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Setzen sich für Nachhaltigkeit in all ihren Dimensionen ein: Katina Klänhardt und Jun.Prof. Dr. Nina Simon (Foto: links: privat / rechts: Can Kınalıkaya)
Nachgefragt bei Katina Klänhardt und Jun.Prof. Dr. Nina Simon

„Nachhaltigkeit sollte auch im Unterricht nicht (mehr) auf die ökologische Dimension verengt werden“

ESV-Redaktion Philologie
25.04.2023
Klimaneutral, recycelt, ohne Plastik – diese Versprechen kennzeichnen heutzutage viele Produkte. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Ist es auch, denn sogenanntes „Greenwashing“ ist nur eine der Gefahren, mit denen sich auch Schüler:innen im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte auseinandersetzen sollten. Im Unterricht sollen sie daher lernen, eine machtkritisch-reflexive Perspektive auf das Thema Nachhaltigkeit einzunehmen: Wo endet meine Handlungsfähigkeit? Wo geht es v. a. um die strukturelle und diskursive Ebene? Wo geht es um komplexe (global-)gesellschaftliche Zusammenhänge und somit immer auch um die soziale Dimension von Nachhaltigkeit?
Ausgabe 68 unserer Zeitschrift Fremdsprache Deutsch widmet sich genau diesem Thema, der Nachhaltigkeit. Das Heft wurde von Katina Klänhardt und Jun.Prof. Dr. Nina Simon herausgegeben. Wir hatten die Gelegenheit, noch einmal mit Jun.Prof. Dr. Nina Simon über das Heft zu sprechen.

Liebe Frau Jun.Prof. Dr. Nina Simon, wie kann Unterricht nachhaltig sein?

Nina Simon: Mit Blick auf das Zusammenwirken von Nachhaltigkeit und Unterricht ist es sehr bedeutsam, sich zunächst mit der Beschränktheit der Möglichkeiten im Rahmen unterrichtlicher Settings zu befassen.
Wird die Bedeutung von Unterricht hinsichtlich einer Förderung von Nachhaltigkeit überschätzt, gerät die strukturelle und diskursive Ebene schnell aus dem Blick. Das ist gefährlich, denn dann läuft unterrichtliches Handeln darauf hinaus, das zu suggerieren, was zum Beispiel auch Unternehmen tun, nämlich ein sogenanntes Greenwashing betreiben. Das haben Fritz Kempas, Natalia Sarota und Farriba Schulz sehr treffend in einem Text herausgearbeitet, der ursprünglich als Fachecke in das Heft hätte aufgenommen werden sollen, es dann aber leider doch nicht ins Heft geschafft hat. Beim Greenwashing geht es vereinfacht gesagt darum, ein gutes Gefühl bei den Beteiligten (bei Firmen den Kund:innen, in unterrichtlichen Settings den Akteur:innen im Unterricht, aber auch Lehrwerkverlagen und Bildungsinstitutionen) zu erzeugen, indem suggeriert wird, dass die Problematiken Nachhaltigkeit betreffend auf individueller Ebene gelöst werden können.
Damit wird nicht nur die Handlungsfähigkeit von Subjekten massiv überschätzt, vielmehr trägt eine solche Praxis auch dazu bei, die sehr viel wirksameren Ebenen (auch) diesbezüglich, nämlich die strukturelle und die diskursive, systematisch aus dem Blick geraten zu lassen. Daran haben neoliberale Akteur:innen natürlich ein Interesse, da es ihnen, nicht nur bei Nachhaltig, sondern beispielsweise auch bei Diversität, vorrangig, möglicherweise auch einzig darum geht, ihren Output zu vergrößern – und das gelingt seit geraumer Zeit dann besonders gut, wenn sie sich als nachhaltig bzw. diversitätsbewusst inszenieren. Im Umkehrschluss heißt das: Nicht als nachhaltig bzw. diversitätsbewusst inszenierte Produkte verkaufen sich heute nicht mehr so gut. Mit einer machtkritischen Perspektive, die auf (v. a.) strukturelle und diskursive Veränderung abzielt, hat das nichts zu tun. Mit Blick auf Diversität zeigt das u. a. Walter Benn Michaels in seinem Text „Against Diversity“ (https://newleftreview.org/issues/ii52/articles/walter-benn-michaels-against-diversity).

Lässt sich daraus ableiten, dass eine Integration des Themas Nachhaltigkeit und damit der 17 Nachhaltigkeitsziele in den Unterricht und in Lehrwerke nicht zielführend ist, weil eine unterrichtliche Behandlung Gefahr läuft, diesen Komplex auf die individuelle Ebene zu reduzieren?

Nina Simon: Nein, eine solch verabsolutierende Konsequenz aus dem Skizzierten zu ziehen, wäre verkürzt. Zwar ist insbesondere die Debatte um die Umgestaltung von Lehrwerken und -materialien eine, die immer wieder in eine Richtung zu kippen droht, in der alles mit einer Korrektur auf symbolischer, also sprachlicher und bildlicher, Ebene gelöst zu sein scheint, aber das bedeutet nicht, dass Unterricht und Lehrwerke diese Themen aussparen sollten, im Gegenteil: Durch ein Aussparen entstünde vielmehr der Eindruck, diese Themen seien für den Unterricht bzw. für Lehrwerke nicht relevant und das trifft natürlich insbesondere dann nicht zu, wenn wir uns vor Augen führen, dass es sich dabei um (global-)gesellschaftlich wirkende Komplexe handelt, v. a. auf der strukturellen und diskursiven Ebene.
Das, was im Rahmen eines solchen Nachdenkens allerdings zum Vorschein kommt und unseres Erachtens unbedingt kontinuierlich reflektiert werden sollte, ist die Ambivalenz, die diese Gemengelage mit sich bringt: Einerseits birgt ein gewisser Modus der Behandlung derartiger Themen im Unterricht die unter der ersten Frage skizzierte Gefahr in sich, andererseits wird durch die Integration dieser Themen in den Unterricht auch etwas ermöglicht, nämlich die Auseinandersetzung von Lehrenden und Lernenden mit derartigen Zusammenhängen. Im besten Fall kann aus einer machtkritisch-reflexiven Perspektive konzipierter Unterricht dadurch einen kleinen Beitrag dazu leisten, bei den Akteur:innen Bildungsprozesse anzustoßen, die ihr Bewusstsein um ihr Verstricktsein in (global-)gesellschaftliche Verhältnisse vergrößern, sie damit auf die Beschränktheit ihrer Handlungsfähigkeiten reflektieren lassen und ihnen dennoch auch Möglichkeiten aufzeigen, was sie selbst tun können. Nur eben nicht in einem naiven, gesellschaftstheoretisch nicht fundierten „Ich rette die Welt, indem ich das nachhaltige Produkt X oder Z kaufe“-Modus, sondern in einem Befähigen und Ermuntern zur kritischen (Selbst-)Reflexion und Artikulation von Kritik an diesen Verhältnissen.

Auszug aus: „Fremdsprache Deutsch Heft 68 (2023): Nachhaltigkeit“ 19.04.2023
Storytelling for Future
Mehr Nachhaltigkeit erreichen durchs Geschichtenerzählen? Ein Projekt, das Menschen aus nordischen Ländern und der Arktis zu ihrem Naturverständnis interviewte, soll Schülern und Schülerinnen genau das ermöglichen. Das Storytelling, die Sprache selbst, verbindet die Natur mit dem sozialen Leben der Menschen und schafft Raum für Kommunikation, Verständnis und Gemeinschaft. mehr …

Was erwartet unsere Leser:innen in FD 68?

Nina Simon: Neben der erläuterten Ambivalenz besteht eine weitere Herausforderung mit Blick auf Nachhaltigkeit darin, dieses Thema nicht weiterhin auf die ökologische Dimension zu verengen. Dass das bisher der Fall ist, spiegelt sich nicht nur, aber auch in Lehrwerken wider. Wir haben daher versucht, mittels der Beiträge im Heft und wie in der (von uns verfassten) Einleitung erläutert auch die bisher nur marginal berücksichtigten anderen Nachhaltigkeitsdimensionen aufzunehmen. Deshalb gibt es zum Beispiel auch einen Beitrag zu Rassismus(kritik) im Heft.
Dass es schlussendlich einer intersektional informierten Perspektive auch auf die ökologische Dimension bedarf, zeigt sich schließlich nicht zuletzt daran, dass es mit Greta eines weiß positionierten Mädchens aus dem globalen Norden bedarf, um Nachhaltigkeit Gehör zu verschaffen, während Aktivist:innen aus dem globalen Süden, die mit den Konsequenzen einer Nicht-Berücksichtigung von Nachhaltigkeit seit langer Zeit bereits viel offensichtlicher konfrontiert sind, sich kaum Gehör verschaffen können. Das trägt zu einer (Re-)Produktion der (globalen) Asymmetrie des Gehört-Werdens bei, die in der Postkolonialen Theorie seit langer Zeit kritisiert wird. Mittels einer Berücksichtigung der sozialen Dimension im Nachhaltigkeitskurs könnte sie vielleicht zumindest mit Blick auf diesen Komplex etwas geschwächt werden. Auch das haben wir versucht in der Einleitung aufzugreifen, sodass die Leser:innen neben Beiträgen zur ökologischen Dimension im Heft auch derartige Überlegungen erwarten.

