Sie haben folgende Möglichkeiten:
  1. zum Login.
  2. zur Navigation.
  3. zum Inhalt der Seite.

Grammatische Regeln müssen kein Kopfzerbrechen bereiten. (Foto: deagreez/stock.adobe.com)
Nachgefragt bei Prof. Dr. Anne Berkemeier und PD Dr. Lirim Selmani

„Sprache dient dem Verständigungshandeln zwischen Sprecher*innen und Hörer*innen“

ESV-Redaktion Philologie
24.10.2024
Grammatikunterricht ist bei einem Großteil von Schülerinnen und Schülern nicht gerade beliebt. Das kann auch daran liegen, dass die vermittelten Inhalte oft nicht genug Bezüge zu realen Kommunikationssituationen bieten und deshalb als unwichtig wahrgenommen werden. Die handlungsbezogene Grammatikvermittlung stellt das „Warum?“ der Sprache in den Vordergrund und versucht, solche Probleme zu beheben.
Anlässlich der Veröffentlichung ihrer Handlungsbezogenen Grammatikdidaktik haben wir mit den Autor*innen Anne Berkemeier und Lirim Selmani gesprochen. Sie erklären die typischen Probleme der traditionellen Grammatikvermittlung und erläutern, warum ihr Ansatz neue Chancen für Lehrende und Lernende bieten kann. Wir wünschen viel Freude beim Lesen.

---------------------------------------------------------

Liebe Frau Berkemeier, lieber Herr Selmani, was ist Ihrer Meinung nach das Problem mit dem klassischen Grammatikunterricht?


Anne Berkemeier, Lirim Selmani: Der traditionelle Grammatikunterricht nimmt sprachliche Formen in der Regel isoliert in den Blick und konzentriert sich auf die Formenbildung, ohne die kommunikative Funktion zu berücksichtigen. Das Problem besteht darin, dass die grammatischen Formen aber gerade den kommunikativen Funktionen im Rahmen von Handlungsformen und den jeweiligen situativen Bedingungen folgen.

Ohne diese Bezüge entsteht von Sprache ein Bild von funktionslosen Formen. Das sieht man besonders gut bei der Wortarten- und Satzgliedbestimmung, die an künstlichen, meistens nicht authentischen Beispielen durchgeführt werden. Die Frage, in welchen Handlungszusammenhängen man welche Sprachmittel mit welchen kommunikativen Zielen verwenden kann, wird nicht gestellt.
 
Welche Möglichkeiten, das zu ändern, bietet Ihr Ansatz?

Anne Berkemeier, Lirim Selmani: Unser Ansatz geht von einer handlungsfundierten Sicht auf Sprache aus: Sprache dient dem Verständigungshandeln zwischen Sprecher*innen und Hörer*innen. Wir gehen bei der Betrachtung von Sprachformen vom Handlungszusammenhang aus. Geht es z.B. im Rahmen von Anleitungen darum, etwas unter ähnlichen anderen zu identifizieren, kann man unterschiedliche Formen des Unterscheidens verwenden. Je nach Zielgruppe und eigenem Sprachvermögen verteilt man die notwendigen Informationen auf mehrere Sätze, verwendet ausgebaute Nominalgruppen oder komplexe (Fach-)Ausdrücke. Im Kern unseres Vermittlungsansatzes geht es darum, dass sprachliche Mittel kommunikative Zwecke realisieren. Es geht darum, Formen im Rahmen von Handlungsform und -kontext möglichst funktional bewusst auszuwählen.

An wen richtet sich Ihr Buch, wer kann von Ihrem Ansatz profitieren?

Anne Berkemeier, Lirim Selmani: Unser Buch richtet sich vornehmlich an Studierende und Lehrkräfte, aber auch Kolleg*innen, mit den entsprechenden Schwerpunkten in Lehre und Forschung. 

Auszug aus: „Handlungsbezogene Grammatikdidaktik“ 25.09.2024
Zeitgemäße Alternativen zum bisherigen Grammatikunterricht
In jeder Situation, in der wir mit anderen Menschen kommunizieren, sind Sprache und somit auch Grammatik für ein gegenseitiges Verständnis unabdingbar. Jede Kommunikationssituation ist dabei unterschiedlich – gerade Lernende einer Zweit- oder Fremdsprache kann das vor Herausforderungen stellen. Der Grammatikunterricht hat hier das bisher noch überwiegend unausgeschöpfte Potenzial, die Lernenden auf diese Alltagssituationen und ihre unterschiedlichen Ansprüche an die Sprache vorzubereiten. mehr …

 
Sie schreiben von schulstufenübergreifenden Hilfen, von Studierenden und von Formulierungsschwierigkeiten, die auch bei Erwachsenen auftreten. Kann das im Buch vorgestellte Konzept auf alle Altersklassen gleichermaßen angewandt werden? Wo liegen in der Vermittlung vielleicht doch Unterschiede?

Anne Berkemeier, Lirim Selmani: Grundsätzlich geht es uns um den sukzessiven Ausbau von anwendbarem Sprachwissen. Die sprachlichen Mittel, die kommunikativ zur Verfügung stehen, unterscheiden sich altersbezogen nicht, sondern in ihrer Komplexität. Auch Grundschüler*innen können in Alltagskontexten beispielsweise schon komplexe Nominalgruppen verwenden. Allerdings sind die Inhalte dann weniger komplex. Ältere Schüler*innen und Erwachsene verfügen in der Regel über das gesamte Sprachsystem. Dennoch kann Sprachwissen nützlich sein, um sich bei komplexen inhaltlichen Zusammenhängen oder in sensiblen Kommunikationssituationen bewusst für oder gegen Formulierungsalternativen zu entscheiden.

Im Vorwort erwähnen Sie die Zusammenarbeit mit Studierenden. Inwiefern hat diese Zusammenarbeit das Buch verändert?

Anne Berkemeier, Lirim Selmani: Wenn man sehr lange an einem komplexeren Zusammenhang arbeitet, verliert man allmählich die Außensicht darauf. Die Verstehensschwierigkeiten und auch Einwände von Studierenden zeigen dann auf, an welchen Stellen die Darstellung geschärft werden muss. Im Hinblick auf dieses Buchprojekt war es vor allem die immer wiederkehrende Frage „Wie kann man sich das Konzept konkret im Unterricht vorstellen?“, die zur parallelen Materialentwicklung führte. Anfangs wurden – auch gemeinsam mit Studierenden – nur Einzelvorschläge entwickelt. Die zusammenhängenden Materialvorschläge und das Ineinandergreifen der didaktischen Instrumente ergab sich erst relativ am Ende des Vorhabens.
 
Was ist Ihr ganz persönlicher Tipp zur Grammatikvermittlung?

Anne Berkemeier, Lirim Selmani: Grammatik ist kein Regelkatalog, der uns sagt, was falsch und richtig ist, sondern vielmehr das Formensystem menschlichen Sprachhandelns. Die Vermittlung sollte sofern irgend möglich von einer authentischen oder zumindest authentizitätsnahen Handlungssituation ausgehen, in der bestimmte sprachliche Formen funktional oder dysfunktional verwendet werden. Diese gilt es dann – zwecks Orientierung oder Überarbeitung – grammatisch zu betrachten. Wir schlagen also die Vermittlung von Formen unter Einbeziehung ihrer Funktionen vor, wie sie eingebettet in gesellschaftlich entwickelte Handlungsformen vorkommen.

 
Wir danken Ihnen für das Gespräch.

-----------------------------------------------------------

Sie sind neugierig geworden und möchten mehr über diese Art der Grammatikvermittlung erfahren? Dann können Sie das Buch hier bestellen.

Die Autor*innen
Anne Berkemeier ist Professorin für Sprachdidaktik an der Universität Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die Bereiche Schriftvermittlung, Grammatikdidaktik sowie die Förderung mündlicher und schriftlicher Kommunikationskompetenzen in der Erst- und Zweitsprache Deutsch. In ihren Arbeiten steht ein enger Theorie-Praxis-Bezug im Vordergund.

Lirim Selmani ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Sprachdidaktik am Germanistischen Institut der Universität Münster. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte umfassen die Grammatik des Deutschen, Grammatikdidaktik und den Grammatikerwerb in der Zweitsprache Deutsch.

Handlungsbezogene Grammatikdidaktik
Grammatische Strukturen im Gebrauch vermitteln

von Anne Berkemeier und Lirim Selmani

Grammatikunterricht ist seit Jahrzehnten in der Kritik. Schulisch vermitteltes grammatisches Wissen ist aufgrund der Dominantsetzung des Formendrills wenig nachhaltig verfügbar und seine Sinnhaftigkeit wird bezweifelt.
Ziel dieser handlungsbezogenen Grammatikdidaktik ist es, die vorhandenen Problemlöseansätze zusammenzuführen, dadurch dass Formen in ihrer kommunikativen Funktion im Rahmen von Handlungsformen sprachniveausensibel begreifbar und für das eigene Formulieren in konkreten Handlungszusammenhängen nutzbar gemacht werden. Für den systematischen und nachhaltigen Ausbau sprachlichen Wissens und Könnens werden drei sprachdidaktische Instrumente sukzessive eingeführt und ausgebaut, damit die Formen und Funktionen langfristig für das situationssensible Formulieren verfügbar bleiben, bis sie verinnerlicht sind.
Das Buch stellt das Konzept und die verwendeten Formen, kommunikative Funktionen und Handlungsformen im Einzelnen dar und konkretisiert den Ansatz exemplarisch unterrichtspraktisch in Form je einer digitalen Sprachentwicklungsumgebung für die Grundschule und die Sekundarstufe I.

Programmbereich: Germanistik und Komparatistik