daran, unterschiedliche Vermittlungsansätze empirisch zu evaluieren und Praktiken zu identifizieren, die den Erwerb von Rechtschreibfähigkeiten möglichst zielführend unterstützen.

Inwiefern unterscheidet sich die Aneignung orthographischer Kenntnisse in der Primarstufe von der in der Sekundarstufe?

Said Sahel:
Traditionell ist es so, dass in der Primarstufe die Grundlagen für die Wortschreibung im Vordergrund stehen. Dazu gehören neben den lautlichen Aspekten vor allem die silbisch und morphologisch bedingten Schreibungen. Auch die Groß- und Kleinschreibung spielt als syntaktisch motivierter Bereich der deutschen Rechtschreibung eine zentrale Rolle. In der Sekundarstufe liegt der Schwerpunkt hauptsächlich auf syntaktischen Schreibungen. Neben der weiterführenden Aneignung der Groß- und Kleinschreibung bilden vor allem die Kommasetzung und die Getrennt-Zusammenschreibung die wichtigsten Bereiche. Außerdem kommt die Fremdwortschreibung hinzu.
Eine solche Schwerpunktsetzung lässt sich durchaus rechtfertigen mit Blick auf die kognitiv-sprachliche Entwicklung von der Kindheit ins Jugendalter. Gleichzeitig stellen wir in unserem Band die Frage, inwiefern die Behandlung bestimmter Phänomene früher ansetzen und dadurch von einer größeren Kontinuität geprägt sein sollte.

Auszug aus: „Orthographieerwerb im Übergang – Perspektiven auf das Rechtschreiben zwischen Primar- und Sekundarstufe“ 15.02.2022
Das Phänomen des „Übergangs“ in der deutschsprachigen Orthographiedidaktik
Wie lässt sich die deutsche Rechtschreibung optimal erlernen? Wie kann institutionell auf die Bedürfnisse der Lernerinnen und Lerner eingegangen werden? Im Erich Schmidt Verlag erscheint ein Sammelband, dessen Beiträge verschiedene empirische Zugänge beleuchten. Diese erstmalige Betrachtung des Phänomens „Übergang“ nimmt dabei die deutschsprachige Orthographiedidaktik sowie die Gestaltung institutioneller Übergänge aus fachdidaktischer Perspektive in den Fokus. mehr …

Welche Konsequenzen haben diese institutionellen Trennungen für die universitäre Lehrerausbildung?

Hrvoje Hlebec:
Die Studiengänge für das Grundschullehramt und die weiterführenden Schulen sind vielfach vollständig voneinander getrennt. Dadurch sind die Schwerpunkte in Lehrveranstaltungen häufig stark schulformbezogen, was natürlich Vorteile haben kann, gleichzeitig aber dazu führt, dass Studierende des weiterführenden Lehramts kaum etwas über die Phase des frühen Schriftspracherwerbs erfahren und umgekehrt. Eine Gestaltung des Übergangs ist so kaum möglich. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil sich bspw. die Rechtschreibprobleme einer Dritt- und einer Sechstklässlerin nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die Kontinuität und die Übergangsphasen sind größer, als es institutionelle Trennung und curriculare Tradition suggerieren.

Mit welchen neuen Ansätzen der Orthographiedidaktik beschäftigen sich die Beiträgerinnen und Beiträger in Ihrem Sammelband?

Said Sahel:
Die Beiträge im Band befassen sich mit aktuellen orthographiedidaktischen Fragestellungen, in denen die Systematik des Gegenstands und die Logik der individuellen Aneignung gemeinsam in den Blick genommen werden. Wenn man bedenkt, wie lange die Sicht auf Orthographie durch die Fehlannahme geprägt war, es handle sich um eine willkürliche Norm, der nur durch Merkwissen beizukommen sei, kann man sich vorstellen, dass mit dieser neuen Perspektive, die Orthographie als ein System begreift, auch neue Sichtweisen möglich werden.

Zum Schluss, welche Veränderungen wünschen Sie sich für einen erfolgreichen orthographiedidaktischen Unterricht?

Hrvoje Hlebec:
(Angehende) Lehrkräfte benötigen ein solides Wissen über das komplexe Bedingungsgefüge schriftsprachlicher Lehr-Lern-Prozesse sowie die Funktionsweise des Schriftsystems. Und natürlich benötigen sie ein umfangreiches Methodenrepertoire, um daraus für die Lernenden schöpfen zu können. Wir wünschen uns sowohl an der Universität als auch an den Schulen Rahmenbedingungen, die es erlauben, solches Wissen aufzubauen, zu vertiefen und weiterzuentwickeln.

Herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche Interview!
Die Herausgeber
Hrvoje Hlebec hat an der Universität Hildesheim mit einer Arbeit zum Thema „Aufgabentheorie und grammatisches Lernen“ promoviert und ist aktuell Vertretungsprofessor an der Universität Leipzig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten in Forschung und Lehre gehört neben Lernaufgaben und Grammatik der Bereich Orthographiedidaktik, sowohl mit Blick auf den frühen Schriftspracherwerb als auch auf den weiterführenden Rechtschreibunterricht.
Said Sahel ist Akademischer Rat für Germanistische Linguistik an der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehört die Schriftlinguistik aus sprachsystematischer und erwerbstheoretischer Perspektive. Publiziert hat er mehrere Arbeiten zur schriftlichen Wortproduktion bei gesunden und hirngeschädigten Erwachsenen. Er ist Mitherausgeber des Bandes „Schriftlinguistik“ in der De-Gruyter-Reihe „Wörterbücher der Sprach- und Kommunikationswissenschaft“.
Orthographieerwerb im Übergang – Perspektiven auf das Rechtschreiben zwischen Primar- und Sekundarstufe
Herausgegeben von: Vertr.-Prof. Dr. Hrvoje Hlebec, Dr. Said Sahel

Das Buch enthält Beiträge, die den Rechtschreiberwerb in verschiedenen orthographischen Bereichen aus der Perspektive des Übergangs von der Primar- in die Sekundarstufe behandeln.
In den teils theoretisch, teils empirisch ausgerichteten Beiträgen wird vor dem Hintergrund der aktuellen Daten- und Forschungslage diskutiert, wie die vorliegenden Erkenntnisse für die Gestaltung und Weiterentwicklung von didaktischen Konzepten zur Vermittlung bzw. Aneignung orthographischer Kompetenzen im Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe nutzbar gemacht werden können.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik