
„Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg“
Wer an die DDR denkt, denkt vielleicht in erster Linie an Diktatur und Ideologie. Christa Wolf thematisiert in ihrer Erzählung „Was bleibt“ aber nicht nur die ideologische Ausprägung der ehemaligen DDR, sondern illustriert auch deutlich ihre eigene Zerrissenheit mit dem vorherrschenden System. Neben der Angst, die sie beherrschte, gehören zu Wolfs Beschreibung der DDR auch Momente der Resilienz und des Widerstandes.
Lesen Sie nachfolgend einen Ausschnitt aus dem Beitrag von Sven Kramer.
Christa Wolf | Was bleibt | 1979/1990
In diesem Jahr bürgerte die DDR den Liedermacher Wolf Biermann aus. Biermann verstand sich als Kommunist; er war 1953 als Sechzehnjähriger von Hamburg in die DDR übergesiedelt, um dort den Sozialismus mit aufzubauen. In der Folge kritisierte er die DDR-Führung von links, trat für einen anderen Sozialismus ein und erhielt postwendend Publikations- und Auftrittsverbot. Seine Ausbürgerung war ein Wendepunkt im Verhältnis vieler Kulturschaffender und Intellektueller der DDR zu ihrer Staatsführung. Unmittelbar danach formulierten einige von ihnen, unter ihnen Wolf, einen offenen Brief, in dem sie ein Überdenken der Entscheidung forderten. Die Staatsmacht antwortete mit Repressionen. Daraufhin verließen zahlreiche bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller die DDR.
Christa Wolf ging nicht; damit blieb sie den Überwachungs- und Einschüchterungsmaßnahmen des Staates ausgesetzt. 1979 thematisierte sie diese Verhältnisse in Was bleibt: In der Form einer Ich-Erzählung schildert eine Schriftstellerin rückblickend den Verlauf eines Tages aus ihrem Leben. Sie hält sich in ihrer Berliner Wohnung auf, während sie von »junge[n] Männer[n] in Zivil« observiert wird. Es sind Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), dessen Name aber im gesamten Text ungenannt bleibt. Die Auseinandersetzung der Erzählerin mit den Observierenden nimmt einen großen Teil der Erzählung ein. Im weiteren Verlauf führt die Observierte Telefonate mit einem Freund sowie mit ihren Töchtern, besucht ihren Mann im Krankenhaus, empfängt eine junge Autorin und liest abends in einem nahegelegenen Kulturhaus aus ihren Werken. In gelegentlichen Rückwendungen erinnert sie sich an vorangegangene Begebenheiten. Insgesamt hält sich das Erzählen jedoch an die Chronologie der Ereignisse. Zugleich nehmen die Leserinnen und Leser über die gesamte Erzählung hinweg an den Reflexionen der Protagonistin teil.
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All das mag wenig spektakulär klingen, damals enthielt die Handlung aber Sprengkraft. Da Wolf sie in das Berlin der DDR verlegte, liegt es auf der Hand, warum sie den Text 1979 nicht veröffentlichte: Es wäre ein Frontalangriff auf die DDR-Führung gewesen und hätte die künstlerische Existenz der Autorin in dem Land beendet. Sie entschied sich für das Bleiben, setzte sich weiter mit den Zensurstellen auseinander und ertrug die vom MfS nun intensivierte Observation. Die Erzählung legte sie in die Schublade.
Trotz aller Widrigkeiten gab Christa Wolf die Identifikation mit dem Versuch, auf deutschem Boden den Sozialismus zu verwirklichen, bis 1989 nicht auf. Noch in ihrer Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, als bereits Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern das Land über die Prager Botschaft in Richtung Westen verlassen hatten, fasste sie dies in die Worte: »Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!«
Der Beitrag zu Christa Wolfs Erzählung ist Teil des Bandes „Deutschsprachige Erzählliteratur seit 1989“, herausgegeben von Prof. Dr. Sven Kramer. Neugierig geworden? Sie können das Buch hier erwerben.
Über den Autor |
Sven Kramer ist seit 2005 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literarische Kulturen an der Leuphana Universität Lüneburg. Zu seinen Forschungsgebieten gehört die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. |
Programmbereich: Germanistik und Komparatistik