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LAG Niedersachsen: Keiner der Zeugen hatte die emotionale Reaktion der Klägerin auf die Kündigung, die nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwarten gewesen wäre, anschaulich und lebensnah wiedergegeben (Foto: 73kPx / stock.adobe.com – Symbolbild)
Forensische Aussagepsychologie

LAG Niedersachsen: Wann übereinstimmenden Zeugenaussagen nicht geglaubt werden muss

ESV-Redaktion Recht
23.07.2025
Wann sollte ein Gericht übereinstimmenden Zeugenaussagen glauben – und wann ist Vorsicht geboten? Zu dieser Frage hat sich das LAG Niedersachsen in einem kürzlich veröffentlichten Urteil geäußert und dabei grundlegende Erkenntnisse der Aussagepsychologie angewendet.
In dem Streitfall ging es um den Zugang einer Kündigung innerhalb der Probezeit. Nach dem Vortrag der Beklagten hatte deren Geschäftsführer der Klägerin am 24.10.2023 im Beisein von drei weiteren Mitarbeitern eine schriftliche Kündigung übergeben. Zwar soll diese sich geweigert haben, die Kündigung entgegenzunehmen und den Empfang zu quittieren, jedoch soll das Schreiben auf ihren Schreibtisch niedergelegt worden sein. Am nächsten Tag war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt.  

ArbG Hannover: Zeugenaussagen fehlten hinreichende Realitätskennzeichen


Der anschließenden Kündigungsschutzklage gab das ArbG Hannover mit Urteil vom 26.04.2024 (1 Ca 254/23) statt. Nach der Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen war das ArbG davon überzeugt, dass der Klägerin die streitgegenständliche Kündigung nicht zugegangen war. Obwohl die Zeugen den Vortrag der Beklagten vor Gericht bestätigt hatten, mangelte es dem ArbG zufolge bei den Aussagen an ausreichenden Realitätskennzeichen. Die Aussagen wiesen zwar einen sehr hohen Grad an Übereinstimmung auf – sie seien aber nicht von individuell unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Zeugen geprägt gewesen, so das ArbG. Daraufhin zog die Beklagte mit einer Berufung vor das LAG Niedersachsen.

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LAG Niedersachsen: Keiner der Zeugen ging auf die emotionale Reaktion der Klägerin in ihrer besonderen Situation lebensnah ein   


Die Berufung hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des LAG Niedersachsen hatte die Vorinstanz zutreffend entschieden, dass die Kündigung vom 24.10.2024 das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis nicht beendet hat. Demnach hat das Ausgangsgericht nachvollziehbar und beanstandungsfrei dargelegt, warum es von den Zeugenaussagen nicht überzeugt war. Die tragenden Überlegungen des LAG:

  • Erfahrungssätze der Aussagepsychologie anwendbar: Im Rahmen der Beweiswürdigung sind dem LAG zufolge auch die wissenschaftlichen Erfahrungssätze der Aussagepsychologie zu berücksichtigen.
  • Tatsächlich erlebte Ereignisse oder ergebnisorientierte Angaben? Dabei ist im Rahmen der Glaubhaftigkeitsanalyse einer Aussage entsprechend den allgemein anerkannten Prinzipien der forensischen Aussagepsychologie von der sogenannten Nullhypothese auszugehen. Das bedeutet, dass die Glaubwürdigkeit der Aussage positiv zu begründen ist. Dies erfordert eine Inhaltsanalyse, bei der zu ermitteln ist, ob die Angaben des Zeugen ausreichende „Realkennzeichen“ enthalten. Im Kern ist daher der Frage nachzugehen, ob die Aussage auf tatsächlich erlebten Ereignissen beruht oder ob diese ergebnisorientiert ist. Ist das Erstere der Fall, ist dies ein Anzeichen für die Glaubhaftigkeit der Aussagen.
  • Keine ausreichenden Realitätskennzeichen: Die Vorinstanz hatte dem LAG zufolge ihre fehlende Überzeugung vom Zugang der betreffenden Kündigung damit begründet, dass bei allen Aussagen hinreichende Realitätskennzeichen fehlen. Demnach wurden die Aussagen nicht von individuell unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Zeugen geprägt und stimmten vor allem im Kerngeschehen hochgradig überein. Zu diesem Zwischenergebnis kam auch das Berufungsgericht nach Durchsicht der protokollierten Zeugenaussagen.
  • Kaum Eindrücke über emotionale Reaktion der Klägerin: Aufgefallen ist auch dem LAG vor allem, dass alle Zeugen zwar sehr detailliert darüber berichtet haben, wer bei der Übergabe der Kündigung wo gewesen sein will. Demgegenüber nimmt die Klägerin allerdings nur eine sehr untergeordnete Rolle ein, denn keiner der Zeugen hatte seine Eindrücke über die emotionale Reaktion der Klägerin auf die Kündigung anschaulich und lebensnah wiedergegeben – obwohl es die Klägerin mit einer nicht alltäglichen Situation zu tun hatte, in der mehrere Personen gleichzeitig zwecks Übergabe einer Kündigung in deren Büro erschienen sein sollen.
  • Emotionale Reaktion der Klägerin nicht nur „Randgeschehen“: Schließlich wies das LAG den Einwand der Beklagten zurück, nach dem es bei der Übergabe der Kündigung – die allenfalls 30 bis 60 Sekunden gedauert haben soll – kein weiteres beweiserhebliches „Randgeschehen“ gegeben habe. Nach Auffassung des LAG ist eine erkennbare Emotion der Klägerin auf die für sie keineswegs alltägliche Situation schon kein „Randgeschehen“. Vielmehr, so das Gericht weiter, bleibe ein solches Ereignis – nach allgemeiner Lebenserfahrung – viel nachhaltiger in Erinnerung als die unwesentlichen Details, die die Zeugen zur Übergabe der Kündigung angegeben haben. Denn letztere würden nämlich in aller Regel mit der Zeit verblassen.


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ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz


Autoren: Dr. Friedrich H. Heither, Dr. Martin Heither

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(ESV/bp)

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