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Was Kinder heutzutage noch mit den antiken Hochkulturen gemeinsam haben: Sie schreiben anfangs häufig noch ohne Wortzwischenraum. (Foto: vronska/stock.adobe.com)
Die Geschichte des Leerzeichens

„Nichts weiter als ein ‚tintenloser Raum‘“

ESV-Redaktion Philologie
04.01.2024
Würden wir gefragt, welche Type seit der Erfindung des Buchdrucks auf dem europäischen Kontinent am häufigsten auftritt, würde womöglich das große Rätselraten beginnen. Dabei ist die Antwort ganz einfach: das Leerzeichen. Über eine abwesende Glyphe, die wir alle schätzen sollten und an die trotzdem fast nie jemand denkt.
Denn ein Leerzeichen kann man nicht falsch schreiben, man muss sich kalligraphisch kaum Gedanken über dessen Ausführung machen; man kann es maximal vergessen, und selbst das passiert den meisten Erwachsenen ausschließlich beim Tippen.

In jeder Handschrift zeichnet sich das Leerzeichen vor allem durch seine Absenz aus. Vermutlich bekam in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie jemand gesagt, er oder sie mache ein besonders schönes Leerzeichen. In der Editionspraxis sieht es dahingegen ganz anders aus. Über Länge und verschiedene Varianten des Spatiums kann man durchaus streiten. Johannes Guttenberg verwendete seinerzeit lediglich ein Maß für den Wortabstand: den Innenraum, die sogenannte Punze, des kleinen n. Mit der Verbreitung der Schreibmaschine veränderte sich dies. Heute können jegliche Textverarbeitungsprogramme den Wortzwischenraum variieren, beispielsweise um einen Text im Blocksatz zu formatieren.
Ursula Bredel hat den linguistischen Spezifitäten des Spatiums in ihrem neuen Einführungsbuch Das Schriftsystem des Deutschen. Graphetik – Graphematik – Orthographie – Erwerb ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem sie uns unter anderem erklärt, weshalb wir alle froh um die Einführung des graphischen Wortabstands sein sollten. Und das, obwohl dieses leicht zu übersehende (Nicht-)Zeichen noch gar nicht allzu lange existiert. Wir laden Sie ein, einen Blick in das Buch zu werfen:

„Historisch handelt es sich um eine recht späte Erfindung: [Das Titelbild zeigt beispielhaft eine antike Inschrift ohne] eine strukturierende Nutzung des segmentalen Raums: Es handelt sich um die sog. scriptio continua, also eine Schreibung ohne Leerzeichen zwischen Wörtern. Die scriptio continua ist der scriptio discontinua, also der Schreibung mit Leerzeichen zwischen Wörtern, in Bezug auf die Lesbarkeit von Texten weit unterlegen, dies vor allem deshalb, weil Auge und Stimme nicht arbeitsteilig vorgehen können.

Beim Lesen bewegt sich das Auge nur scheinbar fließend durch den Text. Tat­sächlich findet ein Wechsel zwischen Sakkaden und Fixationen statt. Sakkaden sind Sprünge, Fixationen sind Haltepunkte. Während der Sakkaden ist das Auge „blind“ (sakkadische Suppression), während der Fixationen werden Informatio­nen aufgenommen. Dabei werden nicht nur die Buchstabenfolgen, die im unmit­telbaren Fokus des Landeplatzes liegen, aufgenommen; vielmehr blickt das Auge während der Fixation nach vorn (parafoveale Vorausschau) und nimmt so optisch saliente Informationen auf (zum Beispiel Leerzeichen, Großbuchstaben, die ungefähre Länge des Folgewortes, Absätze …). Auf der Basis dieser Informa­tionen wird die nächste Sakkade gesteuert, die in Texten mit scriptio disconti­nua, in denen Wortgrenzen sichtbar sind, etwa 8–10 Buchstaben umfasst.

In Texten mit scriptio continua sinkt die Sakkadenlänge auf 2–3 Buchstaben. Die Buchstaben müssen vom Auge einzeln „aufgelesen“ und in einem interpretativen Akt zu Wörtern zusammengefügt werden. Dabei dient die Stimme als Stützinstru­ment: Durch die Mitartikulation werden gelesene Buchstaben, Silben und Wort­fragmente bis zu ihrer vollständigen Rekonstruktion im Arbeitsgedächtnis gespei­chert, bevor sie zu Wörtern und größeren Einheiten zusammengefügt werden. Saenger (1997 [...]) spricht davon, dass der Leseprozess beim Lesen von scriptio continua- Texten in zwei Teilprozesse zerfällt: die lectio und die narratio. […]


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Das Schriftsystem des Deutschen ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stabil, auch wenn sein Regelwerk bis heute immer wieder verändert wurde. Ursula Bredels neues Buch liefert uns Antworten auf alle Fragen rund ums Thema: Sie erklärt, weshalb die Rechtschreibreform von 1996 so viele verärgerte, wie man Kindern den Schriftspracherwerb erleichtern kann und inwiefern Schrift als Struktur und Kultur in einem gedacht werden muss. mehr …


Das Leerzeichen befreit die Stimme von der Mitwirkung an der Wortidentifikation, die nun vom Auge allein übernommen werden kann. Die Stimme ist nun nur noch als subvokalisatorische Begleitbewegung des Kehlkopfs spürbar. Sie ist nicht mehr in die Konstruktion von Wörtern eingespannt, sondern begleitet die Konstruktion von Wortgruppen und Sätzen. Der physische Ausdruck der neu gewonnenen Arbeitsteilung zwischen Auge und Stimme ist die eye-voice-span, also die Distanz zwischen der Position, mit der das Auge beschäftigt ist, und der Position, mit der die Stimme befasst ist. Sie beträgt bei Texten in scriptio continua null, bei Texten in scriptio discontinua reicht sie über 2–3 Wörter. Das Auge eilt der Stimme voraus. Lectio und narratio können in einem Zug realisiert werden. Nicht zufällig also ist die scriptio continua nach der Erfindung des Spatiums relativ rasch verschwunden. Der Beginn der systematischen Nutzung des Leer­zeichens und damit der Wechsel zur scriptio discontinua ist jedoch nicht völlig zweifelsfrei zu datieren. Saenger (1997) lokalisiert ihn in der Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter, mit Ausgangspunkt in Irland. Die Erstversu­che, das Deutsche zu verschriften konnten im 8. Jh. n. u. Z. also schon auf Vorbil­der zurückgreifen. Dennoch gibt es bis ins Hochmittelalter hinein noch größere Experimentierphasen. […] [Busch und Fleischer] stellen in einer Untersuchung von deutschen Textzeugnissen aus dem 8. und 9. Jh. fest, dass verschiedene Schreiber das Leerzeichen selbst bei der Verschriftung desselben Textes unterschiedlich nutz­ten. […] Die Unterschiede zwischen verschieden ausgebauten Getrenntschreibungen in der von ihnen untersuchten Epoche sei darauf zurückzuführen, dass es Schreiber gebe, die die Getrenntschreibung „individuell nicht beherrschen“ […].

Empirisch gestützte Modelle zum Erwerb der Getrennt- und Zusammenschrei­bung ergeben verblüffende Übereinstimmungen zwischen Ontogenese und His­toriogenese (Bredel 2006 […]): Kinder starten beim Schriftspracherwerb in der Regel mit der scriptio continua: Bei der Entdeckung des Wortzwischenraums widerstehen einsilbige, unakzentu­ierte Einheiten der Getrenntschreibung […]. Die Umstellung auf die Morphologie führt dann übergangsweise zur vermehrten Getrenntschreibung[.] Am Ende eines erfolgreichen Erwerbsprozesses steht nach einer langen Experi­mentierphase eine ausbalancierte Nutzung morphologischer und syntaktischer Hinweise für die Worttrennung“.

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Die Autorin
Prof. Dr. Ursula Bredel ist Professorin für deutsche Sprache und ihre Didaktik in Hildesheim. Sie forscht und lehrt seit über 25 Jahren zur Schrift- und zur Schrifterwerbstheorie. Bekannt geworden sind vor allem ihre Arbeiten zum Interpunktionssystem des Deutschen sowie ihre Modelle zum Erwerb der Wortschreibung. Als Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung trägt sie zur Weiterentwicklung der Kodifizierung der deutschen Orthographie bei.


Das Schriftsystem des Deutschen
Graphetik - Graphematik - Orthographie - Erwerb
Eine Einführung

Von Ursula Bredel


Der vorliegende Band führt in Theorien und Modelle zur Beschreibung des Schriftsystems des Deutschen ein.
Im Zentrum stehen drei schriftlinguistische Teildisziplinen: die Graphetik, die sich mit der äußeren Form schriftsprachlicher Mittel befasst, die Graphematik, die die schriftsprachlichen Gesetzmäßigkeiten rekonstruiert, und die Orthographie, die Fragen der Normierung ins Zentrum stellt. In einem eigenen Kapitel werden weitere schriftlinguistische Teildisziplinen überblicksartig dargestellt.
Strukturiert ist der Band entlang der relevanten Phänomenbereiche der Schrift: Bearbeitet werden die klassisch zu nennenden Bereiche Wortschreibung (Kern- und Fremdwortschreibung), Getrennt-/Zusammenschreibung, Groß-/Kleinschreibung und Interpunktion.
In einem abschließenden Kapitel werden Modellbildungen des Schriftspracherwerbs diskutiert, die sich aus den schrifttheoretischen Konzepten ergeben.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik