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Omnivore, vegetarische und vegane Ernährungsstile werden kontrovers diskutiert (Foto: Alexander Raths – stock.adobe.com)
Auszug aus: „Essensdiskurse online. Eine diskurslinguistische Analyse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive“

Essen ist politisch

ESV-Redaktion Philologie
12.07.2023
Sowohl Fleischkonsum als auch fleischalternative Ernährung sind heutzutage kontroverse Themen. Womit identifizieren sich deren Anhängerinnen und Anhänger, wie gestaltet sich die Beziehung zwischen beiden Lagern und welche Erkenntnisse kann die Online-Kommunikation diesbezüglich liefern?

Unsere Autorin Suzana Vezjak erforscht in ihrem Buch eben diese online geführten Essensdiskurse und macht das Thema für DaF/DaZ fruchtbar, indem sie den Nutzen für die fremdsprachige Diskursfähigkeit erläutert. Ernährung begreift sie dabei als identitätsstiftend, da kulturelle Diskurse zum Tragen kommen und die Online-Komponente zudem zu hochgradig interaktiver, kooperativer Kommunikation führt.

Lesen Sie im Folgenden einen Auszug aus Suzana Vezjaks neu im Erich Schmidt Verlag erschienenen Band Essensdiskurse online. Eine diskurslinguistische Analyse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive. Darin definiert die Autorin Essen näher und befasst sich u. a. mit der gegenseitigen Beeinflussung des Ernährungsstils und der sozialen Identität.

Essen im Spannungsfeld von Natur und Kultur: Ernährung als kulturelles Phänomen

Obwohl wir alle täglich mehrmals essen, reflektieren wir meist wenig darüber, welche Rolle das Essen in unserem Leben spielt, außer man beschäftigt sich aus Gründen der Gesundheit oder der Eitelkeit damit. Und doch steht das Nahrungsgeschehen neben ähnlich essentiellen Bereichen wie z. B. Sexualität im Zentrum der menschlichen Existenz. „Die Geschichte der Menschheit war immer auch eine Geschichte des Kampfes um Nahrung“ (Setzwein 2004: 17). In bestimmten Teilen der Welt bestimmen Hunger und Durst zwar immer noch grundlegend den Alltag der Bevölkerung, in den Wohlstandsgesellschaften hingegen ist Essen und Trinken im Übermaß vorhanden. Es ist daher vor allem die dauerhafte Überversorgung, welche zur täglichen Sorge um die ‚richtige‘ Ernährung führt und die Ernährungswelten grundlegend prägt (vgl. ebd.).

Die Unvermeidlichkeit, mit der das menschliche Leben an die Nahrung gebunden ist, und der Nahrungstrieb als ein angeborenes Bedürfnis sind Hinweise auf naturale Zusammenhänge. Die Ernährung betrifft dementsprechend das Individuum in seiner biologischen Verfasstheit als stoffwechselbedürftiger Organismus. Hinzu kommt, dass die Nahrung der Natur entstammt bzw. ihr als Ernte, Jagdbeute oder Zuchtvieh abgerungen werden muss (vgl. ebd.: 18). Die Beispiele zeigen, dass die Ernährung mit ihren biologischen Funktionen dem Reich der Natur zuzurechnen ist. Sie kann aber mit gleicher Berechtigung als kulturelle Angelegenheit betrachtet werden (vgl. ebd.). Was die Menschen von Tieren unterscheidet, ist, dass sie zwischen das Nahrungsbedürfnis und dessen Befriedigung das kulturelle System der Küche setzen (vgl. Wierlacher u. a. 1993: 2). In jeder Gesellschaft wird zwischen essbaren und nicht essbaren Dingen unterschieden. Diese Nahrungsauswahl beruht auf kulturellen Übereinkünften und sozialen Urteilen, nur z. B. bei Giftigkeit ist von einer naturgegebenen Einschränkung auszugehen (vgl. Setzwein 1997). Außerdem werden aus den essbaren Naturalien erst durch kulturell festgelegte Formen der Auslese, Verarbeitung (Putzen, Schälen, Schneiden etc.) und Zubereitung (Kochen, Braten, Räuchern etc.) Nahrungsmittel (vgl. Setzwein 2004: 19). Die Ernährung ist also unentwirrbar in das Netz der Kultur verstrickt. Zum kulturellen Regelwerk gehören auch viele andere Vorgänge, die wir als natürlich empfinden, z. B. die Art und Weise, wie über Nahrungsaufnahme, -verwertung und -ausscheidung in einer Kultur gesprochen oder nicht gesprochen wird, aber auch die Normen darüber, wie und in welchem Tempo angemessen zu kauen oder zu schlucken ist (vgl. ebd.). Auch Ehlert (1989: 465) bezeichnet das „Essen [als] allgemein menschliche Notwendigkeit“, die „zugleich von Gewohnheiten und Normen geprägt [ist], die uns meist nicht bewußt sind“ (ebd.).

Die Herausgeber/-innen des Sammelbands Die Zukunft auf dem Tisch (2011) sprechen über Essen als ein soziales Totalphänomen, denn alle Menschen in allen Gesellschaften müssen essen. Dieses Merkmal macht das Essen zu einem idealen Indikator für die Analyse kultureller Prozesse. Zudem ist Essen ein Genussmittel, das enorme Heilkraft aber auch zerstörerisches Potenzial besitzt, außerdem sind Produktion und Handel mit Lebensmitteln ein wichtiger Wirtschaftsfaktor (vgl. Ploeger/Hirschfelder/Schönberger 2011: 13). […]

Im Weiteren besitzt die Ernährung weit über die utilitaristische Funktion hinaus moralische und ästhetische Bedeutungen (vgl. Eder 1988: 11, zit. nach Setzwein 2004: 26), die im naturalistischen Blickwinkel nicht mehr zu erfassen sind. Um diese Ebene der Ernährung zu erfassen, ist eine strukturalistische Herangehensweise hilfreich. Diese versucht nämlich, die gesellschaftlichen „Eigengesetzmäßigkeiten“ aufzuspüren und „die unter der Oberfläche liegende[n] Zusammenhänge offenzulegen“ (Setzwein 2004: 26). Es ist das Verdienst von Claude Lévi-Strauss gezeigt zu haben, dass „die Küche einer Gesellschaft eine Sprache ist, in der sie unbewußt ihre Struktur zum Ausdruck bringt“ (Lévi-Strauss 1976; Bd. III: 532).

[…]

Nachgefragt bei Dr. Suzana Vezjak 12.07.2023
„Den Grad an Aktualität in der Orientierung an der Gegenwartssprache erreicht kein Lehrwerk in dem Maße wie die interaktionale, internetbasierte Kommunikation“
„Echte Männer essen Fleisch“, „Vegane Menschen halten sich für etwas Besseres“ – so oder ähnlich lauten die stereotypen Annahmen, die mit verschiedenen Ernährungsstilen verbunden werden. Im Erich Schmidt Verlag erscheint nun eine „diskurslinguistische Analyse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive“, in der „Essensdiskurse online“ untersucht werden. Wir haben mit der Autorin Dr. Suzana Vezjak gesprochen. mehr …


Das Verhältnis von Geschmack, Genuss und sozialer Identität

Wie oben kurz erläutert, werden die Unterschiedlichkeit und soziale Distanzen der sozial differenzierten Essstile mit der Kategorie des Geschmacks begründet und nicht sozio-ökonomisch, obwohl sie häufig mit sozialen Ungleichheiten korrespondieren (vgl. Barlösius 2011: 49). Es wird geschmacklich begründet, warum Speisen so und nicht anders zubereitet werden, welchem Essstil man sich zugehörig fühlt und welcher einem fremd ist. In diesem Sinne hat der Geschmack „beim Essen wie bei anderen Lebensgebieten die Funktion eines kulturellen und sozialen Distinktionsmittels“ (ebd.). Beim Essen ist allerdings das Besondere, dass „das elementare Schmecken von Zunge und Gaumen mit dem kulturellen und sozialen Geschmack verknüpft ist“ (ebd.). Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum gerade Speisen genutzt werden, „um Gefühle sozialer Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit hervorzurufen, also identitätsstiftend wirken, und gleichzeitig, um soziale und kulturelle Differenzen zu artikulieren“ (ebd.).

Esser/-innen orientieren sich an kulturellen Zuschreibungen und übernehmen sie weitgehend. Daraus ergibt sich, was genossen oder verabscheut wird. Allerdings gibt es auch persönliche Vorlieben und Zurückweisungen, die aber individuell begründet werden und nicht zum kulturell Selbstverständlichen gehören. Die kulturellen Zuschreibungen sind „so mächtig, dass die Erinnerung an die bevorzugten Lebensmittel und Speisen als Genussversprechen erlebt wird“ (ebd.). In dieser Hinsicht prüft der Geschmack nicht mehr, „ob die Speise genussvoll ist, sondern ob sie hält, was sie verspricht. Dies entspricht der spezifischen Wahrnehmungsweise des Geschmacks: zu verifizieren, ob das Tatsächliche dem Erwarteten entspricht“ (ebd.: 89 f.). Es gibt allerdings regionale und soziale Unterschiede, was als genussvoll und wohlschmeckend wahrgenommen wird (vgl. ebd.: 90 f.).

Essen und Schmecken sind Tätigkeiten, die auf unterschiedliche Weise assimilieren (das Identischwerden der Esserin bzw. des Essers mit dem Gegessenen). Beim Essen werden aus Nährstoffen körpereigene Substanzen synthetisiert. Der Geschmack dagegen scheint darauf trainiert zu sein, „Ähnlichkeiten und Unterschiede in kleinsten Nuancen zu ermitteln“ d. h. „[e]r prüft, ob das Geschmeckte den Erwartungen und den Erfahrungen entspricht“ (ebd.). Damit nimmt der Geschmack eine Identitätsprüfung vor: Ist die Speise tatsächlich das, was sie vorgibt zu sein, wonach sie aussieht? Hält der Inhalt, was die äußere Form verspricht (vgl. ebd.: 85)? Der Geschmack misst die Unterschiede qualitativ, deshalb braucht er immer ein Vergleichsobjekt. Die Geschmackseindrücke werden aus diesem Grund in der Art Es schmeckt wie … oder Es schmeckt anders als sonst beschrieben (vgl. ebd.).

Beim Essen wird das Geschmackvolle Teil des Schmeckenden, beim sozialen Gebrauch wirkt der Geschmack allerdings als „praktischer Operator“ (Bourdieu 1980: 192),

„um sich anderen anzugleichen und von ihnen als Teil ihrer Gruppe, ihrer Klasse erkannt und anerkannt zu werden. Der Geschmack vermittelt sinnlich wahrnehmbar soziale Identität und drückt diese aus. […] Das Gleiche zu mögen und das einem selbst Ungleiche gemeinsam abzulehnen, also denselben Geschmack zu haben, führt zu einer wechselseitigen Angleichung aller persönlichen Merkmalszüge, weshalb der Geschmack als Versinnbildlichung dessen gilt, wer und was man ist.” (Barlösius 2011: 86 f.)

Der soziale Gebrauch von Geschmack zeigt sich in der Versinnbildlichung und Identifizierung der sozialen Identität. In modernen Gesellschaften wird der Geschmack zusätzlich […]

Sie sind neugierig, wie es weitergeht? Der Titel erscheint im September 2023 und kann hier
bestellt werden.

Zur Autorin
Suzana Vezjak ist seit September 2019 DAAD-Lektorin an der Wirtschaftsuniversität Bratislava. Sie hat Germanistik in Maribor (Slowenien) und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Leipzig studiert. Sie hat langjährige DaF-Unterrichts- und Prüfungserfahrungen in der Schul- und Erwachsenenbildung aller Niveaustufen im Präsenzunterricht in Slowenien, Deutschland, Ägypten, Irak, Vietnam, Slowakei sowie in zahlreichen Blended-Learning und Online-Kontexten. Zudem leitet sie sprachwissenschaftliche Seminare und Fachkurse, insb. zu Wirtschaftsdeutsch.
Essensdiskurse online. Eine diskurslinguistische Analyse aus fremdsprachendidaktischer Perspektive
Von Suzana Vezjak

Sprache und sprachliches Handeln verändern sich in relevanter Weise durch die Digitalisierung und Mediatisierung. Damit ändert sich auch der Gegenstand des Sprachunterrichts: Medien und Online-Diskurse schaffen eine neue Grundlage für authentisches sprachliches Handeln im Unterricht.
Bisher fehlte es allerdings an einer systematischen, diskurslinguistischen Betrachtung von sprachlichen Mustern und Strategien in einem für den Fremdsprachenunterricht relevanten Online-Diskurs. Hier setzt diese Arbeit an: Anhand empirischer Analysen liefert die Untersuchung neue Einblicke in die interaktive Konstitution von Identität und Beziehungsmanagement auf der Grundlage eines Online-Diskurses zum Thema fleischalternativer Ernährung.
Methodisch schließt die Arbeit an zentrale Forschungslinien der Stilanalyse und Soziolinguistik sowie der gesellschaftlich orientierten Diskursanalyse nach Foucault an. Das Buch macht damit auf den Sprachgebrauch in sozialen Handlungszusammenhängen sowie auf die gruppenspezifischen Eigenheiten und Unterschiede in spezifischen medialen Umgebungen aufmerksam und zeigt didaktische Potenziale für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht auf.

Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache