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Sprachengerechtigkeit bedeutet für Hans-Jürgen Krumm, Sprachen immer im Plural zu denken (Foto: Roman Motizov – stock.adobe.com)
Auszug aus „IDT 2022: *mit.sprache.teil.haben, Band 5: Sprachenpolitik und Teilhabe“

Sprachengerechtigkeit ist das Gegenteil jeder Einsprachigkeitsideologie

ESV-Redaktion Philologie
24.11.2023
Wer legt fest, welche Sprache gesprochen wird? Inwiefern werden dadurch die Realitäten von Angehörigen einer Sprachminderheit beeinflusst? Und wie sehen Ansätze aus, die Sprachideologien aufzubrechen versuchen?
Lesen Sie dazu im Folgenden einen Auszug aus dem neu im Erich Schmidt Verlag erscheinenden Band IDT 2022: *mit.sprache.teil.haben, Band 5: Sprachenpolitik und Teilhabe, herausgegeben von Sandra Reitbrecht, Brigitte Sorger, Thomas Fritz und Hannes Schweiger. Darin referiert Hans-Jürgen Krumm in seinem Abschlussvortrag vom 20.08.2022 bei der Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer in Wien über Sprachengerechtigkeit. Der Vortrag ist auch online abrufbar.

Sprachengerechtigkeit

Vortragsmanuskript

[…]

Ich will diesen Vortrag nutzen daran zu erinnern, dass Sprachengerechtigkeit darauf zielt, allen Menschen die gleichen Sprachenrechte einzuräumen, sodass alle Menschen mit allen ihren Sprachen in dieser Welt ihren Platz finden, dass alle Sprachen gehört und gelesen werden können. Aus dieser Perspektive muss auch unser Tagungsthema, so treffend und aktuell es ist, an einer Stelle erweitert werden. Es fehlt ein Buchstabe – das N, das uns in eine ganz andere Welt führt, von „mit Sprache teilhaben“, der einen Sprache, zu „mit SprachEN teilhaben“, also in die Welt der vielen SprachEN und der Mehrsprachigkeit. Sprachen gibt es auf unserer Welt nur im Plural. Sprachengerechtigkeit ist das Gegenteil jeder Einsprachigkeitsideologie.
Auch für uns als Deutschlehrende ist es wichtig, nicht nur auf die eine Sprache Deutsch zu blicken, die wir lehren, vielmehr sollten wir all die Sprachen im Blick haben, die für unsere Lernenden außerdem wichtig […].
Ich habe das für heute in vier Punkten zusammengefasst:


1. Einsprachigkeit ist ein Erbe des Kolonialismus, des Rassismus und des Nationalismus der letzten drei Jahrhunderte. Der bis in die Gegenwart tradierte Sprachnationalismus, die monolinguale Arroganz, bewirkt Sprachenungerechtigkeit.

Vom Mittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren die großen europäischen Reiche wie zum Beispiel das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und das Habsburger Reich ebenso wie viele Länder auf anderen Kontinenten multiethnische und vielsprachige Reiche. Erst mit der Entstehung von Nationalstaaten in Europa entwickelte sich das Konzept „Ein Staat – eine Sprache“ als ideologisches Bindemittel des homogenen Nationalstaats, mit dem dessen Bürger*innen sich zugleich als überlegene Zugehörige von den anderen abgrenzen und auf diese herabsehen konnten. Insbesondere der europäische Kolonialismus hat Sprachen als Mittel der Herrschaft und der Unterdrückung weltweit instrumentalisiert. So heißt es, um nur ein Beispiel zu geben, in einem Erlass zur Kolonisierung Kameruns durch Deutschland im Jahr 1904:

Die Eingeborenen müssen die deutsche Sprache erlernen weiter und vornehmlich, weil nur durch ihre Verbreitung unter den Schwarzen diesen der Zugang zu den reichen Quellen europäischen Wissens geöffnet und damit ihre kulturelle Hebung, die wir uns bei der Gründung der Kolonien zur Aufgabe gestellt haben, erreicht werden kann. (Schreiber 1904, S. 119, zitiert nach Engelberg 2014, S. 328–329, Hervorh. durch Verf.)
Dieses nie eingehaltene koloniale Teilhabe-Versprechen durch Sprache, diesen für andere Sprachen und Kulturen blinden Sprachnationalismus gibt es bis heute, er verstärkt sich zurzeit sogar. Ich nenne beispielhaft: Spanisch in den USA, die uigurische und die mongolische Sprache in China, Kurdisch in der Türkei. Und in der Ukraine, bis zu dem Angriffskrieg Putins ein funktionierendes zweisprachiges Land, werden nun Russisch und Ukrainisch gegeneinander ausgespielt. Aber auch uns will man immer wieder weismachen, sprachliche Homogenisierung sei wichtig für den nationalen Zusammenhalt, Mehrsprachigkeit dagegen schade diesem Zusammenhalt, sofern sie nicht, in engen Grenzen, wirtschaftlich nützlich sei. Wenn ich den kolonialen Erlass von 1904 für das heutige Europa umformuliere, lautet er 2022:

Drittstaatsangehörige müssen die Landessprache lernen vornehmlich, weil nur durch ihre Verbreitung unter den Zugewanderten diesen der Zugang zu unserer Gesellschaft eröffnet und ihre kulturelle Hebung erreicht werden kann.
Auch im heutigen Europa herrschen Sprachnationalismus und koloniale Arroganz, dient Sprache eben oft nicht der Integration, sondern als Mittel der Segregation. Verschiedenen Sprachen und damit ihren Sprecher*innen werden unterschiedliche Rechte eingeräumt.: EU-Bürger*innen genießen Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union unabhängig von ihren Sprachfähigkeiten; die anerkannten Minderheiten, etwa die Sorben und Dänen in Deutschland und die anerkannten Minderheitengruppen in Österreich haben zumindest regionale Sprachenrechte; die eigene Sprache als Unterrichts- und Behördensprache gehört dazu. Für Drittstaatsangehörige, Migrant*innen und Geflüchtete hingegen ist die Beherrschung der jeweils nationalen Sprache des Aufnahmelandes die notwendige Eintrittskarte für ein Bleiberecht und für die Familienzusammenführung.

Nachgefragt bei Prof. Dr. Brigitte Sorger, Prof. Dr. Hannes Schweiger und Dr. Sandra Reitbrecht 23.11.2023
„Sprache kann ein wirksames Mittel zu mehr Selbstbestimmung sein, sie kann dazu dienen, mitzureden und mitzugestalten“
Anlässlich der XVII. Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer tauschten sich unter dem Motto *mit.sprache.teil.haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 100 Ländern über brandaktuelle Themen wie Diversität, Partizipation und Sprachenpolitik aus. mehr …

Die vielen Europäer*innen, die nach dem Ersten Weltkrieg als Wirtschaftsflüchtlinge in alle Welt auswanderten, die vielen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg vor Krieg und vor den Nazis flohen ebenso wie die Nazis, die nach dem Zweiten Weltkrieg in anderen Ländern Unterschlupf fanden, sie alle mussten keine Sprachprüfung ablegen. Die – natürlich notwendige – Beherrschung der Landessprache war das Ergebnis der Integration, nicht die Eintrittskarte. Erst seit zwanzig Jahren ist es umgekehrt, gilt die jeweilige Landessprache in Europa für Drittstaatsangehörige als Voraussetzung für einen legalen Aufenthalt. Seitdem wird sprachliche Verschiedenheit als Gefährdung nationaler Identität gesehen und sanktioniert. So warnt etwa der Integrationsbericht der österreichischen Bundesregierung 2019 mit einem bemerkenswerten Argument vor der menschenrechtlich gebotenen Familienzusammenführung:

Wenn Ehepartner mit anderen Sprachen in eine schon seit ihrer Geburt in Österreich lebende Familie kämen, so könne, heißt es hier, die mitgebrachte Sprache der Eltern oder Großeltern und des nachziehenden Ehepartners Deutsch in den Hintergrund drängen. (Expertenrat, 2019, S. 84)
Der Gebrauch einer anderen Familiensprache als Deutsch wird hier als Integrationsproblem interpretiert, die Möglichkeit von individueller und familiärer Mehrsprachigkeit kommt gar nicht in den Blick. Aber wir alle wissen, dass erfolgreiches Sprachenlernen nur durch Teilhabe funktioniert.

Sprachenpolitik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
Von Hans-Jürgen Krumm


Unsere Welt ist mehrsprachig. Wer entscheidet, welche Sprachen wann benutzt und gelernt werden dürfen oder müssen? Weshalb fördern Deutschland und Österreich das Deutschlernen in anderen Ländern und welche Deutschkompetenzen werden von Zugewanderten verlangt?
Die vorliegende Einführung in die Sprachenpolitik setzt sich mit diesen Fragen in Bezug auf die deutsche Sprache als Zweit- und Fremdsprache systematisch auseinander. Dabei werden die sprachenpolitischen Kontroversen ebenso wie die institutionellen Zuständigkeiten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit zahlreichen Beispielen und Belegen anschaulich dargestellt.
Das Werk führt in verständlicher Form in alle Aspekte der Sprachenpolitik ein. Komplexe Themen wie z.B. Menschen- und Sprachenrechte, das Verhältnis von Sprachen und Macht und der Umgang mit Mehrsprachigkeit werden unter Berücksichtigung sprachenpolitischer Entwicklungslinien des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache umfassend dargestellt.
Das Werk versteht sich als ein grundlegendes Studienbuch für das Studium des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache und für die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Da die einzelnen Kapitel in sich abgeschlossen sind, eignet es sich auch als Handbuch zum Nachschlagen aktueller sprachenpolitischer Debatten für alle im Feld Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Tätigen.


Einsprachigkeitsideologien sind ein starkes Indiz für die Missachtung sprachlicher Menschenrechte. Ich bin sicher, dass viele von Ihnen im eigenen Land Beispiele für ähnliche Sprachideologien und die Missachtung von Mehrsprachigkeit finden. Sprachlicher Assimilierungszwang oder Ausgrenzung – ein koloniales Erbe bis heute.

In einer zusammenwachsenden Welt, in der alle aufeinander angewiesen sind, haben koloniale Sprachhierarchien und exklusive nationale Sprachenpolitiken keinen Platz. Der Zusammenhalt in einem Gemeinwesen hängt nicht von sprachlicher Homogenität ab, sondern im Gegenteil davon, dass alle in ihren Sprachen akzeptiert werden. Es ist ein Kennzeichen des demokratischen Zusammenlebens, dass Verschiedenheit, auch sprachliche Verschiedenheit, respektiert und anerkannt wird. In der Verfassung Namibias zum Beispiel ist zwar Englisch als offizielle Landessprache festgelegt, zugleich heißt es dort aber:

Keine Bestimmung dieser Verfassung verbietet die Verwendung einer anderen Sprache als Unterrichtssprache […]. Die Verfassung steht keiner Gesetzgebung entgegen, die den Gebrauch einer anderen Sprache als Englisch für Zwecke der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung in Regionen oder Gebieten gestattet, in denen diese andere Sprache oder Sprachen von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung gesprochen werden […]. (Republic of Namibia, 1998)
Zehn und mehr Unterrichtssprachen sind in Ländern der Südhemisphäre keine Seltenheit. Solche sprachoffenen Gesellschaften sind die Voraussetzung für Sprachengerechtigkeit. Wir sollten an unsere Regierungen appellieren, das koloniale Erbe der Einsprachigkeit endlich abzuschaffen, die Sprachen freizugeben zu Gebrauch und Lernen. In Schule und Universität sollten wir mit der Sprachoffenheit anfangen und uns kritisch mit den nationalen Sprachideologien auseinandersetzen.

Wenn Sie auch die restlichen Punkte erfahren möchten, lesen Sie den vollständigen Beitrag in dem neu erschienenen IDT-Band 5, herausgegeben von Sandra Reitbrecht, Brigitte Sorger, Thomas Fritz und Hannes Schweiger. Alle IDT-Bände können Sie auch als Gesamtpaket erwerben.

IDT 2022: *mit.sprache.teil.haben Bände 1–5 als Gesamtpaket
Herausgegeben von Sandra Reitbrecht, Brigitte Sorger und Hannes Schweiger


Die IDT 2022 in Wien war mit rund 2 750 Teilnehmer*innen aus 110 Ländern die weltweit größte Tagung für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Die fünf Tagungsbände dokumentieren die Ergebnisse der Tagung in ihrer fachlichen Breite und Diskussion, die im Sinne des Tagungsmottos *mit.sprache.teil.haben auch durch eine breite Beteiligung von Vertreter*innen des Faches in Wissenschaft, Forschung und Unterrichtspraxis aus unterschiedlichsten Ländern und Arbeitskontexten erreicht wird. Jeder Band repräsentiert dabei einen thematischen Strang des Fachprogramms. Alle Tagungsbände finden Sie hier gesammelt.

Es werden folgende Themenkomplexe behandelt:
Band 1: Mit Sprache handeln. Partizipativ Deutsch lernen und lehren,
Band 2: Kulturreflexiv, ästhetisch, diskursiv. Sprachenlernen und die Vielfalt von Teilhabe,
Band 3: Sprachliche Teilhabe fördern. Innovative Ansätze und Technologien in Sprachunterricht und Hochschulbildung,
Band 4: Beiträge zur Methodik und Didaktik Deutsch als Fremd*Zweitsprache,
Band 5: Sprachenpolitik und Teilhabe.




Programmbereich: Deutsch als Fremdsprache