Was ist Ihr Tipp zum Umgang mit Nachhaltigkeit im Unterricht?

Nina Simon: Neben einem konsequenten Berücksichtigen und dem Zulassen von Ambivalentem in derartigen Zusammenhängen halten wir es wie erwähnt wichtig, Nachhaltigkeit auch im Unterricht nicht (mehr) auf die ökologische Dimension zu verengen. Außerdem erscheint uns ein Mehr an Gesellschaftstheorie insbesondere für sogenannte Praxis-Zusammenhänge nicht nur (Analoges ließe sich beispielsweise mit Blick auf Diversität konstatieren), aber auch den Bereich Nachhaltigkeit betreffend unabdingbar. Die aus der Anzahl der Beiträge in diesem Heft resultierende Gewichtung, die leider erneut suggeriert, es wäre v. a. die ökologische Dimension, die es zu berücksichtigen gälte, ist ein Resultat des Irrglaubens, Theorie und Praxis seien zwei voneinander getrennte bzw. trennbare Bereiche.
So sollen Beiträge im Heft gemäß dessen Ausrichtung auf erprobten Unterrichtskonzepten basieren – und da es diese v. a. zur ökologischen Dimension gibt, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass es – ungleich unseres Anliegens als Herausgeberinnen des Heftes – deutlich weniger Beiträge etwa zur sozialen Dimension gibt. Utopien lassen sich eben schlecht durch einen schlichten Rückgriff auf Bestehendes entwerfen. Mit Blick auf den Komplex Nachhaltigkeit gilt es für eine konsequente Berücksichtigung der Verwobenheit von Theorie und Praxis insbesondere deshalb weiterhin stark bzw. in Kontexten wie dem des Heftes künftig deutlich stärker zu plädieren, da – um mit den Worten María do Mar Castro Varelas zu enden – „ohne theoretisches Handwerkzeug, ohne eine gute Analyse [.] eine pädagogische [und auch unterrichtliche, Erg. NS] Praxis nur die Hüterin des Status quo sein [kann]. Überschreiten benötigt der [sic!] Abstraktion“ (dies. 2018: 14) [1].

[1] Castro Varela, María do Mar (2018): Erlaubter Wahnsinn. Migrationspädagogische und postkoloniale Perspektiven in Theorie und Praxis. In: SchlaU-Werkstatt für Migrationspädagogik (Hg.): Migrationspädagogische Praxis in der Zusammenarbeit mit jungen Geflüchteten. Eine Suchbewegung. Jahrestagung 2017. München, 8-15.

Jun.Prof. Dr. Nina Simon
ist Juniorprofessorin für DaF/DaZ mit dem Schwerpunkt Kulturstudien am Herder-Institut der Universität Leipzig und arbeitet zu Fragestellungen in diesem Zusammenhang in der Tradition der Cultural Studies.

Fremdsprache Deutsch Heft 68 (2023): Nachhaltigkeit
Themeheftherausgebende: Katina Klänhardt, Jun.Prof. Dr. Nina Simon

Greta Thunberg machte es vor und weltweit tun es ihr Millionen Schüler:innen nach: Sie gehen freitags für mehr Nachhaltigkeit und eine zukunftsfähige Klimapolitik auf die Straßen und treten in den Schulstreik. Der Begriff der Nachhaltigkeit hat aber nicht erst seit dem ersten globalen Fridays for Future Klimastreik im März 2019 als Leitbild Einzug in die Bildungssysteme erhalten. Schon mit Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wurde 2005 Nachhaltigkeit als Leitbild in sechs Bildungsbereichen verankert. Die Beiträge des vorliegenden Hefts fokussieren auf unterschiedliche Nachhaltigkeitsdimensionen und setzen sich insbesondere mit der Bearbeitung von ökologischen und sozialen Themen im Fremdsprachenunterricht auseinander. Das Heft gibt somit Einblicke nicht nur in die Komplexität des Nachhaltigkeitsdiskurses, sondern auch in Möglichkeiten, Aspekte daraus in unterrichtlichen Settings zum Beispiel anhand der themengebenden 17 Nachhaltigkeitsziele praktisch umzusetzen. Hierzu kommen u. a. Lehrende zu Wort, die einzelne Unterrichtsentwürfe, Materialien und Herangehensweisen erprobt und anschließend reflektiert haben. Die Beiträge zielen darauf ab, das Bewusstsein für verschiedene Zusammenhänge, in denen Nachhaltigkeit thematisiert werden kann, zu erweitern und dazu anzuregen, Vorgeschlagenes selbst auszuprobieren.

Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache